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14. Es wird noch rätselhafter

Alle drei konnten sich nur eine Erklärung für die Erregung des Doktors denken: er hatte den ›Erik‹ gesehen; nicht einmal die Rückkehr des ›Polarstern‹ hätte ihn in einen Zustand solchen Wahnsinns versetzen können, wie er ihn bei seinem rasenden Lauf hügelabwärts an den Tag legte. Schließlich stolperte er noch und rollte die letzten Schneewellen über dem Lager wie ein verwundeter Bisamochse herunter.

»Ein Haufen Eskimos auf der anderen Seite vom Hügel!« schrie er.

»Sie rufen ›Umiäksuäk!‹, und das heißt, wenn ich mich recht erinnere, ›Großes Schiff‹. Und dabei zeigen sie auf die andere Seite der Halbinsel. Da sie aus der Richtung kommen, müssen sie gerade den ›Erik‹ gesehen haben.«

»Ein paar von unseren Leuten bei ihnen?« fragte Pike.

»Nein, ich konnte wenigstens keine sehen. Nur fünf Schlitten, jeder von einem Eingeborenen geführt. Sie müssen hier in der Nähe ein Dorf haben, denn sie haben ihre Weiber nicht bei sich.«

»Da sind sie jetzt!« rief Boggs.

Im Galopp kamen fünf Hundegespanne über den Hügel. Alle trugen die Schnauze hoch – ein Zeichen, daß sie gut genährt und munter waren.

Auf jedem Schlitten kniete ein in Felle gekleideter Führer. Peitschen knallten, als würden Kanonen abgefeuert.

Sobald der erste Tumult der Freude sich etwas beruhigt hatte, suchten beide schnell zu erfahren, was die Eskimos eigentlich vom ›Erik‹ wüßten.

»Umiäksuäk! Umiäksuäk!« Das war alles, was sie aus ihren Gästen herausbringen konnten.

Boggs ging auf den Fettesten los und hielt ihm die Faust unter die platte Nase. »Red vernünftig, du Tranklumpen!« schnauzte er ihn an, so laut, daß man es auf der anderen Seite der Halbinsel hätte hören können, und wiederholte diese freundlichen Worte dann im besten Eskimo, über das er verfügte.

Die Fröhlichkeit des Eingeborenen verdoppelte sich, wohl der Aussprache Boggs wegen. Dann führte er ihn zu einem Schneefleck und fing mit seinem Peitschenstiel darauf zu zeichnen an.

»Das ist die Küste auf der anderen Seite,« erklärte Rudd.

Er hatte recht. Der Eingeborene bezeichnete den ›Erik‹-Hafen mit einer Gruppe von Vierecken, welche die Vorräte darstellen sollten. In einiger Entfernung davon zeichnete er plump die Umrisse eines Bootes auf. »Umiäk!« sagte er kehlig.

»Er muß den ›Polarstern‹ meinen,« warf der Doktor ein. »Fragen Sie ihn doch, ob er gescheitert ist, Pike, und ob er jemand an Bord hat?«

Aber der Kapitän konnte nicht mehr in Erfahrung bringen, als daß die Barkasse im flachen Wasser treibe, und daß, soviel die Eskimos wüßten, niemand an Bord sei.

Der Doktor war damit nicht zufrieden. »Aber sie hatten doch gesagt, sie hätten das große Schiff gesehen.«

»Haben sie auch, Sir,« sagte Boggs aufgeregt. »Sehen Sie mal den Plan, den der Bursche gezeichnet hat.«

Eifrig beugten sie sich über die rohe Karte. Gerade gegenüber dem Platz, wo der ›Polarstern‹ aufgezeichnet war, zeigten sich die Umrisse eines weit größeren Fahrzeugs. »Umiäksuäk!« wiederholte der Eingeborene, auf die Skizze weisend; und dann zeigte er, daß der ›Erik‹ auf dem Weg nach Süden, zu den Fury- und Hecla-Engen gewesen war, genau wie Rudd vorhergesagt hatte.

Kapitän Pike schüttelte den Kopf. »Ich muß gestehen, daß ich immer noch geglaubt habe, er würde wiederkommen. Ich kann mich auch jetzt noch nicht mit der Tatsache abfinden, daß der alte Topp weg ist.« Er zupfte sich am Bart. »Aber jetzt sieht's freilich so aus.«

So wurde beschlossen, daß man nicht direkt zu den Vorräten aufbrechen, sondern erst nach dem ›Polarstern‹ sehen sollte. Wenn er intakt war, konnte mit ihm eine Ladung Kisten herübergebracht werden. War er aber beschädigt, so konnte man wenigstens bergen, was er an Bord hatte.

Der Skipper übernahm es, mit den Eskimos zu verhandeln, damit sie Rudd und den Doktor zum Motorboot transportierten. Nachdem die Eingeborenen längere Zeit sich beraten hatten, zeigten sie auf ihre Hunde und hinaus auf das große Feld alten Eises, das durch die Einfahrt des kleinen Hafens trieb.

»Sie sagen, sie müssen Fleisch für die Hunde kriegen,« verdolmetschte Pike. »Wahrscheinlich finden sie Robben auf dem Eisfeld draußen, und nach einer tüchtigen Mahlzeit und Rast werden sie imstande sein, morgen zum ›Polarstern‹ aufzubrechen.«

Rudd war mit diesem Plan mehr als einverstanden, denn er gab ihm Gelegenheit, den Jägern bei ihrer Arbeit zuzuschauen. Der Eskimoführer erklärte durch Zeichen, daß es ihm eine Freude sei, Rudd mitzunehmen, machte ihm zwischen den Häuten auf seinem Schlitten einen Platz zurecht, und die rasende Fahrt ging los. Zwischen Felsblöcken und scharfen Eisspitzen mußte Rudd neben dem Gespann einherlaufen oder den Schlitten, der alle Augenblicke umstürzte, aufrichten helfen. Die anderen folgten in Kolonne; die Hunde jeder Koppel vereinten sich in dem wütenden Eifer, um jeden Preis in dem Rennen voran zu sein.

In einiger Entfernung vom Land sagten die Eskimos Rudd in der Zeichensprache, daß die Hunde jetzt festgemacht werden müßten, da die Jagd angehe. Die Gespanne wurden einzeln und ziemlich weit voneinander entfernt angebunden. Aus dem unaufhörlichen ohrenbetäubenden Heulen und Schnappen der Hunde ging hervor, daß ein mörderischer Kampf entbrennen würde, wenn zwei Gespanne aneinander gerieten.

Auf dem Eis trennten sich alle. Der Jäger brachte Rudd zu einem Loch mit einem Durchmesser von etwa einem Fuß, durch das vor kurzem ein Seehund zum Sonnen heraufgekommen sein mußte. Hier legte der Eskimo ein Bärenfell aufs Eis und wickelte die vom Schlitten mitgenommene Harpunenleine auf. Die Harpune selbst war nichts weiter als ein hölzerner Schaft mit einem Walroßzahn als Spitze, an der ein Widerhaken aus demselben Material angekeilt war. Der Widerhaken war ausgebohrt, um die Leine aus Seehundhaut aufzunehmen. Rudd sah mit Staunen, daß der Haken sich in das Fleisch des Tieres bohren würde, sobald die Harpune auf eine Robbe geworfen wurde, und daß die Spitze sich dann sofort vom Schaft loslösen mußte. Der Jäger konnte also mit seiner Beute umgehen wie ein Angler mit seinem Fisch.

»Sch–h–h!« machte der Jäger und hieß Rudd zurücktreten, damit die Robbe ihn nicht sehen könne. Dann stand er eine Zeitlang, die Rudd endlos dünkte, vollkommen bewegungslos da, die Harpune über dem Kopf balancierend. Es schien fast unmöglich, daß ein menschliches Wesen so lange still halten könne. Rudd bekam Krämpfe und Kneifen in den Beinen und im Rücken, obwohl er viel mehr Bewegungsfreiheit hatte als der erstarrte Eingeborene.

Plötzlich, als er schon daran war, alle Hoffnungen aufzugeben, hörte Rudd ein Pfeifen, das direkt unter seinen Füßen herzukommen schien. Im nächsten Augenblick kam ein Schnaufen, begleitet von einer kleinen Dampfwolke, aus dem Luftloch der Robbe.

Der Eskimo stieß nicht sogleich zu. Er schien gelähmt. Auch nicht das Zucken eines Muskels verriet, daß er überhaupt lebte. Dann plötzlich mit einer blitzschnellen Bewegung schleuderte er seine Harpune, die sofort nicht mehr zu sehen war.

»Kä! Kä!« rief er Rudd erregt zu. Dieser sprang auf, um die Taurolle zu packen, die sich mit gefährlicher Geschwindigkeit abwickelte. Der Eskimo verhinderte ihn daran und stieß die scharfe Spitze eines kleinen Speers, den er schnell ergriff, in den Mittelpunkt der Rolle. Gleich darauf schlug deren Ende gegen den Speer, und Rudd sah, daß das Tau an seinem Ende in ein großes Auge gespleißt war; das machte dem Jäger möglich, seine Beute festzuhalten.

Jetzt begann ein lebhafter Kampf. Der Eskimo schnatterte und weinte fast in seinem verzweifelten Bemühen, dem Weißen klar zu machen, wie er ihm helfen sollte. Endlich begriff Rudd, daß es sich hauptsächlich um die Speerspitze handelte. Wenn es dem Seehund gelang, sie herauszuziehen, war nicht nur sie verloren, sondern auch die kostbare Leine. Rudd faßte den Stiel dicht unter dem festen Griff seines Gefährten, und mit vereinten Kräften rammten sie ihn ins Eis, so fest sie konnten.

Zuerst sah es so aus, als würde die Robbe trotz alledem entkommen. Die Oberfläche der Scholle war von der Sommerwärme so zerrissen, daß sie nach allen Seiten splitterte und nachgab. Der Eskimo keuchte und schnatterte und schüttelte den Kopf. Rudd nahm seine ganze Kraft zusammen. Endlich, mit einer überraschenden Plötzlichkeit, ließ die Spannung nach. Der Seehund mußte heraufkommen, Atem zu holen. Von einem anderen Loch in der Nähe wurde sein Schnaufen hörbar, aber keiner der beiden wagte seinen Posten zu verlassen aus Angst, daß er entkommen könnte.

Viermal wiederholte sich dieser Vorgang. Dann machte sich der Eskimo daran, mit Rudds Hilfe die Leine einzuholen. Endlich stieß die Robbe vor ihren Füßen herauf, blasend wie ein junger Wal. Rudd versuchte ihn zu greifen, was dem Eingeborenen nicht wenig Spaß machte. Der blieb auf seinem Platz stehen und gab dem Tier jedesmal, wenn es heraufkam, mit seinem Harpunenschaft eins über den Kopf, bis es beinahe ertrank.

Zum Schluß übernahm Rudd die Leine, während der Eskimo sich stach aufs Eis legte und in das Loch hineingriff. Er packte die Hinterflosse der Robbe, nahm sie zwischen die Zähne und richtete sich langsam auf. Mit einem entzückten Grunzen warf er das sich windende Tier aufs Eis. Geschickte Arbeit mit dem Messer erledigte es im Nu; und gemeinsam mit Rudd schleifte er es zu seinen gierigen Wölfen.

Sieben Robben wurden im ganzen auf diese Weise gefangen; mehr als genug, die Hunde zu füttern, ein Teil wurde noch als Vorrat am Strand zurückgelassen. Der Tag war fast schon zu Ende, als Rudd müde und hungrig ins Lager zurückkam. Boggs hatte eine Doppelportion Bisamochsensteak für ihn aufgehoben, und die Pfeife des Skippers erfüllte die Hütte mit einem behaglichen Duft. Alles in allem war Rudd heute mit dem Leben zufrieden.

Als er sich in sein behagliches Feldbett einmummelte, rief er: »Fast könnte es mir leid tun, daß ich nicht als Eskimo auf die Welt gekommen bin!«

Und dann träumte er, daß er den ›Polarstern‹ mit einer zehn Fuß langen Lanze harpunierte und Kapitän Pike König der Eskimos wäre.


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