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1. Das Schiff

Ein gelber Taxameter löste sich aus dem Wagengeschiebe vor dem Pennsylvaniabahnhof und schoß mit vorschriftswidriger Geschwindigkeit der großen Verbindungsstraße zu.

»East River Dock – achtundzwanzig – zehn Minuten!« kam es gedämpft aus dem Sprachrohr an das Ohr des Wagenführers.

»Jawohl.« Der Chauffeur stoppte mit einem Ruck. Unmittelbar vor ihm rasselte ein schwerer Lastwagen über die Straße.

Sieben Minuten später bog das Auto in die Einfahrt zu den Anlegeplätzen und rumpelte über die Bohlenstraße. Stauer versperrten den Weg. Hinter ihnen häuften sich Packkisten, aufgeschossenes Tauwerk, Hölzer und allerlei Materialien zu Bergen. Ganz unten, am Ende des Quais, war ein kleines Schiff vertäut.

Der Wagen wand sich holpernd und ratternd zwischen den Hindernissen hindurch und hielt an der Laufbrücke des Schiffs. »Das ist der ›Erik‹, was?« rief der Führer.

Statt jeder Antwort sprang die Wagentür auf. Ein dickes, rundes Bündel, das ein Schlafsack sein mochte, rollte heraus. Wie Fußbälle kollerten Taschen und Gepäckstücke nach. Schließlich kam ein untersetzter rothaariger Mensch zum Vorschein, ohne Hut, sichtlich erregt.

»Wieviel?« fragte er.

»Fünf Knochen.«

Der junge Mann reckte sich empor. Hast und Erregung waren verschwunden. Das Blut schoß ihm in die Wangen. Seine kräftigen Hände, deren Finger nervös gespielt hatten, ballten sich zu Fäusten von der Größe riesiger irischer Kartoffeln.

»Ausgeschlossen!« sagte er langsam.

Der Chauffeur sperrte den Mund auf, brachte aber kein Wort hervor. Der zornige Mensch vor ihm war fast noch ein Knabe. Und doch sprachen Mut und Entschlossenheit eines Mannes aus den zusammengekniffenen Augen, dem vorgereckten Kinn, dem hart geschlossenen Mund. Eine der Fäuste öffnete sich und griff in die Rocktasche.

»Hier: ein Dollar; und besten Dank fürs schnelle Fahren,« sagte der junge Mann ruhig. Der Bluff gelang vollständig.

In diesem Augenblick scholl von der Schiffsreling eine Art dröhnender Husten herunter. Hier lehnte die massige Gestalt eines Mannes mit weißem Backenbart, der heiseren Tons rief: »Na also, Sie haben's geschafft.«

»Gott sei Dank, Kapitän Pike! Der Chikago-Expreß hatte Verspätung, und ich dachte schon, ich würde zu spät kommen.«

»Sie gehören nicht zu der Sorte, die zu spät kommt, mein Junge.«

Und wieder ließ der Kapitän jenen dröhnenden Husten hören, das Lachen eines Mannes, der sich einige vierzig Jahre mit den Stürmen und Nebeln des Nordatlantik herumgeschlagen hat.

Kapitän Pike hatte recht. Ruddock Winters – seine Freunde nannten ihn gewöhnlich »Rudd« – gehörte zu der Art Menschen, die keine Möglichkeit übersehen und jede Chance auszunützen gewohnt sind. Er war in Chikago zu Hause; aber trotz seiner Jugend hatte er es schon verstanden, sich eifrig zwischen Neuyork und San Franzisko umzutun.

Das verdankte er in erster Linie seinem Onkel Jim Culver, einem freigebigen, lebenslustigen alten Herrn, der an dem jungen Draufgänger seine Freude hatte und alles für ihn tat, was er konnte.

Die Regierung hatte zur Erforschung der nordwestlichen Durchfahrt, des Wasserweges um die Nordküste von Nordamerika, eine Expedition organisiert. Es war zwanzig Jahre her, daß der Norweger Roald Amundsen, der berühmte Entdecker des Südpols, sein kleines Fahrzeug, die »Goja«, durch die Passage gezwungen hatte. Seit damals hatten die Vereinigten Staaten eine mächtige Handelsmarine aufgebaut, deren Schiffe die Häfen der atlantischen und der pazifischen Küste miteinander verbanden. Der Panamakanal war zwar kürzer als die alte Route um Kap Horn. Aber da der Kanal andauernd stark überlastet war, und da sowohl Seattle wie die rasch aufblühenden Städte in Alaska immer enormere Frachtmengen verlangten, mußte die Erschließung des näheren Weges um das Nordende des Kontinents eine Ersparnis von vielen Millionen bedeuten.

Rudd hatte durch die Zeitungen von der Expedition Kenntnis bekommen. Der Gedanke, daß es nach neuem Land und fast unbekannten Meeren ging, erregte in ihm den glühenden Wunsch, an der Forschungsreise teilzunehmen.

Deshalb hatte Onkel Jim ihn denn zu seinem alten Freunde geschickt, dem Kapitän des für die Expedition gecharterten ›Erik‹. Kapitän Pike, der den Wert eines Reisegenossen von Rudds Typ wohl kannte, hatte ihn seinerseits wieder Dr. Barlow, dem wissenschaftlichen Leiter, empfohlen. Das Resultat war ein Telegramm des Doktors, das Rudd vor genau achtundvierzig Stunden erhalten hatte: »Wollen Sie Assistentenstelle bei mir annehmen? ›Erik‹ ausfährt Freitag, zwanzigsten Juni. Drahtantwort.«

Eine Stunde später hatte Rudd seine Siebensachen in ein paar Taschen verstaut, und jetzt war er da, unvorbereitet und doch zu allem bereit.

Während ein Matrose das Gepäck an Bord brachte, besah Rudd sich das Fahrzeug, das ihn diesen Sommer über beherbergen sollte. Es war ein stämmiges, hochbugiges Schiff mit einem Schornstein und zwei Masten, deren Takelung für ein Schiff dieser Größe ungewöhnlich schwer war; über den beiden Querbäumen war je ein Faß angetäut.

»Was stellen denn die Fässer vor?« fragte Rudd den Matrosen.

Der Mann setzte den kleinen Koffer, den er gerade auf die Schulter heben wollte, wieder ab und sah sich Rudd von oben bis unten an.

»Denn waren Sie woll noch nicht im Norden oben, Herr?«

»Einmal in Halifax.«

Der Seemann schüttelte den Kopf. »Da ist kein Eis, Herr. Die Fässer sind für'n Auslug, im Treibeis.« Er machte eine unbestimmte Handbewegung. »Allerhand Eisfelder, und Eisberge, so groß wie –«, er zögerte, »na, so groß wie die Dinger da.« Dabei zeigte er auf die großen Geschäftshäuser Neuyorks.

»Verdammt nochmal!«

»Jawoll, Herr! Und so'n lüttjer Kahn kommt da man nur durch, wenn er'n Auslug im Korb hat, für'n Mann am Ruder, daß der Bescheid weiß. Und denn passiert's auch, daß ...« Er kratzte sich hinterm Ohr und verstummte.

»Was passiert?« fragte Rudd, nachdem er einen Augenblick gewartet hatte, ob der Mann wieder beginnen würde.

Der Matrose machte einen Schritt vorwärts und näherte seinen Mund Rudds Ohr. »Daß dat Schipp zermalmt wird!«

Ein sonderbares, unbekanntes Gefühl überkam den Neuling. Es war nicht Furcht, vielmehr ein momentanes Begreifen der Gefahren, welche diese Reise mit sich bringen mußte. Er blickte auf den stumpfen Bug des ›Erik‹, seine schweren, festgefügten Bordwände, seine mächtigen Masten. Ja, das war ein Stier, ein Kämpfer, ohne Zweifel ...

»Und doch –«, murmelte Rudd. Er erinnerte sich schrecklicher Katastrophen in der Arktis, von denen er gelesen hatte: der Engländer Sir John Franklin – seine Schiffe zerschmettert von riesigen Eisbergen – die Mannschaften verschollen, in Kälte und Eis elend umgekommen.

»Und manchmal passiert es, daß ein Schiff zermalmt wird!«


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