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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Später sah ich selbst diesen Brief. Er hatte keine Aehnlichkeit mit irgend einem anderen, der mir je zu Gesicht gekommen war. In Zwischenräumen geschrieben, je nachdem Frau Jeffrey Kraft oder ihr Elend Worte fand, trug er schon in seinem Aeußeren all die Spuren jenes ruhelosen, gequälten Geistes an sich, der sie sechsunddreißig Stunden lang wie im Wahnsinn in ihrem Zimmer umhergetrieben hatte. Ich gebe diesen Brief genau so wieder, wie er geschrieben worden war – zusammenhangslose Abschnitte, abgebrochene Sätze, unbeendete Worte und alles. Die Absätze zeigen an, wo sie die Feder niederlegte, möglicherweise zum Zweck jenes wilden Umherirrens im Zimmer, das so unverkennbare Spuren zurückgelassen hatte.

Er beginnt ohne Einleitung:

 

»Ich habe ihn getötet. Ich verdiene all die Namen, die ich mir gab, und Du kannst nie mehr an mich denken, ohne den Tag zu verfluchen und zu beklagen, an dem ich in Dein Leben trat. Aber Du kannst mich nicht tiefer hassen, als ich mich selbst hasse, mich Verruchte, die, als sie ein Hindernis auf ihrem Wege zum Glück bemerkte, dieses durch eine Gewalttat beseitigte und sich so alles Recht auf Glück für immer verscherzte.

 

Es war so leicht! Wäre die Ausführung schwer gewesen, hätte ich nötig gehabt, die Hand an ein Messer zu legen oder eine Pistole auf ihn zu richten, so würde ich mir vielleicht die Tat überlegt haben, und sie wäre dann möglicherweise ungeschehen geblieben. Aber nur eine kleine Feder, die eines Kindes Hand in Bewegung setzen könnte – Wer vermöchte nach ihr zu tasten, ohne sie niederzudrücken, wenn er nur zu sehen brauchte –

 

Ich war von jeher ein leichtsinniges Mädchen, vergnügungssüchtig und ohne eine Spur von Ueberlegung. Als ich die Schule besuchte, nahm ich eines Tages all meine Bücher aus dem Pulte, forderte alle meine Mitschülerinnen auf, dasselbe zu tun, schichtete sie auf unserem Spielplatze zu einer Art von Rednerbühne zusammen, hielt von ihnen herab eine Rede, in der die Achtung vor unseren Lehrern nur eine geringe Rolle spielte, riß die Bücher dann entzwei und verbrannte sie vor den Augen meiner mich bewundernden Freundinnen. Ich wurde entlassen, aber nicht in Ungnade. Lehrer und Schülerinnen bedauerten meinen Abgang, nicht weil sie mich liebten, sondern weil mein Geld einen Schimmer auf sie und die ganze Anstalt geworfen hatte. Dies geschah, als ich zwölf Jahre alt war, und dieser leichtsinnige Streich hatte zur Folge, daß ich nach dem Westen geschickt wurde und so lange von Hause und von all meinen Verehrerinnen entfernt blieb. Mein Vormund meinte es gut mit dieser Maßregel, aber indem er mich so vor der einen Fallgrube rettete, stieß er mich in eine andere. Ich wuchs ohne Cora auf und ebenso ohne irgend eine Ahnung von den Erfordernissen meiner Stellung oder von dem, was ich in der Welt zu erwarten hätte, wenn meine Zeit gekommen wäre, in sie einzutreten. Ich wußte, daß ich Geld hatte, und auch meine Umgebung wußte dies; aber ich hatte wenig oder gar keine Kenntnis von der Höhe der Summe oder davon, was ich nach meiner Rückkehr nach Washington mit diesem Gelde anfangen sollte. So verliebte ich mich denn – wenigstens meiner Meinung nach – an einem Unglückstage, als ich gerade achtzehn Jahre alt war, in einen Mann (o Francis, sich dies vorzustellen, jetzt, nachdem ich Dich gesehen habe!), der genügend Anziehungskraft besaß, um ein Mädchen zu fesseln, dessen Aussichten auf eine enge Existenz in irgend einer kleinen Stadt beschränkt waren, der mir aber, nachdem ich das Leben in Washington kennen gelernt hatte, in keinem höheren Grade genügen konnte, als wenn er ein gewöhnlicher Gutsarbeiter oder ein Verkäufer in einem Laden gewesen wäre. Aber ich war jung, unerfahren und eigenwillig und glaubte, weil meine Wange unter seinem Blick errötete, er sei der mir vom Schicksal Auserkorene und bestimmt, mein Gatte zu werden. Dies klingt, wenn ich alles bedenke, recht unwahrscheinlich; ich befand mich aber in einer fieberhaften Unruhe und folgte dem Impulse des Augenblickes, der mich antrieb, seine Gesellschaft aufzusuchen, so oft ich dies tun konnte, ohne die Aufmerksamkeit meiner Lehrer zu erregen. Und dies geschah leider nur allzuoft, denn er war der Bruder eines unserer Kaufleute und auf Besuch in Owosso und befand sich oft im Laden, wenn wir Mädchen uns hier einfanden. Wie es kam, daß die Lehrer nicht bemerkten, wie oft wir hier etwas kauften, weiß ich nicht. Aber sie taten es nicht, die Dinge nahmen ihren Lauf und dann –

 

Ich kann über jene Tage nicht schreiben, und Du wirst auch kein Verlangen danach tragen, Näheres über sie zu erfahren. Jetzt kommen sie mir als unmöglich vor, und es will mir scheinen, als sei dies alles einer anderen passiert, so vollständig habe ich den Mann vergessen, ausgenommen insofern er die Quelle und die Ursache eines unermeßlichen Grauens für mich ist. Und doch war er nicht schlecht, nur gewöhnlich und abgeschmackt. In der Tat glaube ich, daß er in jeder Hinsicht ein sehr guter Mensch war, wie mir sein Bruder eines Tages versicherte. Wir würden uns nicht so bald verheiratet haben, wenn er nicht hätte nach Klondike gehen wollen, um dort Geld zu verdienen, und zwar rasch, damit seine Mittel den meinigen gleichkämen.

Ich weiß nicht, wer von uns beiden für diese überstürzte Heirat härter zu tadeln war. Er bestand darauf, weil er so weit fortging und meiner sicher sein wollte. Ich willigte ein, weil es mir romantisch vorkam und es mir Spaß machte, meinen eigenen Weg zu gehen, trotz meines alten harten Vormundes und der Lehrer, die überall umherspionierten, sowie der Mädchen, die arg hinter ihm her waren – denn er war wirklich in seiner Art ein hübscher Bursche – und die glaubten (wenigstens taten dies viele von ihnen), daß er ihnen den Hof mache, während er doch nur Augen für mich hatte.

 

Ich habe ein ganzes Jahr lang schwarze Augen gehaßt. Er hatte schwarze Augen.

 

Ich vergaß Cora, oder vielmehr, ich konnte mich auf sie nicht mehr entsinnen. Sie war für mich in jenen Tagen zu einer völlig schattenhaften Persönlichkeit geworden. Ich hatte sie seit meiner Kindheit nicht wiedergesehen, und was ihre Briefe betrifft, so waren sie mir beinahe lästig; sie führte ein so ganz anderes Leben als ich und schrieb über so viele Dinge, für die ich mich nicht interessierte. Auf meinen Knien bitte ich sie jetzt um Verzeihung dafür. Ich habe sie nie verstanden, wie ich auch mich selbst nie verstanden habe. Ich war leicht wie eine Flaumfeder und ließ mich von jedem Lüftchen treiben. Es kam eines Tages ein Windstoß, der mich in den Rachen der Hölle trieb. Hier schwebe ich noch und drohe zu sinken, Francis, zu sinken – Rette mich! Ich liebe Dich – ich – ich –

 

Es wurde alles von ihm geregelt – ich habe kein Geschick für derlei Dinge. Sadie half ihm dabei – Sadie war meine Freundin – aber Sadie hatte nicht viel zu sagen, denn er schien genau zu wissen, wie alles einzurichten sei, damit niemand auf der Schule etwas erfahren oder auch nur Verdacht schöpfen könne, bis es uns beliebte, die Heirat bekannt zu machen. Er zog nicht einmal seinen Bruder ins Vertrauen, denn Wallace hatte einen Laden und unterhielt sich viel mit seinen Kunden. Außerdem war der Bruder gerade damals stark mit dem Ausverkauf beschäftigt, denn er wollte mit William nach Klondike gehen und hatte daher zuviel zu überlegen, als daß er auch noch mit unserer Angelegenheit behelligt werden konnte, wie William sagte. All dies muß ich Dir mitteilen, wenn Du die Versuchung verstehen sollst, die an mich herantrat, als ich, nach Washington zurückgekehrt, zum Bewußtsein meiner Stellung erwachte und die Kreise kennen lernte, in denen ich von nun an verkehren sollte. Ich war verheiratet – o des Wahnsinns! – aber dies war so wenigen bekannt, und diese waren noch dazu soweit entfernt, meine Freundin Sadie war sogar tot. Warum sollte ich nicht diese unglückselige geheime Trauung vergessen, mich in dem Glauben wiegen, ich sei frei, und mich dieser Welt des Genusses und Glanzes ebenso freuen, wie es Cora tat, und – vertrauen? Vertrauen, worauf? Nun, auf dieses Klondike! jene menschenmörderische Gegend. Warum sollte es nicht noch einen mehr verschlingen? – O ich weiß, dies klingt verrucht. Aber ich war in Verzweiflung; ich hatte Dich erblickt.

 

Ich erhielt einen Brief von ihm, nachdem er Alaska erreicht hatte, aber dies geschah, bevor ich Owosso verließ. Ich bekam überhaupt keinen zweiten. Und ich schrieb ihm nie. Er hatte mich gebeten, dies nicht zu tun, bis er mir Nachricht geben könne, wie und wohin ich zu schreiben hätte; als aber diese Weisungen eintrafen, hatte sich meine Gesinnung gegen ihn geändert, und mein einziger Wunsch ging dahin, zu vergessen, daß er auf der Welt war. Und ich vergaß es – beinahe. Ich fuhr aus und tanzte mit Dir, reiste hierhin und dorthin, verschwendete Geld und Zeit und Gefühl in dem frivolen Treiben, in das ich mich stürzte, nannte mich Veronika und suchte auf diese Weise jede Erinnerung an die Tage, da ich als Antoinette und nur als Antoinette bekannt war, aus meinem Gedächtnis zu löschen. Denn Klondike war fern und sein Klima mörderisch, und es starben dort täglich Menschen. Auch kam kein Brief (ich dankte Gott dafür), und ich brauchte nicht daran zu denken – noch nicht – was aus mir werden sollte. Nur eines gemahnte mich an meine tatsächliche Lage. Dies geschah, wenn Deine Augen die meinen suchten – Deine treuen Augen, aus denen soviel Vertrauen und Stolz strahlten. Ich wünschte ihnen offen begegnen zu können, und wenn ich es nicht konnte, fiel mir plötzlich der Grund davon ein, und ich litt.

Erinnerst Du Dich des Abends, an dem wir zusammen auf dem Balkon des Strandhotels standen und Du Deine Hand auf meinen Arm legtest und Dich wundertest, warum ich so unverwandt in den Mond blickte, anstatt in Deine erwartungsvollen Augen? Es geschah, weil die Musik, die drinnen gespielt wurde, mich an einen anderen Abend und den Druck einer anderen Hand auf meinen Arm erinnerte – einer Hand, deren Berührung ich nie wieder zu fühlen hoffte, die ich aber in diesem Augenblick viel deutlicher fühlte als die Deinige, sodaß ich beinahe laut aufgeschrien und Dir in einem Anfall wahnsinniger Erregung mein ganzes gräßliches Geheimnis verraten hätte.

Nur mit innerem Widerstreben nahm ich Deine Aufmerksamkeiten entgegen und willigte ein, Dich zu heiraten. Du weißt es am besten, wie ich mich zurückhielt und immer wieder um Aufschub bat. Ich bereitete Dir damit Kummer und verzehrte mich selbst in nutzlosen Kämpfen – erinnerst Du Dich, wie Du mich eines Tages im Kreise meiner erstaunten Freundinnen wie eine Wahnsinnige lachen fandest? Du zogst mich beiseite und sagtest mir Worte, die ich schwerlich von Dir erwartet hätte, denn endlich stand es mir frei, Dich zu lieben, frei, zu lieben und Dir meine Liebe zu gestehen. Die Morgenzeitung hatte eine glückliche Nachricht gebracht. Eine telegraphische Depesche aus Seattle teilte mit, daß ein Mann sich nach Nome durchgekämpft habe, erfroren, blutend und ohne Begleiter. Nur mit Mühe konnte er sich auf den Füßen halten und stürzte bei dem ersten Zelte zusammen, an das er kam. In der Tat hatte er nur noch Zeit, seinen Namen zu nennen, dann starb er. Dieser Name war es, der der Depesche eine solche Wichtigkeit für mich verlieh. Er lautete William Pfeiffer. Für mich gab es nur einen William Pfeiffer in Klondike – meinen Gatten – und der war tot! Das war es, worüber ich lachen mußte. Nicht aus Freude. Ich bin nicht so schlecht, um dies tun zu können, sondern weil ich wieder atmen konnte, ohne die Empfindung zu haben, als sei mir die Kehle zugeschnürt. Erst da kam es mir zum Bewußtsein, wie nahe ich am Ersticken gewesen war.

 

Wir warteten nun nicht mehr lange mit der Hochzeit. Ich war über jeden Aufschub erschrocken, nicht weil ich einen Widerruf der Nachricht fürchtete, die mir diese beglückende Erlösung gebracht hatte, sondern weil ich in Sorge schwebte, Dir könnte eine Andeutung über meine Jugendtorheit zugehen und den Stolz dämpfen, mit dem Du mich betrachtetest. Ich wollte mich Dir so teuer und unentbehrlich machen, daß es Dich nicht kümmern sollte, wenn Dir jemand erzählte, daß ich einst für einen anderen Liebe empfunden hatte oder vielmehr Liebe zu empfinden geglaubt hatte. Die Woche, in der unsere Hochzeit gefeiert werden sollte, brach an; ich war närrisch vor Freude und wiegte mich in den ausschweifendsten Erwartungen. Nichts hatte sich ereignet, was meine Hoffnungen hätte trüben können. Kein Brief aus Denver, kein Lebenszeichen aus Klondike, selbst kein Wort von Wallace, der mit seinem Bruder nach dem Norden gegangen war. Bald sollte ich wieder Frau genannt werden, aber von Lippen, die ich liebte, und deren Sprache mein Herz erbeben ließ. Die Vergangenheit, die mir stets in unbestimmten Umrissen vorschwebte, würde bald weiter nichts sein als ein vergessener Traum – eine völlig abgeschlossene Episode. Ich gelangte von diesem Augenblicke an dahin, das Leben wie andere Mädchen anzusehen und mich meiner Jugend und der Liebe zu erfreuen, die von Tag zu Tag mehr Besitz von mir nahm.

Aber Gott ließ mich nicht aus den Augen, und inmitten meiner Glückseligkeit und der Hast der letzten Vorbereitungen zuckte sein Wetterstrahl hernieder. Er traf mich, während ich im – lache nicht, sondern schaudere eher – im Laden meiner Schneiderin in der Vierzehnten Straße war. Ich beugte mich über einen Tisch und plauderte wie eine Elster über die Art und Weise, in der ich ein Kleid besetzt haben wollte, als mein Auge auf ein Stück Zeitungspapier fiel, in das etwas für die Geschäftsinhaberin eingewickelt gewesen war. Eine Ecke war davon abgerissen, aber auf dem vor mir liegenden Stück las ich den Namen meines Gatten William Pfeiffer und bemerkte gleichzeitig, daß die Zeitung eine aus Denver war. Es gab nur einen William Pfeiffer in Denver, und das war mein Gatte. Und ich las, ohne etwas zu verstehen. Dann las ich nochmals, und die Welt, meine Welt versank unter meinen Füßen, denn der Mann, der in dem Lager von Nome tot zusammengebrochen war, war Wallace, Williams Bruder, und nicht William selbst. William war von seinem energischeren Bruder unterwegs zurückgelassen worden, und dieser letztere war, um Hilfe zu holen, durch den schrecklichsten Schneesturm und unter den ungünstigsten Bedingungen, die es in jener gottverlassenen Gegend nur geben konnte, weiter vorgedrungen. Nur den Zurückgelassenen im Sinne, hatte Wallace angesichts der Hilfe nur den Namen William hervorgebracht. Man hatte die Hoffnung geäußert, den letzteren noch lebend aufzufinden, und es war eine Schar von Männern aufgebrochen – Las ich noch weiter? Ich glaube nicht. Vielleicht stand nicht mehr da, denn hier war die Zeitung abgerissen. Aber es war nicht nötig. Ich hatte genug gelesen. Es war Wallace, der tot niedergestürzt war, und während auch William umgekommen sein konnte und zweifellos auch umgekommen war, so hatte ich doch keine Gewißheit darüber. Und meine Hochzeit war für Donnerstag festgesetzt.

 

Warum habe ich es nicht Cora mitgeteilt, warum nicht Dir? Der Stolz verschloß mir den Mund; außerdem hatte ich Zeit gehabt zu überlegen, ehe ich meine Schwester oder Dich sah, und mir klarzumachen, daß, wenn Wallace so erschöpft gewesen war, um tot zusammenzubrechen, als er das Lager erreichte, William auf der offenen Straße keinesfalls am Leben geblieben sein konnte. Denn Wallace war der Stärkere von beiden und in jeder Hinsicht kräftiger. Frei war ich unzweifelhaft. Eine Zeitung späteren Datums würde mir Gewißheit bringen. Ich wollte mir sie verschaffen und alle durchlesen, aber ich tat es nicht. Ich glaube nicht, daß ich den Mut dazu gehabt hätte. Ich fürchtete, bestätigt zu sehen, was jetzt nur eine Möglichkeit war, und so tat ich nichts. Aber drei Nächte hindurch konnte ich nicht schlafen.

 

Die Laune, die mich angewandelt hatte, mich in dem alten Moorehause trauen zu lassen, gab mir auch die Absicht ein, mich am Hochzeitsmorgen hier anzukleiden. Es war früh, als wir aufbrachen, Cora und ich, um nach der Waverley-Avenue zu fahren, aber nicht zu früh, als daß die Zugänge zu diesem entsetzlichen Hause nicht schon von einer dichtgedrängten Menschenmenge besetzt gewesen wären, die zusammengeströmt war, um die mutige Braut zu sehen. Warum ich vor dieser Menge zurückschrak, kann ich nicht sagen. Ich zitterte beim Anblick der vielen Gesichter und dem Summen der vielen Stimmen, und wenn sich zufällig ein Kopf weiter vorbeugte als die anderen, so fuhr ich instinktiv zurück und schrie beinahe auf. Fürchtete ich, ein mir allzu bekanntes Gesicht zu erkennen? Die Zeitung, die ich gesehen hatte, war ein halbes Jahr alt. Ein Mann konnte in dieser Zeit sehr gut von Alaska hierher gekommen sein. Oder regte sich endlich doch mein Gewissen und heischte Gehör, als es zu spät war? An der Ecke der Straße hielt der Wagen plötzlich. Ein Mann war vor ihm quer über die Straße gegangen. Ich sah diesen Mann ganz flüchtig, und sofort verdichteten sich die Schrecknisse eines ganzen Lebens zu einem Augenblick tödlicher Angst. Es war William Pfeiffer; ich erkannte ihn an seinem Gange und an seiner Haltung. Im nächsten Moment war er verschwunden, und der Wagen rollte weiter. Aber ich wußte in jener Minute ebensowohl wie eine Stunde später, daß mein Verderben besiegelt war. Mein Gatte lebte und er war hier. Er war den Gefahren Klondikes entronnen und nach dem Osten gekommen, um sich seine feigherzige Frau zu holen. Er hatte volle Zeit dazu gehabt, seitdem die Rettungsschar aufbrach, um ihn zu suchen, Zeit, sich zu erholen, Zeit, nach Hause zu reisen, Zeit, nach dem Osten zu gelangen. Er hatte von meiner Hochzeit gehört; alle Zeitungen waren voll davon; ich würde ihn bei meiner Ankunft in dem Hause antreffen, Du würdest es erfahren, Cora würde es erfahren, die Hochzeit würde nicht stattfinden, und mein Name würde zum Gespött der ganzen Welt gemacht werden. Anstatt den Lebensgenuß auszukosten, der mich noch einen Augenblick vorher erwartet hatte, müßte ich mit ihm in irgend eine Wildnis oder einen entlegenen Ort verziehen, wo mein Mädchenname nie gehört werden und jede Erinnerung an dieses Jahr verstohlener Freuden ausgelöscht sein würde. O, es war furchtbar! Und alles innerhalb einer Minute! Und Cora saß mir gegenüber, blaß, ruhig und schön wie ein Engel und betrachtete mich mit zärtlichen Blicken, deren Ausdruck ich niemals verstanden habe. Mir im Herzen die Hölle, und sie, in glücklicher Unwissenheit, über mein Glück nachdenkend und lächelnd, während ihr die Tränen in die milden Augen traten!

Du erwartetest mich vor dem Hause, als ich ankam, und ich erinnere mich, wie mein Herz stillstand, als Du Deine Hand auf den Wagenschlag legtest und mich mit jenem strahlenden Lächeln begrüßtest, das seit unserer Verlobung keinen Augenblick aus Deinen Zügen verschwunden war. Würde auch er es sehen und aus seinem Versteck, in dem er sich verborgen gehalten hatte, hervortreten? Sollte ich Zeugin eines Streites auf der Straße sein, eines heftigen Wortwechsels angesichts der Tür, die ich so freudig zu durchschreiten gehofft hatte? Aus Furcht vor einem solchen Geschehnis erfaßte ich die Hand, die mir in dieser Stunde tödlicher Verwirrung meine einzige Zuflucht zu sein schien, und eilte in das Haus, das trotz seiner traurigen Geschichte nie ein schwerer beladenes oder unruhvolleres Herz in seinen Mauern gesehen hatte. Als mir der Gedanke hieran kam, hätte ich beinahe laut ausgerufen: Das Haus des Verderbens! Das Haus des Verderbens! Ich hatte seinen Schrecken und seinen Verbrechen trotzen zu können geglaubt, und nun hatte es sich gerächt. Aber anstatt dessen drückte ich Deine Hand in der meinigen und lächelte. O Gott, hättest Du sehen können, was unter diesem Lächeln lag! Denn bei meinem Eintritt in die verhängnisvollen Räume war mir ein Gedanke gekommen. Ich erinnerte mich an mein Erbe. Ich erinnere mich, wie mir mal mein Vater, als ich ein ganz kleines Mädchen war – ich vermute, es war damals, als ihn die Hand des Todes das erstemal berührte – gesagt hatte, daß, wenn ich einmal in großer Sorge – in sehr großer Sorge, sagte er, wäre, in einer Bedrängnis, aus der kein Ausweg möglich erschiene, ich ein kleines goldenes Medaillon, das er mir zeigte, öffnen, das, was ich darin finden würde, herausnehmen und dicht vor ein Bild halten sollte, das seit undenklichen Zeiten in dem südwestlichen Zimmer dieses alten Hauses hinge. Er konnte mir nicht genau mitteilen, was ich hier finden würde – dies erinnere ich mich, von ihm gehört zu haben – aber es sei etwas, was mir Hilfe bringen würde, etwas, was mit gutem Erfolg schon seit vielen Generationen von Vater zu Kind übergegangen sei. Hätte ich jedoch Glück in meinen Unternehmungen, so dürfe ich nie das Medaillon öffnen und sein Geheimnis zu ergründen suchen, außer falls mir Tod oder ein großes Unglück drohe. In einer solchen Gefahr schwebte ich jetzt in der Tat und – seltsames Zusammentreffen – ich befand mich in diesem Augenblick gerade in dem Hause, in dem dieses Bild hing, und – ein noch seltsamerer Zufall – das goldene Medaillon, das zum Verständnis seiner Bedeutung nötig war, trug ich an einer Kette am Halse – mit solch peinlicher Sorgfalt wurde das Familienkleinod stets von seinem Besitzer verwahrt. Warum sollte ich also nicht die Wirkung der beiden Talismane erproben? Unzweifelhaft bedurfte ich von irgend einer Seite der Hilfe. Niemals würde William darein willigen, daß ich bei seinen Lebzeiten einen anderen Mann heiratete. Er würde jetzt erscheinen, und ich würde diesen mächtigen Beistand nötig haben, wie noch kein Mitglied der Familie Moore ihn nötig gehabt hatte; worin er aber bestand, wußte ich nicht und versuchte nicht einmal Vermutungen darüber anzustellen.

 

Als ich jedoch das Zimmer betrat, zog ich nicht sofort den Filigranschmuck hervor und warf auch nur einen furchtsamen Seitenblick auf das Bild. Beim Ausziehen meines Handschuhs hatte ich seinen Ring gesehen, den Ring, nach dem Du mich einst gefragt hattest. Es war ein billiges Ding, der einzige, den er in der kleinen Stadt, in der wir uns trauen ließen, bekommen konnte. Ich log, als Du mich fragtest, ob er ein Familienkleinod sei, log, aber legte ihn nicht ab, vielleicht weil er so fest saß wie die Erinnerung an die Gelübde, deren Symbol er war. Aber schon sein bloßer Anblick flößte mir Furcht ein. Mit seinem Ring am Finger konnte ich ihn nicht verleugnen und schwören, sein Anspruch sei unbegründet – die Einbildung eines Mannes, der durch seine Erlebnisse in Klondike wahnsinnig geworden sei. Der Ring mußte beseitigt werden. Dann würde ich mich vielleicht als freies Mädchen fühlen. Aber er wollte nicht abgehen. Ich zog und zerrte an ihm herum; es war alles vergeblich; dann faßte ich den Entschluß, mich einer Nagelfeile zu bedienen, um ihn zu zerschneiden. Dies tat ich und feilte und feilte, bis der Ring endlich zerbrach und ich ihn abreißen und weit wegwerfen konnte, damit er mir aus den Augen und, wie ich hoffte, auch aus dem Gedächtnis käme. Ich atmete leichter auf, als ich mich von ihm befreit hatte, erschrak aber heftig, als sich ein Schritt der Tür näherte. Ich hatte mein Brautkleid, aber noch nicht den Brautschleier und den Schmuck angelegt, und natürlich kamen Cora und dann meine Zofe, um mir zu helfen. Aber ich wollte sie nicht ins Zimmer lassen. Ich hatte mir vorgenommen, das Geheimnis des Medaillons zu ergründen und mich so gegen das zu rüsten, was, wie mir mein Gewissen sagte, zwischen mir und der für Mittag angesetzten Trauung lag.

 

Ich ahnte nicht, daß das Studium des Bildes soviel Zeit in Anspruch nehmen würde. Der Inhalt des Medaillons erwies sich als ein kleines Vergrößerungsglas und das Bild als ein Labyrinth geschriebener Worte. Ich entzifferte nicht alle, nicht einmal die Hälfte. Ich brauchte das nicht. Eine Art Eingebung beseelte mich in jener entsetzlichen Stunde und ermöglichte es mir, den vollen Inhalt der Niederschrift aus den paar herausgelesenen Sätzen zu erraten. Und dieser Inhalt! Er war furchtbar, unfaßlich. Ein Mord wurde gelehrt, aber ein Mord aus sicherer Entfernung und vermittelst einer so einfachen Handlung, daß sie unmöglich Widerwillen einflößen konnte. Aefften mich die Geister meiner beiden Ahnen, welche den in den Tiefen jenes kleinen Gelasses verborgenen Handgriff niedergedrückt hatten, während ich in der Mitte des Zimmers stand, an das, was ich soeben gelesen hatte, dachte und horchte, auf etwas horchte, was weniger laut klang, als das Geräusch der Wagen, die jetzt vorzufahren begannen, oder die Weisen der unten spielenden Musikkapelle – weniger laut? Was war es aber, was mir die Stimmen zuraunten? Ein Schritt in das leere Gelaß, dessen Oeffnung mir in solcher Nähe entgegengähnte – ein Ziehen an den Schubladen, ein – ein – Verlange nicht von mir, daß ich es mir ins Gedächtnis zurückrufe. Ich schauderte nicht, als der Augenblick nahte und ich dort stand. Da war ich kalt wie Marmor. Aber ich schaudere jetzt, wenn ich solange daran denke, bis Leib und Seele sich zu trennen scheinen, und das Grauen, das mich erfüllt, gibt mir einen solchen Vorschmack von der Hölle, daß ich mich wundere, daß ich die Tat betrachten kann, die, wenn sie mich auch von dieser irdischen Pein erlöst, mich nur in ein möglicherweise noch schlimmeres Jenseits stürzt. Aber ich werde mir bestimmt das Leben nehmen, bevor Du mich wiedersiehst, und zwar in jenem alten Hause. Wenn es Verzweiflung ist, die ich fühle, dann wird mich dort die Verzweiflung packen. Ist es Reue, dann wird die Reue genügen, mich zu der einzigen Sühnehandlung zu treiben, die mir möglich ist, nämlich dort zu sterben, wo ich den Tod eines schuldlosen Mannes verursacht habe, und Dich so von einem Weibe befreien, das niemals Deiner wert gewesen ist und das Dir die Pflicht geboten hätte, bei Gericht anzuzeigen, wenn sie nochmals die Sonne über ihrer Schuld hätte aufgehen lassen.

Ich stand nicht lange zwischen den Geistern meiner beiden mörderischen Ahnen. Eine Bestellung wurde mir durch die Tür zugerufen – die Bestellung, auf die meine Ohren die letzten zwei Stunden in angstvoller Spannung gelauscht hatten. Ein Herr namens Pfeiffer wünschte mich noch vor der Trauung zu sprechen. Ein Herr namens Pfeiffer!

Ich sah mir den jungen Menschen, der mir diese Bestellung überbrachte, genau an. Er verriet keinerlei Aufregung oder sonst eine stärkere Empfindung als Ungeduld, da er eine Minute oder etwas länger an der Tür warten mußte. Dann blickte ich über ihn hinweg auf die Menschenmenge, die sich schwatzend auf dem Korridor drängte. Keine Unruhe, nur eine sehr natürliche Verwunderung darüber, daß die Braut eine so große Menge Leute warten ließ. Ich fühlte, daß mich dies in meinem Entschluß bestärkte. Er, der mir diese stille Botschaft geschickt hatte, war sich selbst und unserem alten Abkommen treu. Er hatte unten nichts von dem verraten, was das ganze Haus im Nu in Aufruhr versetzt hätte. Er hatte sein Geheimnis ganz allein für mein Ohr bestimmt. Ich vermochte mich sehr wohl des Augenblicks zu erinnern, da er mir sein Wort gab, und konnte mir gut seinen festen Blick ins Gedächtnis zurückrufen, als er mir mit zum Himmel erhobener Hand sagte: »Du bist gut zu mir gewesen und hast mir dein kostbares Ich geschenkt, als ich arm war und mich in niederer Stellung befand. Dafür schwöre ich dir, unsere Ehe geheim zu halten, bis ein großer Erfolg meinerseits zeigt, daß ich deiner wert bin, oder bis du mir mit deinem eigenen Munde Verzeihung für meinen Mißerfolg gewährst und mir zu sprechen gestattest. Nichts, als der Tod oder deine Erlaubnis soll mir je die Lippen öffnen.« – Als ich hörte, er sei tot, fürchtete ich, er möge gesprochen haben, aber jetzt, da ich ihn am Leben gesehen hatte, wußte ich, daß in keiner anderen Brust, außer der seinen, der meinen und der des unbekannten Geistlichen in einem fast unbekannten Städtchen eine Kenntnis der Tatsache wohnte, die zwischen mir und der Hochzeit stand, zu deren Feier all diese Menschen gekommen waren. Mein Vertrauen auf seine Rechtlichkeit führte schnell meinen Entschluß herbei. Ohne mir einer besonderen Gefühlserregung bewußt zu sein, ja ohne zu zaudern und ohne eine Empfindung von Furcht sagte ich dem jungen Manne, er möge den Herrn in die Bibliothek führen und ihn bitten, Platz zu nehmen. Dann –

 

Ich werde jetzt, ich werde immer von einer schrecklichen, aber bleibenden Vision verfolgt. Sie will mich nicht verlassen; sie erhebt sich jetzt zwischen uns, sie hat seit dem Augenblick zwischen uns gestanden, in dem ich jenes Haus mit dem Siegel Deiner Liebe auf den Lippen verließ. In der vergangenen Nacht ängstigte sie mich so, daß ich unbewußt im Schlafe sprach. Mir träumte, ich sähe die Szene wieder, und zwar deutlich, von der ich in jener Mordstunde nur einen flüchtigen Schimmer erhascht hatte: die Gestalt eines Mannes, der in einem alten Lehnstuhl saß, den Kopf in schweigendem Nachdenken hintenüber gelehnt. Das Gesicht hatte er nach der anderen Seite gewandt – ich dankte Gott dafür – nein, ich dankte Gott nicht dafür; ich dachte gar nicht an Gott in jenem Augenblick des blinden Tastens nach einem Handgriffe. Ich dachte nur an Deine Ungeduld, die wartenden Gäste und die Wonne der künftigen Tage, wenn ich, befreit von dieser unerträglichen Fessel, meinen Platz an Deiner Seite haben, Deinen Namen in Ehren tragen und das Hochgefühl sowie das Entzücken einer Leidenschaft voll auskosten würde, wie sie wenige Frauen fühlen, weil nur wenige Frauen von einem Manne wie Dir geliebt werden. Wären meine Gedanken anderwärts gewesen, so würden meine Finger vielleicht vergessen haben, an jener Mauer entlang zu tasten, und ich würde heute einfach unglücklich sein, und – schuldlos. Schuldlos! O, an welchem Orte in Gottes weiter Welt kann ich wieder schuldlos werden, damit ich Dir wieder ins Antlitz sehen und Dich lieben – herzbrechender Gedanke! – Dich sogar wieder lieben kann?

 

Ich habe sagen hören, ich hätte strahlend ausgesehen, als ich zur Trauung herunterkam. Das Strahlende beruhte in ihrer Einbildung. Wenn mein Gesicht strahlte und ich mich bewegte, als schwebte ich in Lüften, so kam dies daher, daß ich über alle Schwierigkeiten triumphiert hatte und den Weg zum Altar zurücklegen konnte, ohne befürchten zu müssen, daß jene Stimme Einspruch dagegen erhob und rief: Ich protestiere! Sie ist mein. Das Weib William Pfeiffers kann keinen anderen Mann heiraten! – Jetzt waren keine derartigen Worte mehr zu fürchten. Die Lippen, die hätten sprechen können, waren stumm. Ich vergaß, daß fleischlose Lippen am lautesten sprechen und daß ein ganzes Leben, mochte es lang oder kurz sein, vor mir liegt, in dem ich sie ihre Anklagen und Drohungen werde murmeln und laut herausschreien hören. O, wie unglücklich bin ich doch gewesen! Auf Bällen und Diners, beim Tanze preßten sich jene Lippen stets an mein Ohr, aber zumeist dann, wenn wir allein beieinandersaßen; o, meistens dann!

 

Er ist gerächt; aber Du! Wer wird Dich rächen, und wo wirst Du je Dein Glück finden?

 

Um mich aus Deinem Gedächtnis zu verbannen, möchte ich selbst noch tiefer in das Tal des Leidens hineinwandern, als ich es schon getan habe. Aber nein, nein! Vergiß mich nicht ganz. Bewahre mich im Gedächtnis, so, wie Du mich eines Abends sahst, jenes Abends, an dem Du die Blume aus meinem Haar nahmst und sie mit den Worten küßtest, in Washington gäbe es viel schöne Frauen, aber keine, die so wie ich die Macht besäße, Dich im Innersten Deines Herzens zu bewegen. Ah, in jener Stunde war Deine Stimme leise und Dein Mund beredt, und ich vergaß, – vergaß für einen Moment alles über dieser reinen Liebe, dem Herzklopfen, das sie in mir erregte, und der nie zu verwirklichenden Hoffnung, Dich noch mit grauen Haaren dieselben süßen Worte in genau demselben Tone und mit genau demselben Blicke wiederholen zu hören. In diesem Augenblick war ich schuldlos, schuldlos und gut. Ich möchte, daß Du Dich meiner so erinnertest, wie ich an jenem Abend war.

 

Wenn ich an ihn denke, der jetzt tot und kalt in seinem Grabe liegt, so möchte ich an seiner Stelle dort ruhen, mein Herz ist versteint, wenn ich aber an Dich denke –

Ich fürchte mich vor dem Tode, aber ich fürchte mich noch viel mehr davor, es könne mir an Mut fehlen. Ich will mir die Pistole anbinden lassen, damit der Selbstmord als unvermeidlich erscheint. O, könnten die nächsten vierundzwanzig Stunden aus dem Zeitenverlauf gestrichen werden! Ich war zu Glück und Heiterkeit geboren, aber keine Tiefe des Elends und der Sorge ist mir erspart worden! Doch an allem trage ich allein die Schuld. Ich klage nicht Gott an, ich klage keinen Menschen an; ich klage nur mich selbst an und meine gedankenlose Genußsucht.

 

Ich möchte, daß Cora dies ebenso läse wie Du. Sie muß mich im Tode kennen lernen, da sie mich im Leben nie kennen gelernt hat. Aber ich kann ihr nicht sagen, daß ich ein Geständnis hinterlassen habe. Sie muß unabsichtlich darauf stoßen, ebenso, wie ich es in betreff Deiner wünsche. Nur auf diese Weise kann meine Beichte einen Eindruck auf Euch beide machen. Wenn ich nur einen Vorwand hätte, ihr das Buch zu schicken, in dem ich diese Blätter zu verstecken beabsichtige! Dies würde ihr die Möglichkeit gewähren, sie vor Dir zu lesen, und dies würde das beste sein. Sie wird Dich vielleicht vorzubereiten oder zu trösten wissen – ich hoffe es! Cora ist ein edles Mädchen, aber das Geheimnis, das meine Gedanken in einem solchen Wirbel herumtreibt, trennt uns.

 

Du erfülltest meine Bitte. Du verschafftest dem Kellner eine Stelle in dem Freiwilligenkorps. So sehr Du auch über das Interesse erstaunt warest, das ich an ihm nahm, ehrtest Du doch meinen ersten Wunsch und sagtest nichts. Würdest Du denselben Eifer gezeigt haben, wenn Du wüßtest, warum ich ihm jene paar Worte vom Kutschenschlage aus zuflüsterte? Warum konnte ich denn weder Ruhe finden noch schlafen, bis er und der Laufbursche glücklich aus der Stadt waren?

 

Ich muß eine Zeile für Dich zurücklassen, damit Du sie den Leuten zeigen kannst, wenn sie sich wundern sollten, warum ich mir so bald nach meiner anscheinend so glücklichen Hochzeit das Leben nahm. Du wirst sie in demselben Buche finden wie diesen Brief. Es wird Dir jemand sagen, Du möchtest in das Buch sehen – ich kann nicht weiterschreiben.

 

Ich muß notgedrungen nochmals zur Feder greifen. Es ist das einzige, was mich noch mit dem Leben und mit Dir verbindet. Aber ich habe nichts mehr zu sagen, nur vergib, vergib mir –

Glaubst Du, daß Gott anders auf seine armen Kinder blickt, als Menschen es tun? daß er Erbarmen für mich hat, die ich mit so zerknirschtem Herzen zu ihm komme – daß er sogar einen Platz für mich finden wird –? Aber meine Mutter ist dort, mein Vater! O, dieser Gedanke flößt mir solche Furcht ein, zu gehen – ihnen zu begegnen – Aber es war mein Vater, der mich in das Geheimnis einweihte – nur wußte er nicht – Aber dort drüben! Ich will nur an Gott denken.

 

Leb wohl, leb wohl – leb –«

 

Dies war alles. Der Brief endete, wie er begonnen hatte, ohne Namen und ohne Datum. – Es waren die letzten Herzschläge einer Seele, die zum Bewußtsein ihrer Tat erwacht war, als es endgültig zu spät war – ein jammervoller Bericht, der uns alle, nachdem wir ihn gelesen hatten, hinaus auf den Hausflur scheuchte, sodaß die beiden Menschen, die am schwersten davon betroffen waren, allein im Zimmer blieben – möglicherweise, weil wir alle ein und denselben Gedanken hatten, der uns das Herz erbeben machte, und dem der Major zuerst Worte verlieh.

Der Mann, den sie tötete, wurde unter dem Namen Wallace begraben. Wie kommt das, wenn er ihr Gatte William war?

Ein Schutzmann, den wir noch nicht bemerkt hatten, stand an der Haustür. Er trat vor und legte ein zweites Telegramm in die Hand seines Vorgesetzten. Es kam von derselben Behörde wie das frühere und schien diese soeben aufgeworfene Frage zu beantworten.

»Soeben habe ich erfahren, daß der verheiratete Pfeiffer nicht der war, der den Laden in Owosso hatte, sondern sein Bruder William, der später in Klondike starb. Es ist Wallace, nach dessen Tode Sie sich erkundigen.«

Was ist das hier für ein Wirrwarr? fragte der Major.

Ich glaube es zu verstehen, wagte ich einzuwerfen. Ihr Gatte war der von seinem Bruder auf der Straße Zurückgelassene, während Wallace sich nach dem Lager durcharbeitete. Er war ein schwächlicher Mann – der Schwächere von den beiden, sagte sie – und starb wahrscheinlich, während Wallace sich, nachdem er anscheinend tot zusammengebrochen war, wieder erholte. Dieses letztere wußte sie nicht, da sie nicht den ganzen Zeitungsartikel, der davon handelte, gelesen hatte. Als sie daher jemand erblickte, der Pfeiffer an Haltung und Gestalt ähnlich war, und später hörte, ein Herr Pfeiffer wünsche sie zu sprechen, so nahm sie es als ausgemacht an, daß er ihr Gatte sei, da sie bestimmt glaubte, Wallace sei tot. Außerdem kann sich der letztere in der Zwischenzeit verändert haben, sodaß er seinem Bruder jetzt ähnlicher sah.

Das ist wohl die richtige Erklärung, die das Tragische des Falles bedeutend erhöht, erwiderte der Major. Allem Anschein nach war Frau Jeffrey Witwe, als sie den verhängnisvollen Griff berührte. Wer wird dies dem Manne drinnen im Zimmer mitteilen wollen? Es wird der schwerste Schlag sein, der ihn treffen kann.


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