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15. Das Wrack

Am nächsten Tage weigerten die Eskimos sich, sofort den Marsch anzutreten. Es war der Hunde wegen; die Tiere hatten so viel Fleisch gefressen, daß mit ihnen nichts anzufangen war. Rudd und Dr. Barlow waren dankbar für diesen Aufschub, weil er ihnen Zeit ließ, ihre Sachen für die Reise in Ordnung zu bringen.

Wie gewöhnlich brach man am Abend auf, als die Sonne tief stand und der Boden hart war. Die Hunde waren jetzt eifrig und reckten vor Freude über ihre vollen Mägen die Schwänze in die Luft.

Zweimal wurde während des Marsches geschlafen. Die Eskimos schienen keine Eile zu haben, und es wollte den Weißen nicht gelingen, ihnen klar zu machen, daß die Barkasse schwer beschädigt werden konnte, wenn man sie zu lange treiben ließ. Infolgedessen war weder Rudd noch Dr. Barlow überrascht, daß das Boot nicht an dem Ort zu finden war, wo die Jäger es erst ein paar Tage vorher gesehen hatten.

Ein Ruf kam von einem der Eingeborenen, der weiter unten am Strand war, herauf. Er winkte mit den Armen und zeigte auf einen Punkt, wo die Klippen sich senkrecht aus dem Meer zu einer Höhe von ungefähr dreißig Fuß erhoben.

»Ich kann ihn sehen!« rief Rudd plötzlich und rannte auf das Boot los.

Der ›Polarstern‹ lag fast auf der Seite, den Vordersteven zwischen zwei versunkenen Felsblöcken eingeklemmt, und war zur Hälfte von der Flut überschwemmt. Sein kleiner Mast war bei dem Anprall auf die Felsen zerbrochen. Da man nicht zum Boot selbst gelangen konnte, war schwer festzustellen, was für Beschädigungen der Rumpf davongetragen hatte.

Der Doktor beobachtete aufmerksam die Strandlinie. »Das Wasser fällt jetzt,« meinte er schließlich, »und, soviel nach dem bißchen Blattang dort zu erkennen ist, glaube ich, werden wir schon in einer Stunde oder so zum Boot waten können.«

Ein Lager wurde aufgeschlagen, aber so, daß man das Wrack im Auge behalten konnte. Für den Fall, daß Wind sich aufmachte, würde eventuell eine schleunige Durchsuchung nötig werden. Auch waren die Jäger sehr erregt, weil sie ein halbes Dutzend Robben in der Nähe des Landes erkundet hatten. Das Fleisch war ihnen unendlich viel wichtiger als die Sorgen der weißen Männer, und ein Depot an dieser Stelle würde ein Glied mehr in ihrer Proviantkette für den Winter bedeuten. Im ganzen Norden kann man die Küste entlang eine Reihe von Steinpyramiden finden, die einmal die Fleischvorräte der Eingeborenen zugedeckt haben. Manchmal bleibt so ein Depot zwei bis drei Jahre unangetastet. Aber früher oder später kommt ein Jäger mit seinem mageren, verhungerten Gespann in der Finsternis hin. Mit einem Instinkt, der ihm aus generationenalter Erfahrung schon angeboren ist, findet er seine unmarkierten Vorräte wieder, gräbt die alten Delikatessen aus und hält ein Mahl ab, von dem ein Weißer sich in seinen kühnsten Träumen keinen Begriff machen kann.

Zwei Stunden später war das Meer so weit zurückgegangen, daß man nur noch einige Schritte zum ›Polarstern‹ zu waten hatte. Aus einem Schlitten wurde eine Brücke gemacht, so daß alle an Bord gehen konnten.

Dr. Barlow war der erste. Als er in der Bark war, drehte er sich zu Rudd um und sagte: »Sehen Sie her. Wir dürfen nichts anrühren.« Den Eskimos bedeutete er durch Zeichen dasselbe.

Zu ihrem Erstaunen hatte das Aussehen der Barkasse sich vollständig verändert. Nur das Deck und die Ausrüstung waren so wie früher, im übrigen war sie kaum noch als das schmucke Boot zu erkennen, mit dem sie vor noch gar nicht langer Zeit so hoffnungsfreudig vom ›Erik‹ abgefahren waren.

»Was, da müssen ja ein halbes Dutzend Menschen an Bord gelebt haben!« rief Rudd aus. Verwundert bemerkte er die Zigarettenstummel, die Stückchen verdorbenen Fleisches, die Papierfetzen, Stoffrestchen, Seife und allen anderen Unrat, der auf dem früher so sauberen Deck und in der Kajüte herumlag. »Das sieht ja so aus, als ob er als Gefängnis benützt worden wäre, nicht?«

Sorgfältig wurde nach etwaigen Spuren von Caverlys Unfall gesucht. Aber selbst wenn Blutflecken da gewesen waren, so hatten der Schmutz und das Fett, die buchstäblich alle Winkel verschmierten, sie alle unter sich begraben.

Rudd schraubte den Verschluß des Petroleumtanks auf und stieß mit einem Peitschenstock hinein. »Leer!« rief er. »Sieht immer mehr danach aus, daß es ein Gefängnis war!«

Der Doktor hatte mittlerweile seine Spekulationen über die Vergangenheit aufgegeben und beschäftigte sich mit dem wichtigeren Problem, wie das Boot wieder in einen brauchbaren Zustand versetzt werden könnte.

Die Ebbe hatte ihren tiefsten Stand erreicht, und jetzt lag der halbe Kiel frei. Außer einem kleinen Leck, das Rudd rasch repariert hatte, schien nichts dagegen zu sprechen, daß man das Fahrzeug wieder flott bekommen könnte. Der eine Felsblock mußte weggewälzt und das Heck herumgedreht werden, wenn das Steigen der Flut ganz ausgenützt werden sollte. Anker und Talje waren zum Glück intakt. Beide wurden weggeschafft, um den Bug zu leichtern.

»Jetzt können wir nichts tun als warten,« sagte der Doktor ermüdet. »Dann werden wir den Mast irgendwie wieder in Ordnung bringen können und eine Decke als Segel benützen, bis wir genug Robbenhäute beisammen haben, um ein Segel draus zu machen.«

Einer der Eingeborenen mußte Wachdienst machen, um alle herauszurufen, sobald das Wasser hoch genug zum Flottmachen der Barkasse gestiegen sei. Es wurde ihm auch eingeschärft, sorgfältig auf treibende Schollen zu achten, damit das Boot nicht unmittelbar vor seiner Bergung noch Schaden litte.

Kaum waren die Leute zu ihrem wohlverdienten Schlaf gekommen, als ein gellender Schrei alle auffahren ließ. Rudd sprang auf die Füße und war auf alles gefaßt: vom Wiederauftauchen des ›Erik‹ bis zu einem Rudel toller Wölfe. Was er aber erblickte, war noch viel unerwarteter als eine dieser beiden Grenzvermutungen: Der Wachtposten raste wild den Strand hinauf. Während des Laufens blickte er entsetzt hinter sich. Sein braunes Gesicht war aschfahl geworden. Kleine Kiesel ratterten unter seinen galoppierenden Füßen zurück. Die Arme hatte er hochgeschleudert. Und mit jedem Atemzug stieß er einen Schrei aus, der von den Hügeln widerhallte.

Zunächst sah es so aus, als hätte dieses seltsame Benehmen überhaupt keine Ursache. Der Strand war leer. Kein Ton, außer dem Angstgebrüll des Eskimos. Dann, ganz langsam, taumelte ein Mann in den Gesichtskreis der Staunenden. Völlig verschmutzt, mit wirrem Haar in der Stirn. Vor Schwäche konnte er kaum gehen. Die Kleider in Fetzen, die Hände ungeschützt der rauhen Luft ausgesetzt. Das Gesicht nahezu schwarz, unter einem Auge eine große Beule, die gelb durch den Schmutz schimmerte.

»Das ist Reggie,« schrie Rudd auf und sprang vor. In der nächsten Sekunde sah er, daß er sich geirrt hatte. Der bejammernswert mitgenommene Mensch, dem er ins Gesicht starrte, war Normann, der junge zweite Offizier des ›Erik‹.


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