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Zwölftes Kapitel

Am nächsten Tage wurde Jeffrey von neuem aufgerufen, und zwar bezog sich die Vernehmung auf einen früher behandelten Punkt, der anscheinend noch nicht zur Zufriedenheit des Coroners aufgeklärt war.

Hatte Herr Jeffrey das kleine Tischchen, auf dem der Armleuchter stand, an die Stelle gerückt, an der es gefunden worden war? Nein. Hatte er bei seinem eingestandenen Besuche die Kerzen mitgebracht, die später hier entdeckt worden waren? Nein. Er hatte seit gestern Zeit gehabt, nachzudenken, und befand sich jetzt in der Lage, zu erklären, daß, während er sich genau erinnerte, auf seinem Wege zum Moorehause Kerzen gekauft zu haben, er sie bei seiner Ankunft doch nicht in seiner Tasche vorgefunden habe und genötigt gewesen sei, die Streichhölzer, die er stets bei sich trage, zu benutzen, um seinen Weg nach dem Zimmer im ersten Stock zu finden, in dem er fest überzeugt war, eine Kerze vorzufinden.

Diese Aeußerung veranlaßte den Coroner zu der Frage:

Und weshalb erwarteten Sie, hier eine Kerze zu finden?

Die Antwort überraschte mich und unzweifelhaft auch viele andere.

Es war das Zimmer, in dem sich meine Gattin zur Trauung umgekleidet hatte. Es war seitdem nicht wieder betreten worden. Mit ihrer eigenen Person hatte meine Gattin wenig zu tun; sie brauchte ihre Toilette nur durch den Gebrauch eines Brenneisens zur Kräuselung einer kleinen Locke, die sie an der Schläfe trug, zu vervollständigen. Zu Hause machte sie dieses Brenneisen auf einem Gasbrenner heiß, da sich aber im Moorehause kein Gas befand, so schloß ich natürlich, daß sie eine Kerze benutzt habe, da die Locke unter ihrem Schleier zu sehen gewesen war.

Er hatte das Vorhandensein einer Kerze im Hause erklärt; konnte er auch das der beiden anderen erklären, von denen die eine in dem Glase, die andere zerbrochen und zertreten auf dem Fußboden des kleinen Gelasses gefunden worden war?

Nein, er konnte es nicht.

Und nun bemerkten wir alle einen Frontwechsel in der Untersuchung. Zeugen wurden aufgerufen, um Jeffreys Behauptungen zu bestätigen, Behauptungen, deren Richtigkeit der Coroner, wie es schien, jetzt festzustellen wünschte. Zunächst kam der Kaufmann an die Reihe, bei dem Jeffrey die Kerzen gekauft hatte. Er erklärte, er habe eine Stunde nach dem Weggange Herrn Jeffreys auf dem Tische das Paket gefunden, das dieser Herr mitzunehmen vergessen habe, und die Kerzen sofort nach dessen Wohnung geschickt.

Die anderen Zeugen waren die Leute, die als Lohndiener bei der Hochzeit mitgewirkt hatten. Der eine von ihnen bekundete, er sei sofort nach Fräulein Moores Ankunft weggeschickt worden, um eine Kerze und eine Schachtel Streichhölzer zu holen, der andere, er habe ihr einen großen Armleuchter aus dem Salon in ihr Zimmer oben gebracht. Dann wurde eine Brennschere vorgelegt, die man auf dem Toilettentisch in diesem Zimmer gefunden hatte, nebst anderen Toilettegegenständen, die man hier sorglos hatte liegen lassen, obgleich sie von massivem Silber und schöner Zeichnung waren.

Die nächste Zeugin war ein Mitglied von Jeffreys Haushalt. Ihr Name war Chloe, und sie gab an, daß der Pack Kerzen, den der Laufbursche des Kaufmanns auf den Küchentisch gelegt habe, samt den übrigen Einkäufen am Morgen des schrecklichen Tages, an dem »Missus« sich erschossen habe, nicht mehr zu finden gewesen sei. Sie habe überall danach gesucht, aber er sei nicht mehr dagewesen.

Durch die weitere Untersuchung wurde die Tatsache festgestellt, daß außer ihr nur Fräulein Tuttle in der Küche zugegen gewesen war; sie hatte gestutzt, als der Bursche rief: »Diese Kerzen hier sind von Herrn Jeffrey gekauft worden«, war dann zum Tische hingeeilt und hatte die Pakete in die Hand genommen, obgleich Chloe nicht sah, daß sie etwas davon mitnahm.

Ein Gemurmel der Ueberraschung war bei der Nennung von Fräulein Tuttles Namen durch den Saal gegangen; denn jedermann erkannte, wie verhängnisvoll diese Aussage unter Umständen für die Dame werden konnte.

Der Coroner hielt einen Augenblick inne und rief dann Fräulein Nixon als Zeugin auf. Die sonderbare kleine Dame trippelte vor und erklärte mit ihrem dünnen Stimmchen, sie besitze eine ganz ähnliche Schleife wie die, die der Coroner gestern gezeigt habe, und daher habe sie auch einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken können. Sie habe diese Schleife von Fräulein Tuttle erhalten, die überhaupt eine große Geschicklichkeit im Knüpfen von Schleifen besitze. Aufgefordert, die in ihrem Besitze befindliche Schleife zu zeigen, wenn sie sie bei sich habe, öffnete sie einen kleinen Beutel, den sie an ihrer Seite trug, und nahm eine rosaseidene Schleife heraus, die, wie sich die Geschworenen überzeugen konnten, die offenkundigste Aehnlichkeit mit der in der Schachtel befindlichen trug. – Ein tiefes Schweigen folgte dieser Feststellung. Man würde noch länger bei dem Gegenstande verweilt haben; einige der Geschworenen widersprachen jedoch, und da die Zeit für das große Ereignis des Tages nun reif war, wurde der Name der Dame selbst aufgerufen. Nach den bisherigen Zeugenvernehmungen hatte das bloße Aussprechen von Fräulein Tuttles Namen beinahe die Wirkung einer Anklage; aber die Würde, mit der sie sich erhob, beruhigte die allgemeine Erregung und unterdrückte jeden Gefühlsausbruch.

Wie sind Sie mit der verstorbenen Frau Jeffrey verwandt? begann der Coroner.

Ich bin die Tochter ihrer Mutter aus erster Ehe. Wir waren Stiefschwestern.

Der Coroner fuhr in seinem Verhöre fort. Er ließ sich eine Schilderung ihrer Kindheit geben und nötigte sie zu einer offenen Darlegung der Art ihrer Beziehungen zu ihrer Schwester. Allein es wurde dadurch wenig gewonnen, denn das Verhältnis zwischen den beiden schien bis zur Zeit von Veronikas Rückkehr von der Schule ein freundliches gewesen zu sein; später hatte es sich etwas geändert, aber in welcher Hinsicht und warum, wollte Fräulein Tuttle nicht angeben. Der Coroner ließ diesen Gegenstand fallen und kam nunmehr auf den entscheidenden Punkt zu sprechen, nämlich auf ihre verschiedenen noch unaufgeklärten Handlungen.

Seine erste Frage, die sich auf die in ihrem Zimmer stattgefundene Unterredung zwischen ihr und Jeffrey bezog, beantwortete die Zeugin ganz in Uebereinstimmung mit der Aussage Jeffreys, sie hätten von dem auffallenden Benehmen Veronikas gesprochen und sie hätte ihrem Schwager Geduld empfohlen – das war alles, was aus ihr herauszubringen war. Nunmehr nach dem Inhalte des Gespräches gefragt, das sie mit ihrer Schwester geführt hatte, ehe diese am Abend ihres Todes ausging, erzählte sie, Veronika sei zu ihr gekommen und habe ihr gesagt, sie habe eine Einladung erhalten, wobei sie sich in der heitersten Stimmung befunden habe, sodaß die Zeugin gar keinen Anlaß zur Beunruhigung hätte haben können. Kurz vor ihrem Weggange habe Veronika sie gebeten, ihr die beiden Enden eines langen seidenen Bandes, das aus ihrer Tasche herauszuhängen schien, um das Handgelenk zu binden. Die Zeugin sei diesem Wunsche ohne irgend ein Bedenken nachgekommen, da sie geglaubt habe, es handle sich um die Befestigung von Veronikas Fächer oder Bukett, das diese in den Falten ihres Kleides versteckt gehalten habe. Darauf habe sich Veronika zum Gehen gewandt, sei aber in der Tür nochmals stehen geblieben und habe sie gebeten, eine Mitteilung für ihren Gatten, die sie in ein näher bezeichnetes Buch gelegt habe, an eine andere Stelle zu legen, wo Francis sie leichter finden könne. In Gemäßheit dieses Wunsches ihrer Schwester sei sie unmittelbar nach deren Weggange in ihr Zimmer gegangen, habe das Buch heruntergenommen und den Zettel, natürlich ohne ihn gelesen zu haben, an die bezeichnete Stelle gelegt.

Und warum gingen Sie dann in das Nebenzimmer an Herrn Jeffreys Schreibtisch und suchten dort in einem der Schubfächer? fragte der Coroner ernst.

Fräulein Tuttle wurde sichtlich verlegen, und es verging geraume Zeit, ehe sie erwiderte, sie habe nicht nach der Pistole suchen wollen. Welchen Zweck sie dabei aber tatsächlich verfolgt habe, gab sie nicht an, und der Coroner drängte sie auch nicht, sondern nahm die schon so oft erwähnte Schachtel zur Hand und zog das obenauf liegende Band samt der Pistole hervor. Im Nu hielt sie sich die Hände vor die Ohren.

Warum tun Sie dies? fragte er. Glaubten Sie, ich würde die Pistole abschießen?

Sie lächelte schmerzlich, als sie die Hände wieder fallen ließ.

Ich fürchte mich vor Schußwaffen. Ich habe dies stets getan. Jetzt aber sind sie mir geradezu schrecklich, und speziell diese –

Ich verstehe, fuhr der Coroner unerbittlich fort. Ihr Entsetzen scheint von dem Knalle herzurühren, den eine solche hervorbringt. Man könnte meinen, Sie hätten diese Pistole abfeuern hören.

Fräulein Tuttle vergaß alle Zurückhaltung und rief mit ganz verändertem Gesicht und mit heftiger Stimme:

Jawohl, ich habe sie gehört. Ich war an jenem Abend in der Waverley-Avenue und hörte den Schuß, der aller Wahrscheinlichkeit nach dem Leben meiner Schwester ein Ende machte. Ich ging weiter, als ich beabsichtigt hatte; ich geriet in die Straße, die soviel bittere Erinnerungen für uns birgt, und hörte – Nein, ich war nicht auf der Suche nach meiner Schwester. Ich war nicht auf den Gedanken gekommen, meine Schwester könne die Absicht haben, dieses Haus zu besuchen; ich war nur ganz verwirrt und ängstlich, und – und –

Sie hielt erschrocken inne und verriet zum ersten Male völlige Fassungslosigkeit.

Sie wollten also auf einen ähnlichen Impuls hin wie Herr Jeffrey in dieses unheimliche Haus eindringen? Allem Anschein nach hat jener Platz am Kamine eine viel größere Anziehungskraft auf die Mitglieder Ihrer Familie ausgeübt, als Sie bisher geneigt sind, anzuerkennen.

Diese Bezugnahme auf Worte, die sie selbst ausgesprochen hatte, schien sie zu überwältigen. Ihre Ruhe und Sicherheit war dahin, und sie rief leidenschaftlich aus:

Ja, ich habe das Haus betreten und hörte den Schuß, während ich an der Bibliothektür stand. Sobald ich mich von dem ersten Schreck erholt hatte, stürzte ich wie von Furien gejagt nach Hause.

Es war aber halb elf, als Sie hier anlangten, denn Sie trafen unmittelbar vor dem Polizeibeamten ein, der Ihnen den Tod Ihrer Schwester mitteilte. Wo waren Sie in der Zwischenzeit?

Das weiß Gott. Ich weiß es nicht.

Ihre Geistesverfassung scheint ja mit der Herrn Jeffreys in auffallender Weise übereinzustimmen. Nun noch eins. Was wissen Sie von den Kerzen, die der Laufbursche des Kaufmanns in Ihrer Gegenwart in der Küche ablieferte?

Ich ging zwar zu dem Tische hin, auf den er sie gelegt hatte, habe sie aber weder beachtet noch in die Hand genommen.

Es ist gut. Ich danke Ihnen. Der Coroner machte ihr eine höfliche Verbeugung und entließ sie.

Unmittelbar darauf zogen sich die Geschworenen zurück, kehrten aber schon nach kurzer Beratung wieder.

Der Obmann erhob sich und begann mit feierlicher Stimme: »Wir stellen fest, daß Veronika Moore-Jeffrey, die am Abend des elften Mai in dem ihr gehörigen unbewohnten Hause an der Waverley-Avenue tot auf dem Fußboden gefunden wurde, mittelst einer Kugel, die aus einer mit einem langen weißseidenen Bande an ihrem Handgelenk befestigten Pistole abgeschossen wurde, vom Leben zum Tode gebracht worden ist;

daß die anfängliche Schlußfolgerung, es liege Selbstmord vor, durch die Tatsachen nicht völlig begründet ist,

und daß versucht werden soll, festzustellen, wessen Hand diese Pistole abgefeuert hat.«

Es war so gut wie eine Anklage gegen Fräulein Tuttle, nur daß ihr Name nicht genannt wurde. Ein schweres Aufatmen durchlief die Zuhörerschaft; Jeffrey sprang auf und wollte in heller Empörung laut aufschreien. Fräulein Tuttle aber wandte sich ihm zu, erhob mit gebieterischer Bewegung ihre Hand und hielt sie so lange ausgestreckt, bis er sich wieder gesetzt hatte.

Es war eine majestätische und zugleich äußerst ausdrucksvolle Gebärde, die dem Schlusse dieser denkwürdigen Verhandlungen eine dramatische Steigerung verlieh, die aller Herzen lauter schlagen ließ und, ich muß es sagen, alle Zungen in Bewegung setzte, bis der Saal geleert war.


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