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Fünfzehntes Kapitel

An jenem Abend hatte ich viel zu denken. Ich erinnerte mich, daß der betreffende junge Mann mit Herrn und Frau Jeffrey vor ihrer Abfahrt vom Moorehause am Wagenschlage eine Unterredung gehabt hatte, und mußte zu der Ueberzeugung gelangen, daß nur eine für beide Teile wichtige Angelegenheit sie in dieser Stunde zum Verweilen veranlaßt haben könne. Ach, wenn nur Tampa nicht so entlegen gewesen oder ich eher auf diese Spur gekommen wäre! Aber an eine Reise nach Tampa war in diesem Augenblick gar nicht zu denken, und ich konnte zu meinen Schlußfolgerungen nur die Tatsachen benutzen, die ich in Washington selbst festzustellen vermochte.

Zunächst faßte ich nun Frau Jeffrey ins Auge und fragte mich nach der Ursache der vielen sonderbaren Launen, die ihr Verhalten am Hochzeitsmorgen gekennzeichnet hatten. Warum hatte sie darauf bestanden, sich allein anzukleiden, und was hatte sie so in Anspruch genommen, daß sie alle Zurufe an der Tür unbeachtet ließ, und zwar zu einer Stunde, in der man annehmen müßte, daß eine Frau doppelt zuvorkommend sei? Aber eine Antwort bot sich von selbst dar. Ihr Herz hatte an ihrer Hochzeit keinen Anteil, und jene letzte Stunde ihres Mädchenlebens war eine Stunde der Pein und des inneren Zwiespaltes gewesen. Vielleicht war ihr nicht nur Francis Jeffrey gleichgültig, sondern sie liebte einen anderen Mann. Dies war unwahrscheinlich, aber es sind schon ebenso seltsame Dinge bei unseren gesellschaftlichen Zuständen vorgekommen, und die Phantasie einer Frau ist unberechenbar. Wenn dem so war – und welche andere Erklärung würde besser oder ebensogut zu ihrem eigentümlichen Verhalten sowohl damals wie später passen? Die Stunde, die von Bräuten gewöhnlich dem Putz und froher Erwartung gewidmet wird, war für sie eine des Abschiednehmens von vergangenen Hoffnungen und einer unglücklichen, vielleicht gar leidenschaftlichen Neigung. Kein Wunder, daß sie allein zu bleiben wünschte. Kein Wunder, daß sie über jede Störung ärgerlich war. Vielleicht hatte sie gerade auf ihren Knien gelegen. Vielleicht – hier fühlte ich mich von einer starken, seltsamen Erregung ergriffen. Ich erinnerte mich der Feilspäne, die ich von dem kleinen Tischchen am Fenster zusammengefegt hatte, Feilspäne, die geglänzt hatten und von Gold gewesen sein mußten. Was war die Folgerung daraus? In dieser letzten Stunde ihrer Mädchenzeit hatte sie sich von einem Schmuckstück zu trennen gesucht, das sie nicht mit in ihr neues Leben hinübernehmen wollte. Was konnte dies für ein Schmuckstück sein? In Anbetracht der Umstände und der Stunde war es nur möglich, an eins zu denken – einen Ring, das Symbol einer alten Neigung.

Die leichte Abschürfung an ihrem Goldfinger, die als die Folge des allzu gewaltsamen und raschen Abziehens ihres Trauringes am Abend ihres Todes betrachtet worden war, konnte viel wahrscheinlicher durch das Wiederaufreißen einer kleinen, vor vierzehn Tagen durch die Feile veranlaßten Wunde entstanden sein.

Für mich waren diese Feilspäne ein bedeutsamer Fingerzeig. Ich ließ mir die Ringe geben, die Frau Jeffrey an dem Abend zurückgelassen hatte, als sie zum letzten Male nach dem Moorehause ging, betrachtete sie sorgfältig und fand an keinem auch nur die leiseste Spur einer Feile. Dies bestärkte mich in meiner Meinung, und ich unternahm meinen nächsten Schritt mit erhöhter Zuversicht. Er erschien mir leicht, bot aber unerwartete Schwierigkeiten. Ich wünschte mich zu vergewissern, ob Frau Jeffrey vor ihrer Verheiratung irgendwelche Ringe getragen habe, die man dann nicht mehr an ihrem Finger erblickte, und es dauerte eine ganze Woche, ehe ich in Erfahrung brachte, daß dies allerdings der Fall gewesen war.

Als diese Tatsache feststand, lag der einzuschlagende Weg klar vor mir. Ich ließ meiner Phantasie die Zügel schießen und malte mir ihre erregte Gestalt aus, wie sie allein in jenem altertümlichen, gespenstischen Zimmer stand und den alten Ring von ihrem zarten Finger abfeilte. Dann fragte ich mich, was sie wohl mit diesem Ringe getan haben könne, nachdem sie ihn von ihrem Finger entfernt hatte. Hatte sie ihn behalten? Möglicherweise; war das aber der Fall, warum hatte er sich nicht auffinden lassen? Oder hatte sie ihn weggeworfen, und wenn diese Vermutung richtig war, wohin? Die Vision von ihr, die ich soeben mit meines Geistes Auge erblickt hatte, wurde mit einem Male so klar, daß ich die weißgekleidete Gestalt der Braut so deutlich, als ob ich zugegen gewesen wäre, unterscheiden konnte, wie sie sich gegen das Licht vorbeugte, das spärlich durch den halbgeöffneten Laden drang, den sie zu diesem Zwecke gelockert hatte. Dies war derselbe Laden, der seitdem nie wieder festgemacht worden war, und dessen unaufhörliches Hin- und Herschlagen zuerst die Aufmerksamkeit auf dieses Haus und die darin liegende Leiche gelenkt hatte, die sonst vielleicht wer weiß wie lange Zeit nicht entdeckt worden wäre. Hatte ein Schimmer des hohen, unter diesem Fenster wachsenden Grases ihr Auge getroffen und sie veranlaßt, den Ring, den sie nicht länger ein Recht hatte, zu behalten, fortzuwerfen? Einer Frau wäre eine solche impulsive Handlung wohl zuzutrauen, und auf diese Möglichkeit hin faßte ich den Entschluß, diesen kleinen Platz zu durchsuchen, um vielleicht den vermißten Ring zu finden.

Aber ich wünschte dies nicht offen zu tun. Ich trug Bedenken, den Verdacht des alten Moore zu erregen, dessen Interesse an dem ihm vor so kurzer Zeit zugefallenen Besitztum ihn in sehr gereizte Stimmung gegen jeden Eindringling versetzte.

Das Unternehmen hatte daher seine Schwierigkeiten. Aber diese mußten eben überwunden werden, und binnen kurzem hatte ich mir einen Plan zurechtgelegt, nach dem jeder Grashalm auf dem schmalen, vor der Front des Hauses sich hinziehenden Rasenstreifen untersucht werden konnte, ohne etwas anderes als höchstens Onkel Davids Zorn rege zu machen.

Ich rief eine Schar Straßenjungen zusammen und versprach ihnen allen zusammen ein gutes Abendbrot, wenn einer von ihnen mir die Stücke eines zerbrochenen Ringes brächte, den ich auf dem Rasenplatz vor einem Hause verloren hätte, vor dem ich die ganze Nacht Wache gestanden. Damit sie sich das Abendbrot in möglichst kurzer Zeit verdienen könnten, ehe der Eigentümer des Hauses, der gegenüber wohne, darauf aufmerksam würde, riet ich ihnen, in einer langen Reihe am Gitter anzufangen und auf den Knien weiterrutschend den Boden Schritt für Schritt ganz genau zu untersuchen. Der Glückliche, der den Ring fände, sollte die Vergünstigung haben, das Menu zu bestimmen.

Dies war ein Plan, der so recht nach dem Geschmacke eines Straßenjungen war, und ich fürchtete nur, daß er an der übermäßigen Begeisterung, die er erregte, scheitern könne. Aber die Anweisungen, die ich ihnen gab, die Sträucher zu schonen und das Gras nicht mehr niederzutreten, als unumgänglich notwendig war, lauteten so eindringlich, daß sie sich ganz gegen Erwarten in musterhafter Ordnung an ihre Arbeit machten.

Ich hatte die Zeit gewählt, in der der alte Moore seine Nachmittagsspazierfahrt zu unternehmen pflegte, und so blieben wir ungestört. Nichtsdestoweniger hielt ich mich abseits, um meine Zugehörigkeit zu den Knaben nicht zu verraten. Ich sollte nicht allzulange zu warten haben, denn schon nach Verlauf von zehn Minuten erhob sich ein lautes Geschrei, und wie von Sinnen stürmte die Schar von fünfzehn bis zwanzig Knaben auf mich zu, während sie dem an der Spitze befindlichen Jungen unaufhörlich nachriefen:

Junge Hühnchen und eine Schüssel voll Eiscreme und Pfannkuchen.

Wir haben ihn, wir haben ihn, riefen sie mir dann zu und umdrängten mich. Zum Glück lag das Haus, wie sich der Leser erinnern wird, in einer völlig menschenleeren Gegend, sodaß sich der ganze Vorfall unbemerkt abspielte.


Als ich den Ring in der Hand hielt, hätte ich mit keinem Menschen auf der Erde getauscht. Es war ein einfacher goldener Reif, mit einem einzigen kleinen Rubin besetzt. Er war durchgeschnitten und auseinandergebogen, wie ich vermutet hatte, und als ich ihn betrachtete, sann ich darüber nach, welche Rolle er wohl in dem Drama von Veronika Jeffreys geheimnisvollem Leben und noch geheimnisvollerem Tode gespielt hatte und noch spielen würde. Daß er ein Faktor von einiger Bedeutung sei, ein Andenken an eine erste Schulmädchenliebe, konnte ich daraus entnehmen, daß seine Entfernung vom Finger so im geheimen und in solcher Hast erfolgt war. Auf welche Weise konnte ich die Geschichte dieses Ringes und den möglichen Zusammenhang zwischen ihm und Jeffreys offenkundiger Eifersucht auf seine Frau und den getrübten Flitterwochen, die auf ihre Hochzeit folgten, in Erfahrung bringen? Daß ihn dies Gefühl schon vor dem Botschafterball beherrschte, konnte keinem Zweifel unterliegen; aber daß es bis zum Hochzeitstage selbst zurückreichen könne, war eine neue Idee von mir und gab manche Möglichkeiten an die Hand. Ließ sich diese Idee auf ihre Richtigkeit hin prüfen und auf welche Weise? Nur ein Weg stand dazu offen. Der Kellner, der in so auffallender Weise unmittelbar nach der Hochzeit verschwunden war, konnte uns möglicherweise über diesen wichtigen Punkt Auskunft geben. Er war der Ueberbringer der Bestellungen gewesen, die zwischen den beiden Brautleuten vor der Trauung gewechselt worden waren, später hatte man ihn in eifrigem Gespräche mit Jeffrey und noch später mit der jungvermählten Frau gesehen. Unzweifelhaft würde es uns das Verständnis der Situation erleichtern, wenn wir wüßten, was für eine Antwort sie auf die dringende Bestellung, die ihr zu so ungewöhnlicher Zeit zugegangen war, zurückgesandt habe – ein Verständnis, das von solchem Werte war, daß es unbedingt eine Reise nach Tampa verlohnen würde. Und doch, falls die Ergebnisse unbefriedigend ausfielen, welch riesiger Verlust an Zeit und Geld! In dieser schwierigen Lage fühlte ich so recht das Bedürfnis einer Aussprache mit einem zugleich erfahrenen und mir wohlwollenden Manne. Aber mein verwünschter Stolz stand mir dabei hindernd im Wege.

Seit der Verhandlung vor dem Coroner war nun eine Woche vergangen, und obgleich sich Fräulein Tuttle noch auf freiem Fuße befand, war es doch eine beschränkte Freiheit, deren sie sich erfreute, und die höchst verbitternd auf sie einwirken mußte. Sie fuhr und ging aus, durfte aber ohne Begleitung kein Haus betreten, und jeder Verkehr mit Jeffrey war ihr untersagt. Nichtsdestoweniger sah sie ihn oder gab ihm wenigstens Gelegenheit, sie zu sehen. Jeden Tag fuhr sie um drei Uhr durch die K.-Straße, und der Detektiv, der Jeffreys Haus bewachte, erzählte, daß sie nie vorüberfuhr, ohne ihr Gesicht nach dem Fenster im zweiten Stock emporzurichten, an dem er regelmäßig stand. Es wurden keine Zeichen zwischen ihnen gewechselt; in der Tat nickten sie kaum einander zu, aber wenn sie ihre Augen emporhob, um den seinen zu begegnen, so zeigte sie eine so strahlende Heiterkeit und sah so schön aus, daß jener Detektiv den Wunsch hegte, sich zu überzeugen, ob sie diese Haltung auch beibehielte, wenn sie außer dem Bereich der Blicke ihres Schwagers war. Demgemäß überließ er am nächsten Tage seinen Platz einem Kollegen und stellte sich etwas weiter die Straße hinab auf. Ach, es waren nicht dieselben Züge, die er hier erblickte; es war ein ganz verändertes und weit traurigeres Gesicht. Sie nahm diese zuversichtliche und hoffnungsfrohe Miene nur an, wenn sie an Jeffreys Hause vorüberfuhr. War es einfach der Ausdruck ihrer heimlichen Neigung zu ihm oder das Ergebnis einer zwischen ihnen geschlossenen Uebereinkunft?

Was es auch sein mochte, ihr Kummer rührte mein Herz, selbst in der Schilderung des Detektivs. Ich begab mich zum Polizeimajor und legte diesem rückhaltslos die Sache dar.

Am nächsten Tage befand ich mich auf der Reise nach Tampa mit vollgültiger Autorisation, Curly Jim zu folgen, bis ich ihn fände.


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