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Zwanzigstes Kapitel

Hatte ich während der Wochen, die ich der Aufklärung der Ursachen und begleitenden Umstände von Frau Jeffreys Tod widmete, eine Ahnung von der erstaunlichen Tatsache, die sich uns so plötzlich und ich möchte sagen so dramatisch enthüllt hatte? Ich glaube nicht. Kein Zug ihres Antlitzes, soweit ich mich dessen erinnerte, nichts in dem Verhalten von Gatte und Schwester gegen sie hatte mich auf die Aufdeckung eines so empörenden Verbrechens vorbereitet, daß es alles überstieg, was ich mir je von einer so bezaubernden und vornehmen Dame hatte träumen lassen. Auch der Major und der Staatsanwalt waren nicht weniger außer Fassung gebracht. Nur Durbin versuchte eine weise und hochfahrende Miene aufzustecken, aber es war nutzlos; er täuschte niemand. Veronika Moores tatsächliche Verbindung mit Herrn Pfeiffers Tod – einem Tode, auf den in unerforschlicher Weise in so kurzer Zeit der ihrige gefolgt war – bildete für jeden von uns eine überwältigende Ueberraschung.

Der Major fand zuerst seine Fassung wieder.

Dies wirft ein ganz neues Licht auf die Sache, begann er. Nun können wir verstehen, warum Herr Jeffrey jenen außergewöhnlichen Ausruf auf der Brücke tat: »Sie muß sterben.« Sie war mit blutbefleckten Händen zu ihm gekommen.

Es erschien unglaublich, ja geradezu unfaßlich. Ich rief mir das holde, feine Gesicht in mein Gedächtnis zurück, das ich auf dem kahlen Fußboden dieses selben Zimmers erblickt hatte, die Erzählungen, die ich von der Lebhaftigkeit ihres Geistes und dem berückenden Zauber gehört hatte, den ihr Wesen ausströmte, bevor der Schatten dieses alten Hauses auf sie gefallen war. Ich tappte selbst noch im Dunkeln, klammerte mich noch an meinen Glauben an Weiblichkeit, fragte mich, bis zu welcher Tiefe ihre Schwester ihr in die Irrgänge eines Verbrechens gefolgt war, das wir zugeben mußten, ohne es jedoch verstehen zu können.

Nun wandte sich der Staatsanwalt an den Major und bat ihn, sofort nach Denver zu telegraphieren, da es jetzt von der äußersten Wichtigkeit sei, Auskunft über die Beziehungen zu erhalten, die zwischen der Angeschuldigten und dem letzten Opfer dieses todbringenden Mechanismus bestanden hätten.

Ich bitte um Verzeihung für die Kühnheit, die ich mir erlaubt habe, fiel ich etwas verlegen ein. Ich habe sofort nach meiner Rückkehr aus Tampa nach Denver um nähere Auskunft über Herrn Pfeiffer telegraphiert. Hier ist die Antwort, die mir heute früh zugegangen ist, fuhr ich fort, indem ich dem Major eine Depesche überreichte. Sie sehen, sie ist noch geschlossen; ich habe mich nicht für berechtigt gehalten, sie zu öffnen.

Der Major warf mir einen strengen Blick zu; aber die Begierde, dem Geheimnis nun endlich auf den Grund zu kommen, überwog seinen Unwillen über meine dreiste Eigenmächtigkeit. Er riß mir die Depesche aus der Hand; da sie aber chiffriert war, mußte er sie erst mit Hilfe des Schlüssels übertragen. Sie lautete folgendermaßen:

» Ergebnis der öffentlichen Nachforschungen in Denver.

Drei Gebrüder Pfeiffer; alle gut beleumundet, aber einfache Leute und etwas exzentrisch. Der eine hatte ein Geschäft in Denver und starb im Juni 97. Der andere starb in Klondike im Oktober desselben Jahres. Der dritte, Wallace mit Vornamen, starb vor drei Monaten plötzlich in Washington.

Die geheime Nachforschung am hiesigen Orte hat nichts Weiteres zutage gefördert.

Ergebnis der öffentlichen Nachforschungen in Owosso.

Ein Mann namens Pfeiffer hielt einen Laden in Owosso in der Zeit, als V. M. hier die Schule besuchte. Er hatte noch zwei Brüder, war aus Denver gebürtig und hieß Wallace mit Vornamen. Gleichzeitig mit B. Ms. Abgang von der Schule gab P. sein Geschäft auf und ging auf Veranlassung seines Bruders William mit diesem nach Klondike. Keine nähere Beziehung zwischen der Dame und diesem selben P. je bemerkt. V. M. hat einmal über sein linkisches Benehmen gelacht.

Ergebnis der geheimen Nachforschung in Owosso.

V. M. sehr intim mit Schulfreundin, die seitdem gestorben ist. Oft zusammen ausgefahren, einmal eine lange Strecke gegangen. Dies war unmittelbar vor V. Ms. Abgang von der Schule, an demselben Tage, an dem in einer zwanzig Meilen entfernten Stadt eine Hochzeit stattfand: Braut Antoinette Moore, Bräutigam W. Pfeiffer aus Denver, Zeugin junges Mädchen mit rotem Haar. Schulfreundin hatte rotes Haar. Hatte V. M. noch ein anderes Initial, und war dieses A.?«

 

Wir blickten uns alle einander an; diese letzte Frage konnte keiner von uns beantworten.

Holen Sie sofort Herrn Jeffrey her, befahl der Major, und schicken Sie einen anderen Beamten nach Fräulein Tuttle. Kein Wort zu einem von beiden von dem, was geschehen ist, und keine Andeutung darüber, daß sie sich möglicherweise hier treffen können.

Mir fiel die Aufgabe zu, Fräulein Tuttle zu holen. Ich war froh darüber; die Verhandlungen hatten so lange gedauert, daß mir der Kopf schwirrte, und ich fand nun Gelegenheit, meine Gedanken etwas zu ordnen. Ueber die Tatsache, daß Frau Jeffrey für den Todesfall verantwortlich sei, der sich an ihrem Hochzeitstage in der Bibliothek zugetragen hatte, oder daß sie, um mit dem Staatsanwalt zu sprechen, mit blutbefleckten Händen zu ihrem Gatten gekommen sei, ging mein Denken jedoch nicht hinaus; sowie ich auch nur den leisesten Versuch machte, die entscheidende Frage aufzuwerfen, inwiefern Fräulein Tuttle und Jeffrey an ihrem Verbrechen beteiligt seien und was uns die bevorstehende Unterredung an neuer Aufklärung bringen werde, verwirrten sich meine Gedanken. In dem Wunsche, diese Frage recht bald beantwortet zu sehen, beschleunigte ich meine Schritte und war bald an der Tür von Fräulein Tuttles gegenwärtiger Wohnung.

Ich hatte die Dame seit ihrem Verhör nicht wiedergesehen, und mein Herz klopfte heftig, als ich in Erwartung ihres Erscheinens in dem dunklen kleinen Salon saß, in den ich durch ein Stubenmädchen, das sie im geheimen überwachte, gewiesen worden war. Die Szene, die ich soeben erlebt hatte, die Ungewißheit über die Beziehungen des schönen Mädchens sowohl zu dem eben entdeckten wie zu dem schon lange Zeit mit ihrem Namen verknüpften Verbrechen, erfüllten mich in den wenigen Minuten des Wartens mit einer inneren Bewegung, die mir das sanfte Lächeln, mit dem Fräulein Tuttle endlich eintrat, nur noch rührender erscheinen ließ.

Aber ich zweifle daran, ob sie meine Erregung bemerkte. Sie war zu sehr von ihrer eigenen in Anspruch genommen. Sie schritt in all dem unbewußten Stolze ihrer strahlenden Schönheit auf mich zu und fragte mit zitternder Stimme:

Sie haben einen Auftrag für mich. Kommt er von der Polizei? Oder hat der Staatsanwalt neue Fragen an mich zu richten?

Ich habe einen viel peinlicheren Auftrag als diesen auszurichten, beeilte ich mich zu sagen, in der Absicht, sie einigermaßen auf das Kommende vorzubereiten, das ja eine außerordentlich schwere Prüfung für sie sein mußte. Aus gewissen Gründen, die Ihnen von meinen Vorgesetzten mitgeteilt werden sollen, werden Sie ersucht, mit mir nach dem Hause zu kommen, in dem – in dem – ich verfiel unter dem Einfluß des Blickes dieser melancholischen Augen ins Stottern – in dem ich Sie schon einmal gesehen habe, schloß ich.

Das Haus in der Waverley-Avenue? fragte sie in wilder Aufregung und mit den ersten Anzeichen wirklichen Schreckens, die ich an ihr bemerkte.

Ich nickte und schlug die Augen nieder. Was hatte ich nötig, das Gewissen dieser Frau zu ergründen?

Sind sie dort? sind alle dort? fuhr sie fort. Die Polizei und – und Herr Jeffrey?

Gnädiges Fräulein, entgegnete ich achtungsvoll, meine Pflicht beschränkt sich darauf, Sie nach dem genannten Ort zu geleiten. Ein Wagen wartet unten. Darf ich Sie bitten, sich zum sofortigen Aufbruch zurechtzumachen?

Sie erwiderte nichts, sondern richtete nur einen langen, ernsten Blick auf mich, dem ich nicht auszuweichen vermochte. Dann eilte sie aus dem Zimmer, aber mit sehr unsicheren Schritten. Augenscheinlich begann ihr der Mut, der sie so lange aufrecht erhalten hatte, zu sinken. Ihr ganzes Wesen war verändert. Hatte sie erkannt, wie ich vermutete, daß das Geheimnis des Moorehauses nicht länger auf ihre eigene Brust und die ihres unglücklichen Schwagers beschränkt war?

Als sie zur Fahrt bereit zurückkehrte, war diese Veränderung in ihrer Stimmung weniger bemerkbar, und als wir das Haus in der Waverley-Avenue erreichten, hatte sie ihre frühere Fassung wiedergewonnen, sodaß sie sich mit der Ruhe der Verzweiflung, wenn nicht der Unbefangenheit eines heiteren Gemüts bewegen und sprechen konnte.

Der Major erwartete uns an der Tür und verbeugte sich ernst vor ihrer tief verschleierten Gestalt.

Fräulein Tuttle, begann er ohne jegliche Einleitung, sobald sie sich im Innern des Hauses befand, darf ich Sie hier, und bevor ich Ihnen mitteile, was für Entschuldigungsgründe wir für die traurige Notwendigkeit haben, Sie in dieses Haus bitten zu müssen, fragen, ob Ihre Schwester, Frau Jeffrey, noch einen anderen Vornamen hatte oder unter einem anderen bekannt war als unter Veronika?

Sie war sowohl Antoinette getauft wie Veronika; aber die Person, zu deren Erinnerung ihr der erstere Name gegeben wurde, hatte der Familie keine Ehre gemacht; sie hatte ihn daher bald aufgegeben und war nur als Veronika bekannt. O, was habe ich getan? rief sie, erschreckt durch das Schweigen, das auf diese einfachen Worte folgte.

Niemand antwortete ihr. Zum ersten Male in ihrem Leben beschäftigten sich die Gedanken von Männern in ihrer Gegenwart mit jemand anderem als mit ihr. Die Braut! die unglückliche Braut – kein Mädchen, sondern eine verheiratete Frau! Nein, nur eine Minute eine Frau, in der nächsten eine Witwe und dann wiederum eine neuvermählte Frau, während unten ihr Gatte kalt und starr dalag! War es daher ein Wunder, daß sie zurückschrak, als sich die Lippen ihres eben angetrauten Gatten den ihrigen näherten, daß ihre Flitterwochen eine Zeit der Enttäuschung waren, oder daß der Schatten, der an jenem Unglückstage auf sie gefallen war, sie nie verließ, bis sie sich seinem Einflusse ganz anheimgab und in das Haus zurückkehrte, um an demselben Ort zu sterben, der der furchtbare Schauplatz ihres eigenen Verbrechens geworden war?

Ehe jemand von uns imstande war, ein Wort hervorzubringen, kündigte ein Pochen an die Tür an, daß Durbin mit Jeffrey angelangt sei. Als sie eingelassen worden waren und der letztere Fräulein Tuttle hier stehen sah, schien auch er zu ahnen, daß eine Wendung in ihrer Angelegenheit eingetreten sei, und daß es für ihn jetzt mehr darauf ankomme, Mut zu zeigen, als seine passive Haltung zu bewahren. Als er die kleine Gruppe bemerkte, die sich in der düsteren, zu so unaussprechlichen Gedankenverbindungen anregenden Halle zusammendrängte, bat er dringend:

Lassen Sie mich nicht im ungewissen. Warum bin ich hierher geholt worden?

Die Antwort lautete so ernst, wie es die Gelegenheit mit sich brachte.

Sie sind hergeholt worden, um das mörderische Geheimnis dieser alten Wände zu erfahren, und wer es war, der zum letzten Male Gebrauch von ihm machte. Wünschen Sie die Einzelheiten aus meinem Munde zu hören oder wollen Sie einräumen, daß Sie schon das Mittel kennen, durch das so viele Menschen sowohl in längst vergangenen Zeiten wie in der Gegenwart hier ihren Tod gefunden haben? Wir verlangen keine Antwort von Ihnen.

Ich kenne das Mittel, erwiderte er, da er ohne Zweifel erkannte, daß die entscheidende Stunde jetzt geschlagen habe und daß Leugnen schlimmer als nutzlos sein würde.

Dann bleibt für uns nur noch übrig, Ihnen die Person zu nennen, die zuletzt den verhängnisvollen Handgriff niedergedrückt hat. Aber vielleicht kennen Sie auch schon diese?

Ich – er stockte; es war ihm unmöglich, weiterzusprechen, und während dieser Pause richtete er seine Blicke hilfeflehend auf Fräulein Tuttle.

Aber der Major sprang rasch zwischen ihn und die junge Dame, und nun kam es langsam und gequält von Jeffreys Lippen:

Ich – möchte – Sie – bitten – es – mir – zu – sagen.

Hinter jedem Worte folgte ein schwerer Atemzug.

Vielleicht wird dieses Stück Spitze dies in zarterer Weise tun, als ich es vermöchte, entgegnete der Major, indem er seine Hand öffnete, in der das Stück Spitze lag, das ich von dem Brette in jenem verhängnisvollen Gelasse aufgehoben hatte.

Jeffrey betrachtete es und verstand. Er verbarg sein Gesicht in den Händen und schwankte, daß er beinahe gefallen wäre. Fräulein Tuttle trat rasch vor.

O, stöhnte sie, als ihre Blicke auf den kleinen weißen Fetzen fielen. Gottes Vorsehung hat all unser Tun vereitelt. Wir haben umsonst gelitten, gekämpft und geleugnet.

Ja, wiederholte der Mann, den niemand von uns bis jetzt verstanden hatte, in traurigem Echo; ein so schweres Verbrechen konnte nicht verborgen bleiben. Gott will seine Rache haben. Was sind wir, daß wir glaubten, sie durch irgendwelche Bemühungen und um irgendwelchen Preis abwenden zu können?

Der Major richtete seine Blicke durchbohrend auf den Unglücklichen und fragte mit scharfer Betonung:

Sie haben also Ihre Gattin zum Selbstmorde gezwungen?

Nein, begann er; ehe er aber weitersprechen konnte, fiel Fräulein Tuttle, strahlend vor Schönheit und mit neuem Leben erfüllt, ihm mit den leidenschaftlichen Worten in die Rede:

Sie tun ihm und ihr mit einer solchen Vermutung unrecht. Nicht ihr Gatte, sondern ihr Gewissen war es, das sie zu dieser Sühne trieb. Was Herr Jeffrey getan haben würde, wenn sie sich der Ungeheuerlichkeit ihrer Schuld gegenüber verstockt und blind gezeigt hätte, weiß ich nicht. Aber daß er sie nicht in dieser Richtung beeinflußt hat, geht aus dem Schreck hervor, den er bei der Kunde empfand, sie habe ihre Bestrafung selbst in die Hand genommen.

Herr Jeffrey wird die Freundlichkeit haben, meine Frage zu beantworten, erwiderte der Major fest, worauf der letztere unter großer Anstrengung, aber mit dem ersten Anzeichen von wirklicher Offenheit, das wir bei ihm wahrnahmen, in ernstem Tone sagte:

Ich habe nichts getan, um sie zu beeinflussen. Ich war nicht in der Lage, dies tun zu können. Ich war zu Tode erstarrt. Als sie mir die erste Mitteilung machte – es geschah in einigen Worten, die sie im Schlafe murmelte – glaubte ich, sie leide unter einem fürchterlichen Alpdruck; als sich dies aber wiederholte und ich mir durch meine Fragen die Gewißheit verschaffte, daß es entsetzliche Wahrheit sei, so glich ich einem Menschen, der plötzlich in Stein verwandelt worden ist und nur noch einen unerträglichen Druck in seinem Innern empfindet. In dieser Stimmung befinde ich mich jetzt noch; alles geht wie ein Traum an mir vorüber. Sie war so jung, anscheinend so unschuldig und heiteren Sinnes. Ich liebte sie! Meine Herren, Sie haben mich des Mordes an meiner Gattin für schuldig gehalten – an diesem jungen, elfenhaften Geschöpfe, dem ich alle Tugenden zuschrieb! – und ich wollte es haben, daß Sie so denken sollten, wollte dem Mißtrauen und den Vorwürfen der ganzen Welt die Stirne bieten – und das wollte auch ihre Schwester, dies edle Mädchen, das Sie hier vor sich sehen, lieber, als daß die volle Entsetzlichkeit ihres Verbrechens aufgedeckt und ein ihr so teuerer Name der Verwünschung preisgegeben würde. Wir glaubten das Geheimnis bewahren zu können, fühlten, daß wir es bewahren mußten – wir schwuren es uns zu – auf Französisch – in dem Wagen, während die Detektivs uns gegenübersaßen. Sie hat es bewahrt – Gott segne sie dafür! – und auch ich habe es bewahrt. Aber es war alles nutzlos – ein winziges Stück Spitze wurde an einem kleinen Spane hängend gefunden, und all unsere Bemühungen, alle Hoffnungen und der verzweifelte Kampf von Wochen waren zunichte gemacht. Die Welt wird ihre grauenhafte Tat bald erfahren, und ich –

Er liebte sie noch. Dies ging aus jedem Blicke, aus jedem Worte, das er sprach, hervor. Wir verharrten in lastendem Schweigen und atmeten erleichtert auf, als der Major begann:

Wie ich die Tat auffasse, ist sie von Ihrer Gattin nicht mit klarer Ueberlegung ausgeführt worden. Ist dies der Grund, weswegen die Ehre Ihrer Frau Ihnen teurer war als Ihre eigene und weswegen Sie den Ruf, wenn nicht gar das Leben der Frau aufs Spiel setzten, die, wie Sie sagten, sich für diese Ehre geopfert hat?

Ja, die Tat ist ohne Ueberlegung ausgeführt worden; meine Frau hat sich ihre Handlung schwerlich klargemacht. Wenn Sie durchaus ihre wahre Gesinnung während des ganzen Verlaufs dieser schrecklichen Angelegenheit kennen lernen müssen, so können wir Ihnen Aeußerungen von ihr zeigen, Aeußerungen, die sie am letzten Tage ihres bejammernswerten Lebens niedergeschrieben hat. Die wenigen Zeilen, die ich dem Hauptmann zeigte und die für die Oeffentlichkeit bestimmt waren, standen auf einer dem Bekenntnis beigefügten Anlage; den eigentlichen Brief aber, der die ganze grauenhafte Wahrheit enthält, behielt ich für mich und für ihre Schwester, die wir beide ihre Sünde schon kannten. O, wir haben alles getan, was in unseren Kräften stand. Und er stöhnte wiederum: Aber es war vergebens, ganz vergebens.

Nichts in seinem Wesen deutete auf Unaufrichtigkeit hin, und wir begannen ihm Glauben zu schenken.

Und dieser Pfeiffer war mit ihr verheiratet? Ein Mann, den sie als Pensionsfräulein im geheimen geheiratet hatte und der gerade in diesem kritischen Augenblick den Weg zu ihrem Hause gefunden hat –

Sie sollen ihren Brief lesen. Er war zwar nur für mich bestimmt, für mich allein – aber Sie sollen ihn lesen. Ich kann nicht von diesem Pfeiffer oder von dem Verbrechen meiner Frau sprechen. Es ist genug, daß ich außerstande gewesen bin, an etwas anderes zu denken, seit jene fürchterlichen Worte im Schlafe von ihren Lippen fielen, sechsunddreißig Stunden vor ihrem Tode. Dann ging er plötzlich mit der Inkonsequenz großer Seelenqual auf die Einzelheiten ein, vor denen er im Innern zurückbebte, und rief:

Sie murmelte, während sie schlafend dalag, sie habe sich keiner Bigamie schuldig gemacht, sie habe den einen Gatten getötet, ehe sie den anderen heiratete, und zwar in dem alten Hause und auf die Art und Weise, die ihre Vorfahren sie gelehrt hätten. Und ich hörte ihr, auf meinen Ellbogen gestützt, zu, während mir der kalte Schweiß von der Stirne perlte, glaubte ihr aber nicht, o nein, ich glaubte ihr nicht, ebensowenig wie jemand von Ihnen solchen Worten glauben würde, die der Liebling Ihres Herzens im Traume ausstößt. Als sie aber mit einem langgedehnten Seufzer: »Mörderin!« murmelte, ihre Fäuste erhob – winzige Fäuste, Händchen, die ich tausendmal geküßt hatte – und sie in der Luft schüttelte, ergriff mich ein fürchterlicher Schrecken, ich suchte sie zu fassen und festzuhalten, wurde daran aber durch ein namenloses inneres Grauen gehindert, unter dessen Banne ich weder sprechen, noch zugreifen, noch mich bewegen konnte. Natürlich war es ein böser Traum, unter dem sie litt, ein Alpdruck, der ihr unfaßbare Gedanken und Handlungen eingab, aber er war imstande gewesen, mich zurückzuhalten. Und als sie wieder ruhig dalag und ihr Antlitz im Mondschein seinen früheren holden Ausdruck wiedergewann, starrte ich auf sie hin, als ob es wahr wäre, was sie gesagt hätte, jenes Wort, jenes grausige Wort, das keine Frau in bezug auf sich selbst in den Mund nehmen könnte, wenn nicht – Etwas, ein Echo der Disharmonie, die in unserer so kurzen Ehe herrschte, erklang wie die Bestätigung eines Zweifels in meiner entsetzten und widerstrebenden Seele. Von jener Stunde bis zum Morgengrauen erschien mir in jenem matt erleuchteten Zimmer nichts wirklich, nicht ihr Antlitz, das, von den jugendlichen Locken umhüllt, auf dem Kissen ruhte, nicht die wohlbekannten, wertvollen Gegenstände, von denen wir umgeben waren, nicht ich selbst, was am meisten besagen will, nicht ich selbst, wenn nicht vielleicht der eisige Schweiß, der mir von den Wurzeln meiner gesträubten Haare herunterrann, tatsächlich Schweiß war, wenn nicht vielleicht jenes fürchterliche, unbestimmbare Gespenst, das nicht weichen wollte, das in den Schatten um uns her lauerte und auf ewig eine Scheidelinie zwischen mir und meinem Weibe zog, etwas war, das gefaßt und erdrosselt werden konnte und – O, ich rase! Ich schwatze wie ein Wahnsinniger; aber in jener Nacht raste ich nicht. Auch dann raste ich nicht, als sich ihre Augen in dem strahlenden, vollen Sonnenschein langsam öffneten und sie erstaunt war, daß ich mich so dicht über sie beugte, ohne ihr wie gewöhnlich einen Kuß zu geben und ihr einen fröhlichen Morgengruß zu bieten. Damals konnte ich sie nicht fragen; ich wagte es nicht. Das Lächeln, das langsam auf ihre Lippen trat, war zu rührend – es verriet Vertrauen. Ich wartete bis nach dem Frühstück. Als sie sich dann so setzte, daß sie mein Gesicht nicht sehen konnte, flüsterte ich ihr die Frage zu: Weißt du, daß du heute nacht einen bösen Traum gehabt hast? Sie schrie auf und wandte sich um. Ich sah ihr ins Gesicht und wußte, daß sie im Schlafe die Wahrheit gesprochen hatte.

Ich weiß nicht mehr, was ich zu ihr gesagt habe. Sie wollte mir erzählen, wie die Versuchung an sie herangetreten und wie sie sich erst in dem Augenblick ihrer Tat bewußt geworden sei, als ich mich zu ihr niederbeugte, um sie als ihr Gatte zu küssen. Aber ich hörte nicht auf sie – ich konnte es nicht. Ich stürmte sofort zu Fräulein Tuttle mit der heftigen Frage, ob sie wisse, daß ihre Schwester schon einmal verheiratet gewesen sei, und als sie dies verneinte und ganz außer sich war, erzählte ich ihr die ganze furchtbare Geschichte und kauerte mich dann in unmännlichem Schmerze zu ihren Füßen nieder, wo ich ganz ermattet liegen blieb. Dann kehrte ich zu meiner unglückseligen Frau zurück und fragte sie, in welcher Weise sie die grausige Tat verübt habe. Sie erzählte es mir, und abermals wollte ich es ihr nicht glauben und begann alles als einen wilden Traum oder als ungezügelte Phantasien eines kranken Hirns zu betrachten. Dieser Gedanke beruhigte mich, ich sprach ihr freundlich zu und versuchte sogar ihre Hand zu ergreifen. Aber jetzt fing sie an zu rasen, sie umklammerte meine Knie und murmelte Worte, die von solcher Seelenangst und Zerknirschung zeugten, daß meine schlimmsten Befürchtungen zurückkehrten und ich, nur den Schlüssel zu dem Moorehause aus meinem Schreibtische nehmend, das Haus verließ und wie wahnsinnig umherirrte – wo, weiß ich nicht.

Ich kehrte an jenem Tage nicht nach Hause zurück. Ich konnte Veronika nicht wieder gegenübertreten, bis ich wußte, wieviel von ihrer Beichte Einbildung und wieviel Wahrheit sei. Ich durchstreifte die Straßen von einem Ende der Stadt bis zum anderen – immer jenen Schlüssel in der Tasche – und bei Einbruch der Dunkelheit benutzte ich ihn zum Oeffnen des Hauses, das ihrer Erklärung zufolge ein so furchtbares Geheimnis in seinen Mauern barg.

Ich hatte unterwegs Kerzen gekauft, da ich sie aber in dem Laden liegen gelassen hatte, so hatte ich kein Licht und konnte in dem unheimlichen Gebäude, das sogar der Mond nicht erhellen mochte, nicht das geringste sehen. Ich dachte daran, als ich es schon betreten hatte, wollte aber nicht zurückkehren. Alles, was ich von dem Anzünden der Streichhölzer gesagt habe, mit denen ich mir bis zum südwestlichen Zimmer leuchtete, ist wahr, ebenso daß ich hier den alten Armleuchter mit einer Kerze in einer seiner Tüllen fand. Diese Kerze zündete ich an, da ich dieses Zimmer nur zu dem Zwecke aufgesucht hatte, um mich zu überzeugen, ob die alte Skizze wirklich die Worte, von denen meine Frau gesprochen hatte, enthielte.

Ich hatte es versäumt, ein Vergrößerungsglas mitzunehmen, aber meine Augen sind außerordentlich scharf. Da ich wußte, wo ich zu suchen hatte, gelang es mir, in den das Haar bildenden Linien hier und da einige Worte zu lesen, die vollständig genügten, mir die Gewißheit zu verschaffen, daß meine Frau weder mich getäuscht hatte, noch selbst getäuscht worden war, insofern, als wirklich bestimmte Winke in den Schriftzügen enthalten waren. Als so meine letzte geheime Hoffnung geschwunden, ich aber noch nicht völlig überzeugt war, so eilte ich jetzt in das kleine Gelaß und zog die verhängnisvolle Schublade heraus.

Sie kennen das Zimmer ja, aber niemand außer mir kann sich vorstellen, was es für mich bedeutete, der ich meine Frau noch liebte, der ich mich noch verzweifelt an einen durch nichts gerechtfertigten Glauben an mein Weib anklammerte, in jenem Höllenschlund nach dem Griffe zu tasten, von dem sie im Schlafe gesprochen hatte, ihn zu finden, ihn niederzudrücken und dann unten in der Bibliothek ein leises Klirren zu hören.

Ich glaube, ich muß ohnmächtig geworden sein. Denn als ich mich wieder bei genügender Besinnung befand, um mich aus der Nähe jener Todeshöhle zurückzuziehen, war die Kerze auf dem Armleuchter um einen Zoll kürzer als in dem Augenblick, da ich zuerst meinen Kopf in die durch die herausgezogenen Schubkästen gebildete Oeffnung steckte. Während ich die Schubladen wieder an ihren Platz brachte, stieß ich mit meinem Fuße an den Armleuchter und warf ihn um, sodaß die brennende Kerze herausfiel. Als die Flammen an den wurmstichigen Dielen des Fußbodens zu lecken begannen, kam mir der plötzliche Einfall, fortzueilen und das ganze Haus niederbrennen zu lassen. Aber ich tat es nicht. Ich trat die Flammen aus, und da ich mich nun in vollständiger Finsternis befand, so mußte ich mich an den Wänden die Treppe hinunter und zum Hause hinaus tasten. Ob ich die Bibliothek betrat, weiß ich nicht. Einige Gedächtnisirrtümer sind einem Manne, der so benommen war wie ich, wohl zu verzeihen.

Aber die Tatsache, über die Sie so leicht hinweggehen, ist von der äußersten Wichtigkeit, erwiderte der Major. Wir müssen durchaus wissen, ob Sie in diesem Zimmer waren oder nicht.

Ich kann mich nicht darauf entsinnen.

Dann können Sie uns also auch nicht sagen, ob der kleine Tisch mit dem Armleuchter hier stand oder –

Ich vermag Ihnen absolut nichts darüber mitzuteilen.

Der Major wandte sich jetzt nach einem langen Blicke auf den leidenden Mann an Fräulein Tuttle.

Sie müssen Ihre Schwester sehr geliebt haben, bemerkte er mit Nachdruck.

Sie errötete, und zum ersten Male fielen ihre Blicke auf Jeffreys Gesicht.

Ich liebte ihren Ruf, lautete die ruhige Antwort, und – Der Schluß des Satzes erstarb in ihrer Kehle.

Wir alle aber wußten, daß dieser Satz so lautete, wie er in ihrem Herzen endete: und ich liebte ihn, der dieses Opfer von mir verlangte.

Aber doch war ihr Verhalten nicht ganz klar.

Und um diesen Ruf zu retten, banden Sie ihr die Pistole an den Arm? fragte der Major.

Nein, entgegnete sie heftig. Ich wußte nicht, was ich ihr anband. Meine Zeugenaussage in dieser Hinsicht ist absolut wahr. Sie hielt die Pistole in den Falten ihres Kleides versteckt. Ich ließ es mir nicht im entferntesten träumen – ich hatte auch gar keine Veranlassung dazu – daß sie beabsichtigte, das grausige Verbrechen, zu dem sie sich bekannt hatte, auf diese Weise zu sühnen. Ihre Stimmung war zu heiter, zu leichtfertig – eine erheuchelte Stimmung, wie ich jetzt sehe, um allen Fragen vorzubeugen und alle Gefühlsäußerungen meinerseits zu verhindern. »Binde mir doch, bitte, diese Bandenden an mein Handgelenk fest,« lauteten ihre Worte. »Binde sie recht fest; einen Knoten unten und eine Schleife oben. Ich will ausgehen. Nein, sage mir nichts. Was du mir mitzuteilen hast, kann auf morgen verschoben werden. Noch einen Abend will ich lustig sein und mich gut unterhalten.« Sie lachte. Ich hielt sie für schrecklich hartherzig und vor unaussprechlichem Widerwillen zitterte ich so heftig, daß ich Mühe hatte, die Schleife zu knüpfen. Zu sprechen wäre mir überhaupt nicht möglich gewesen. Ebensowenig wagte ich es, ihr ins Gesicht zu sehen. Ich berührte ihre Hand, die – und sie hielt sie mir lachend hin – mit einem so hohlen Lachen, das einen so grausigen Entschluß verdecken sollte! Als sie sich umwandte, um mir jene letzte Bitte betreffs des Zettels vorzutragen, leuchtete ihr dieser Entschluß noch aus den Augen.

Und Sie hegten keinerlei Verdacht?

Keinen Augenblick. Ich ließ weder ihrem Elend noch ihrem Gewissen Gerechtigkeit widerfahren. Ich fürchte, ich habe sie überhaupt niemals richtig beurteilt. Ich hielt sie für leichtsinnig, vergnügungssüchtig. Ich wußte nicht, daß dies eine Maske war, hinter der sich ein schreckliches Geheimnis verbarg.

Dann hatten Sie keine Ahnung von der Ehe, die sie als Pensionsfräulein eingegangen war?

Nicht im geringsten. Ein anderes Mädchen, nicht ich, ist ihre Vertraute gewesen, ein Mädchen, das seitdem gestorben ist. Ich hatte keinerlei Mitteilung über ihre erste unglückliche Heirat erhalten, bis Herr Jeffrey jenen Dienstag früh mit ihrem furchtbaren Geständnis auf den Lippen in mein Zimmer stürzte.

Der Staatsanwalt, der über einen von dem Major übergangenen Punkt noch nähere Auskunft haben wollte, ergriff jetzt das Wort.

Sie erklären also, sagte er, daß Sie keine Ahnung davon hatten, daß Ihre einst so heitere und unbekümmerte Schwester einen Selbstmord plante, als sie von Ihnen ging?

Und ich wiederhole es, Herr Staatsanwalt, erwiderte sie.

Warum gingen Sie dann unmittelbar darauf an Herrn Jeffreys Schreibtisch, wo Sie doch nichts zu tun hatten, wenn es nicht geschah, um nachzusehen, ob sie seine Pistole mitgenommen habe?

Fräulein Tuttle senkte das Haupt, und eine tiefe Röte überstieg ihre vorher so bleichen Wangen.

Weil ich an ihn dachte. Weil ich für ihn bangte. Er hatte das Haus am Morgen zuvor in halb wahnsinnigem Zustande verlassen und war seitdem nicht zurückgekehrt, weder zum Schlafen noch zum Essen. Ich wußte nicht, was ein Mann, der in seinen heiligsten Gefühlen von Liebe und Ehre so tief verwundet war, versucht sein könnte zu tun. Ich dachte an Selbstmord. Ich erinnerte mich an das alte Haus und an seine Worte: »Ich glaube ihr nicht. Ich glaube es nicht, daß sie je so kalten Blutes eine solche Tat verübt hat oder daß sich ein so fürchterlicher Mechanismus in dem alten Hause befindet. Ich glaube es nicht eher, bis ich ihn selbst gesehen und gehandhabt habe. Es ist ein böser Traum, Cora. Wir sind wahnsinnig.« – Ich dachte daran, meine Herren, und als ich in das Zimmer meiner Schwester ging, um den Zettel an die von ihr gewünschte Stelle des Buches zu legen, ging ich an das Schubfach des Schreibtisches, um mich zu vergewissern, ob die Schlüssel zum Moorehause noch hier lägen. Ich wußte, daß sie hier in diesem Schubfache aufbewahrt lagen, denn ich befand mich in dem Zimmer, als sie nach der Hochzeit hineingelegt wurden. Ich war auch so kurzsichtig, daß ich annahm, daß, wenn sie nicht mehr da seien, er sie mitgenommen habe. Sie waren fort, und das war der Grund, weshalb ich sofort nach dem alten Gebäude in der Waverley-Avenue eilte. Ich war um Herrn Jeffrey besorgt. Ich fürchtete, ihn hier zu finden, entweder im Wahnsinn oder tot.

Aber Sie hatten doch keinen Schlüssel.

Nein. Herr Jeffrey hatte den einen an sich genommen und meine Schwester den anderen. Aber der Umstand, daß ich keinen Schlüssel besaß, konnte mich nicht veranlassen, zu Hause zu bleiben, nachdem ich einmal überzeugt war, daß er in dieses unheimliche Haus gegangen sei. Wenn ich nicht hinein konnte, konnte ich wenigstens an die Tür pochen oder die Nachbarn aufmerksam machen. Irgend etwas mußte geschehen. Ich wußte nicht, was; ich eilte nur fort.

Wußten Sie, daß zwei Schlüssel für das Haus vorhanden waren?

Damals noch nicht.

Aber Ihre Schwester wußte es?

Wahrscheinlich.

Und als Sie entdeckten, daß der einzige Schlüssel, wie Sie annahmen, fort war, eilten Sie sofort nach dem Moorehause?

Sofort.

Und was dann weiter?

Ich fand die Tür unverschlossen.

Dann hatte Frau Jeffrey sie offen gelassen?

Jawohl; aber ich dachte damals nicht an sie.

Und Sie traten ein?

Ja; es war alles dunkel, aber ich tastete mich weiter, bis ich zu den beiden vergoldeten Pfeilern gelangte.

Weshalb gingen Sie dorthin?

Weil ich fühlte – weil ich wußte, daß, wenn er überhaupt in diesem Hause wäre, er hier sein müßte.

Und warum gingen Sie nicht weiter?

Sie erhob ihre Stimme und rief angstbebend und schrill:

Sie wissen es, Sie wissen es. Ich hörte einen Pistolenschuß von innen, dann einen Fall. Ich erinnere mich an nichts weiter. Man sagt, ich sei durch die Straßen geirrt. Vielleicht tat ich es – ich weiß von nichts mehr, von gar nichts, als bis mir der Polizist sagte, meine Schwester sei tot, und ich zum ersten Male erfuhr, daß der Schuß, den ich in der Bibliothek hörte, nicht Herrn Jeffreys Leben endete, sondern das meiner Schwester.

Hätte ich meine volle Besinnung gehabt, als ich an der Bibliothektür stand, so wäre ich auf den Knall jenes Schusses hineingestürzt und hätte den letzten Atemzug meiner Schwester gehört.

Cora! Der Ausruf kam von Jeffreys Lippen und schien ganz unwillkürlich. Während der Wochen, in denen wir nicht miteinander haben sprechen können, habe ich all diese Ereignisse in meinem Geiste hin- und hergewälzt, bis ich nach einer Ruhepause verlangte, und sei es die im Grabe. Aber bei all meinem Nachdenken bin ich doch nie darauf gekommen, daß dies das Motiv zu Ihrem Besuche in diesem Hause gewesen sein könnte. Wollen Sie mir verzeihen?

Es lag ein ganz anderer Ton in seiner Stimme, ein Ton, den keine Frau ohne Bewegung mit anhören kann.

Sie hatten an anderes zu denken, erwiderte sie, und ihre Lippen zuckten.

Niemals habe ich auf einem menschlichen Antlitze einen schöneren Ausdruck gesehen, als ich ihn damals auf dem ihren erblickte; auch glaube ich nicht, daß es Jeffrey anders erging, denn als er ihn bemerkte, wurde sein eigener Blick weich, fast zärtlich. Der Major hatte jedoch keine Zeit für Sentimentalitäten. Er wandte sich an Jeffrey und sagte zu ihm:

Noch eine Frage, ehe wir den Brief holen lassen, der uns, wie Sie sagen, volle Einsicht in das Verbrechen Ihrer Frau gewähren wird. Erinnern Sie sich daran, was sich auf der Brücke von Georgetown zutrug, kurz bevor Sie an jenem Abend in die Stadt zurückkehrten?

Er schüttelte den Kopf.

Sind Sie irgend jemand dort begegnet?

Ich weiß es nicht.

Können Sie sich entsinnen, in welcher Geistesverfassung Sie damals waren?

Ich faßte die Zukunft ins Auge.

Und was erblickten Sie in der Zukunft?

Den Tod. Den Tod für sie und den Tod für mich! Ein Verbrechen lastete auf ihrer Seele, und sie mußte sterben, und starb sie, so mußte ich ihr folgen. Ich sah keinen anderen Ausweg. Ich konnte nicht auf die Polizei gehen, meine mir vor vierzehn Tagen angetraute Gattin anzeigen und sie mit der Erklärung, sie sei des Mordes an einem Manne schuldig, kalten Blutes der Gerechtigkeit überliefern. Da ich das Geheimnis ihrer Schuld kannte, vermochte ich weder an ihrer Seite, noch, mit diesem gräßlichen Bewußtsein im Herzen, irgend wo anders in der weiten Welt weiterzuleben. Daher wollte ich mich töten, ehe die Sonne wieder aufging. Aber sie war durch ihr Schuldbewußtsein stärker zu Boden gedrückt, als ich glaubte. Als ich nach Hause zurückkehrte, um mir die Pistole zu holen, die unser beider Elend beenden sollte, fand ich, daß sie ihre Bestrafung selbst in die Hand genommen hatte. Dies berührte mich seltsam; als ich jedoch entdeckte, daß sie daran gedacht hatte, daß ich nach ihrem Hingange der Welt gegenübertreten müsse, und mir daher ein paar Zeilen hinterlassen hatte, die ich vorzeigen konnte, um ihre Tat begreiflich zu machen, da schlug meine Entrüstung gegen sie in ganz andere Gefühle um, die sich noch steigerten, als ich ihren Brief las. Aber die Zeilen, die sie schrieb, enthielten nicht die Wahrheit. Ihr ganzes Herz gehörte mir, und wenn es ein verderbtes Herz war, so hat sie gesühnt –

Er schwieg, von seinen Empfindungen übermannt. Auch wir waren erschüttert, aber nur auf die Dauer eines Augenblicks. Die folgende Bemerkung des Staatsanwalts rief uns bald wieder zu der nüchternen Betrachtung der Tatsachen zurück.

Sie haben viele Punkte aufgeklärt, die bisher unverständlich waren. Aber es gibt noch einen sehr wichtigen Umstand, den weder Sie noch Fräulein Tuttle erklärt haben. Auf dem Schauplatze des Selbstmordes war eine Kerze vorhanden, die ausgelöscht war, als dieser Beamte hier anlangte. Auch in dem Zimmer des ersten Stockes hatte außer der von Ihnen bei Ihrem Besichtigungsgange eingestandenermaßen benutzten Kerze noch eine andere gebrannt. Woher kamen diese Kerzen? Und hat Ihre Frau die in der Bibliothek befindliche selbst ausgelöscht, bevor sie den Schuß abfeuerte, oder ist sie später und von anderen Lippen gelöscht worden?

Dies sind Fragen, die ich, wie ich schon gesagt habe, schlechterdings nicht beantworten kann, wiederholte Jeffrey. Da sie den Mut besessen hat, hierherzukommen, so kann sie sich auch mit Licht versehen haben, und so schwer begreiflich es auch sein mag, so kann sie doch soviel Kraft gefunden haben, das Licht zu löschen, bevor sie die Pistole auf ihre Brust richtete.

Der Staatsanwalt und der Major sahen unbefriedigt aus; der letztere wandte sich an Fräulein Tuttle und fragte, ob sie hierzu etwas zu bemerken habe.

Sie konnte jedoch nur Jeffreys Aussage wiederholen.

Dies sind Fragen, die ich nicht zu beantworten vermag. Ich habe erklärt, daß ich an der Bibliothekstür stehen geblieben bin, mit anderen Worten, daß ich nichts von dem gesehen habe, was drinnen vorgegangen ist.

Nunmehr fragte der Major, wo Frau Jeffreys Brief zu finden sei. Jeffrey erwiderte:

Lassen Sie in meinem Zimmer nach einem Buche suchen, das außen noch einen Papierumschlag hat. Es wird wahrscheinlich auf dem Tische liegen. Es ist rot eingebunden. Lassen Sie das Buch herbringen. Unser Geheimnis ruht in ihm verborgen.

Durbin ging, um diesen Auftrag auszuführen. Ich folgte ihm bis zur Tür, hielt es aber nicht für nötig, ihm mitzuteilen, daß ich bei meinem zweiten Besuche, den ich in der Begleitung des Coroners in Jeffreys Zimmer abgestattet hatte, das Buch auf dem Tische hatte liegen sehen. Der Gedanke, daß ich nur meine Hand hätte auszustrecken brauchen, um so viele Wochen vorher in den Besitz des Geheimnisses dieses Mannes zu gelangen, hatte etwas ungemein Demütigendes für mich.


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