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2. Nach Norden

Dr. Barlow kam auf Deck, ehe Rudd hinuntersteigen konnte. Er war ein großer, dürrer Mann mit einer riesigen Nase; seine Haut sah wie runzliges Leder aus.

»Hallo, Rudd,« begrüßte er den jungen Mann. »Sieht alles noch ganz durcheinander aus, nicht wahr? Aber wir werden noch heute nachmittag losmachen.«

Er wies mit der Hand auf das Deck, das unter einer Unmenge von Vorräten und Ausrüstungsgegenständen begraben war.

»Zehntausend Pfund Proviant,« lachte der Doktor. »Es ist möglich, daß wir steckenbleiben und im Coronation Golf überwintern müssen. Und dann die vielen Instrumente, die bedeutend schwerer sind, als sie aussehen. Bei der Gelegenheit: ich weiß noch gar nicht, ob Sie so ungefähr im Vermessen Bescheid wissen. Wie steht's damit?«

»Ich habe sechs Monate einen Vermessungskursus mitgemacht. Aber mit dem Zeichnen hapert's etwas.«

»Ach, das wird alles in Washington gemacht.« Dr. Barlow kam etwas näher und sprach leiser. »Sehen Sie, unsere eigentliche Aufgabe ist es, Erfahrungen zu sammeln. Unsere Zahlen sollen nur die Grundlage für die Spezialistenarbeit nach unserer Rückkehr sein. Und weil die Territorien, die wir passieren müssen, zum kanadischen Hoheitsgebiet gehören, sind wir übereingekommen, über Entdeckungen von kommerziellem Wert, die wir eventuell machen werden, den Mund zu halten.«

»Sie meinen, wir könnten auf Gold oder –«

»Sehen Sie das Holz dort,« unterbrach Dr. Barlow brüsk, »aus dem werden wir Schlitten machen, falls wir überwintern müssen.«

Rudd verstand diesen plötzlichen Wechsel vom Thema und Ton nicht, bis er sich umblickte und inne wurde, daß ein Dritter zu ihnen getreten war.

»Ah,« sagte Dr. Barlow, als bemerkte er ihn erst jetzt, »da kann ich Sie ja gleich mit Mr. Menon, unserem ersten Offizier, bekannt machen, Rudd.«

Nie zuvor hatte Rudd ein Gesicht wie dieses gesehen. Der Offizier, der das graublaue Tuch des Downest-Seemanns trug, war mittelgroß, weder besonders schmal, noch besonders breit, eine Erscheinung, der man keinen zweiten Blick gibt, wenn man das Gesicht nicht beachtet hat. Es war eine finstere, häßliche, widerwärtige Physiognomie mit grobem Kinn und gemeiner Nase, die kleinen schwarzen Augen lagen halb verborgen unter großen, buschigen Brauen. Ein schmaler Schnurrbart, der wie Roßhaar aussah, saß über einem harten, breit eingeschnittenen Mund und fiel auf beiden Seiten lang über das Kinn.

»Freut mich ungemein, Mr. Winters,« sagte er, sich verbeugend, mit einer Höflichkeit, die Rudd sofort verdächtig war.

Als er gegangen war, sprach Dr. Barlow mit leiser Stimme weiter.

»Fragen Sie mich nicht, warum wir einen solchen Menschen an Bord haben, ich könnte Ihnen keine befriedigende Antwort geben. Als wir mit dem ›Erik‹ hier eingelaufen waren, telegraphierten Dinger Brothers, die Firma, von der wir das Schiff gechartert haben, daß der bisherige erste Offizier durch Menon ersetzt würde. Als ich den Mann gesehen hatte, verwahrte ich mich auf das entschiedenste dagegen. Aber Dinger Brothers bestanden darauf, und da es zu spät war, sich nach einem anderen Schiff umzusehen, mußte ich wohl oder übel ja sagen. Unter uns: dieser Bursche wird uns noch allerhand zu schaffen machen. Das Schlimmste ist, daß er bei der Mannschaft beliebt zu sein scheint.«

Kapitän Pike kam herauf und kündigte an, daß nachmittags alles klar zum Ausfahren sein würde, wurde aber sogleich wieder abgerufen. Beim Verladen waren die Taue des Krans gerissen. Alles schrie durcheinander.

»Immer mit der Ruhe!« sagte Kapitän Pike lächelnd und schüttelte Rudd kräftig die Hand, ehe er nach unten ging.

»Das ist der richtige Mann für so eine Reise,« sagte der Doktor. »Immer guter Laune, durch nichts aus der Fassung zu bringen, und von einer Stärke, daß seine Leute einen mordsmäßigen Bammel vor ihm haben.«

Gerade als die Fabriksirenen der Stadt Feierabend pfiffen, wurden alle Leinen gekappt, der ›Erik‹ fuhr mit eigener Kraft aus, in der Richtung auf Hell Gate.

Es war ein großer Augenblick für Rudd. Wann würde er die Heimat wiedersehen? Wie würde er die Anstrengungen und Gefahren dieser Fahrt überstehen? Wo würde er nach monatelangem Hausen auf einem kleinen Schiff den Luxus und Komfort zivilisierter Länder Wiedersehen?

Aber sofort wurden diese Gedanken von der Freude verdrängt, unterwegs zu sein – unterwegs nach fernen Ländern und zu fremden Völkern. Mit einem tiefen Atemzug sog er die Salzluft ein und drehte sich um, jemand zu suchen, dem er sich in seinem Überschwang mitteilen könnte.

Er sah in das unangenehme Gesicht des ersten Offiziers, der ihn spöttisch betrachtete.

»Große Sache, wenn man endlich schwimmt, was?«

Rudd hatte keine Lust, sich mit dem Mann zu unterhalten.

Er nickte kühl.

»Und noch dazu auf diesem Schiff?« setzte der andere fast höhnisch hinzu. »Fabelhaftes Glück für einen jungen Mann in Ihrem Alter.« Er lachte laut auf und entfernte sich.

»Was in drei Teufels Namen meint der Affe?« dachte Rudd.

Das Schiff lief Boston an, um Professor Deal und den jungen Caverly an Bord zu nehmen. Der Professor kam im Auftrage des University-Museums mit; der junge Caverly war lediglich Passagier. Der Inhaber des angesehenen Importhauses Caverly & Company hatte der Expedition erhebliche Geldmittel zur Verfügung gestellt und gleichzeitig den Wunsch geäußert, sein Sohn solle als Mitglied ohne spezielle Aufgabe an der Fahrt teilnehmen. Auf diese Weise sollte dem jungen Mann die Möglichkeit gegeben werden, für seinen Vater wertvolle Informationen über die Pelzverhältnisse in den Gebieten nördlich der Hudsonbai zu sammeln.

In der Kajütmesse waren nun beim Essen versammelt: Kapitän Pike, Dr. Barlow, Rudd, Mr. Menon, Professor Deal und Reginald Caverly. Der zweite Offizier, ein junger Kanadier namens Normann, und der alte schottische Chefingenieur aßen zu so verschiedenen Zeiten, daß Rudd sie in den ersten Tagen fast gar nicht zu Gesicht bekam.

In den letzten Junitagen wurden in Sydney, Neuschottland, Kohlen eingenommen, und am Morgen des zweiten Juli war der ›Erik‹ schon in voller Fahrt durch den St. Lorenzgolf.

Rudd war vor dem Frühstück an Deck gekommen, um Ausschau zu halten. Noch hatte er niemand gefunden, dem er sich in seiner freudigen Erregung über den Abschied von aller Zivilisation hätte mitteilen können. Die Schiffsoffiziere hatten mit dem Verstauen der Ladung zu tun gehabt, und die beiden Gelehrten waren vollauf mit ihren Plänen beschäftigt gewesen. So war Rudd fast ganz auf sich selbst angewiesen. Der junge Reginald Caverly war freilich so ziemlich sein Altersgenosse; aber dieser unglückliche junge Mann war seit Beginn der Fahrt ununterbrochen schwer seekrank.

Schwerer, zäher Nebel hüllte das Schiff ein. In regelmäßigen Intervallen gab die Sirene lange Warnungssignale für Schiffe, die in der Nähe sein mochten. Die Taue trieften von Nässe, der schwarze Rauch rollte über das Deck und überzog das Hinterschiff mit einer Rußdecke.

Auf der Brücke waren nur der Mann am Rad und ein Offizier zu sehen, die nahe beieinander standen und mit unterdrückter Stimme etwas zu besprechen schienen. Rudds Kommen blieb unbemerkt, da gerade in diesem Augenblick die Sirene aufheulte.

»Es wird sich hier unten nicht machen lassen,« hörte er den Offizier sagen. Es war Menons Stimme.

»Aber wenn wir ihn erst im Norden haben, ist es dann nicht zu gefährlich?«

»Für uns mit unserer Schlittenpraxis nicht. Und dann gibt's Eskimos auf Pons Inlet, die sich im Winter um uns kümmern würden.«

Der Steuermann schüttelte den Kopf. »Was ich bin, ich riskier nicht gerne was. Aber für den Preis, den Sie geboten haben, können Sie ja auch allerhand verlangen.«

»Na also! Das Handgeld habt Ihr in Sydney eingesteckt. Wie steht's mit den übrigen?«

»Bei uns, von den siebzehn Backgasten, können Sie mit sechsen rechnen. Kann sein, daß es noch mehr werden, wenn Johnson und ich sie erst mal vornehmen können. Achtern wissen Sie ja besser Bescheid.«

Menon zuckte die Achseln. »Über die brauchen wir uns nicht den Kopf zu zerbrechen. Aber was ...«

.

Jetzt bemerkte er Rudd und stieß den Steuermann mit dem Ellbogen an.

»Guten Morgen, Mr. Winters,« grüßte er scheinbar unbefangen. »Wir haben gerade über eine kleine Unterhaltung gesprochen, die wir an Bord aufziehen wollen, wenn das Schiff im Norden ist – ne Art Seemannskonzert, wenn ich so sagen darf.«

Mit einem raschen Seitenblick stellte Rudd fest, daß der Offizier den Mann bedeutsam auf den Fuß trat, und ging bis ans Ende der Brücke, ohne auf dieses Manöver zu reagieren. Dann wurde ihm klar, daß es gefährlich wäre, Menon seinen Verdacht ahnen zu lassen. Er machte also kehrt und sagte verbindlich: »Ausgezeichnete Idee, Mr. Menon. Wenns Wetter so ist wie jetzt, können wir eine Abwechslung ganz gut brauchen.«

Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Aber scheinbar unbefangen ging er zurück und stieg nach unten. Am liebsten hätte er sofort mit Dr. Barlow gesprochen und ihm erzählt, was er gehört hatte. Aber immer kam etwas dazwischen. Am späten Nachmittag, nachdem man die Belle-Isle-Engen passiert hatte, frischte der Wind auf, und jede ungestörte Unterredung wurde erst recht unmöglich.

Gegen Abend setzte Sturm ein, und jetzt hieß es für alle Mann zuzugreifen. Rudd stand an Deck, und während das Wasser über seinen Ölmantel hinwegschüttete, vergaß er allen Argwohn und alles kleinliche Menschengetriebe. Er brüllte in den Sturm hinein. Er lachte über jede Sturzsee. Rudd schloß in dieser Stunde Freundschaft mit dem Meere.


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