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Einundzwanzigstes Kapitel

Ich begab mich bis zur Haustür, kehrte aber sofort wieder um, zog den Major beiseite und flüsterte ihm eine Bitte zu, worauf er mir einen kleinen Gegenstand einhändigte. Danach ging ich gemächlich hinaus auf die Rampe, gerade zur rechten Zeit, um dem mürrischen alten Herrn Moore zu begegnen, der, sauber gekleidet, eben von der anderen Seite der Straße herübergekommen war.

Ah, sagte ich. Guten Morgen! und machte ihm meine höflichste Verbeugung.

Er starrte mich an, und Rudge, der sich an seinem gewöhnlichen Platze an dem Rande des Trottoirs aufhielt, tat dasselbe. Augenscheinlich stand die Polizei heute morgen bei den Bewohnern des Landhauses nicht in besonderer Gunst.

Wann werden denn diese Belästigungen endlich aufhören? fragte er kurz angebunden. Wann nimmt dieses Eindringen in das Eigentum eines ehrlichen Mannes ein Ende? Ich wache leichten Herzens auf, in der Erwartung, daß mein Haus, das mir unzweifelhaft mit demselben Rechte gehört wie jedem anderen Bürger von Washington das seine, mir heute endlich zum Bewohnen übergeben werde, und was sehe ich? Einen Polizeibeamten, der zur Tür hinausgeht, und einen anderen, der sich im Vestibül sonnt. Wie viele von Ihnen sonst noch drin sind, wage ich gar nicht zu fragen. Ein halbes Dutzend mindestens, und kein einziger von Ihnen ist schlau genug, die Sache beim richtigen Ende anzufassen und zum Abschluß zu bringen.

Ah, davon weiß ich nichts, erwiderte ich schleppend und steckte eine äußerst weise Miene auf.

Seine Neugier war wach geworden.

Etwas Neues? fragte er rasch.

Möglich! entgegnete ich in einem Tone, der einen Heiligen hätte rasend machen können.

Er trat unter den Torbogen dicht neben mich. Ich tat so, als bemerkte ich es nicht, und beschäftigte mich damit, Rudge zu betrachten.

Wissen Sie, sagte ich nach einer Pause, die ich für genügend erachtete, um ein unbehagliches Gefühl der Spannung in ihm zu erregen, daß ich eine größere Hochachtung als je für diesen Hund besitze, seitdem ich den Grund kenne, weshalb er die Straße nicht überschreiten will?

Ha, was ist das? rief er aus und warf einen raschen Blick hinter sich auf das wachsame Tier, das ihn nicht aus den Augen ließ, während es mit der Nase über dem Rinnstein lag.

Der Hund sieht weiter als wir. Seine Augen durchdringen Wände und Türen, bemerkte ich. Dann zog ich nachlässig und mit kalter Ruhe ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus meiner Tasche, hielt es ihm hin und fuhr fort: Beiläufig, hier ist etwas, was Ihnen gehört.

Er erhob unwillkürlich die Hand um das Papier in Empfang zu nehmen; dann ließ er sie wieder sinken.

Ich weiß nicht, was Sie meinen, versetzte er. Sie haben nichts, was mir gehören könnte.

Nicht? Dann muß John Judson Moore noch einen anderen Bruder gehabt haben. Und ich schob das Papier in meine Tasche zurück.

Er verfolgte es mit seinen Blicken. Es war die Aufzeichnung, die ich in dem Memoirenbande in der Bibliothek gefunden hatte. Er erkannte sie als sein Eigentum und sah, daß auch ich sie dafür hielt. Aber er gab sich nicht gefangen.

Sie haben ein großes Geschick im Durchstöbern, bemerkte er; nur schade, daß es so gar keinen Zweck hat.

Ich lächelte und nahm einen neuen Anlauf. Ich steckte meine Hand wieder in die Tasche und sagte mit einem flüchtigen Blick auf den alten Mann:

Ich fürchte, Sie tun der Polizei unrecht. Wir sind nicht so dumm, wie wir aussehen; auch vergeuden wir nicht soviel Zeit nutzlos, wie Sie zu glauben scheinen. Dabei zog ich meine Hand, in der ich das kleine Filigranmedaillon hielt, heraus und wirbelte es mit unschuldiger Miene an meinem Finger in der Luft herum. Als es an ihm vorbeiflog, warf ich ihm einen durchdringenden Blick zu.

Er versuchte gleichgültig auszusehen, und zwar mit Erfolg; das muß ich ihm lassen. Aber auf die Dauer war es eine zu harte Probe, auf die seine Neugier gestellt wurde, und es war unmöglich, das rasche Aufleuchten seines Auges mißzuverstehen, als er den Schmuckgegenstand dicht vor sich sah, den er noch einen Moment zuvor wahrscheinlich als für immer verloren betrachtet hatte.

Zum Beispiel, fuhr ich fort, indem ich ihn verstohlen beobachtete, obgleich ich auf den ersten Blick sah, daß er nicht mehr von dem Geheimnis des kleinen Medaillons wußte als damals, als er die Aufzeichnungen niederschrieb, die ich vor seinen Augen soeben in die Tasche gesteckt hatte, ein kleines Ding, ungefähr wie das hier – hierbei gab ich dem Medaillon einen neuen Schwung – kann zu Entdeckungen führen, wie sie eine gewöhnliche Untersuchung nicht in Jahren zeitigt. Ich sage nicht, daß es zu solchen Entdeckungen geführt hat, aber es ist möglich, wie Sie selbst am besten wissen werden.

Mein Gleichmut war zuviel für ihn. Er betrachtete mich mit schlecht verhehltem Unwillen und bemerkte trocken:

Sie haben günstigere Gelegenheiten gehabt als ich, sogar in betreff der Sachen, die mir gehören. Dies kleine Schmuckstück, mit dem Sie sich vor mir so brüsten und dessen Wert ich durchaus nicht beurteilen kann, da ich es nie in der Hand gehabt habe, ist mit dem Reste von Frau Jeffreys Eigentum auf mich übergegangen. Ihr Verhalten erscheint mir daher als Dreistigkeit, namentlich da man wohl niemand finden wird, der ein stärkeres Interesse als ich an dem Medaillon hat, das seit Jahren als Familientalisman betrachtet worden ist.

Ah, bemerkte ich. Sie bekennen sich also zu der Niederschrift. Sie wurde an Ort und Stelle angefertigt, aber ohne Hilfe des Talismans.

Ich bekenne mich zu nichts, fiel er rasch ein. Dann sah er wohl ein, daß ein Leugnen in dieser Hinsicht verhängnisvoll werden könne, und fügte freundlich hinzu: Was verstehen Sie unter der Bezeichnung Niederschrift? Wenn Sie jene zusammenfassende Uebersicht über Geheimnisse aus alter Zeit und die sie begleitenden Umstände meinen, mit deren Anfertigung ich mir einst eine müßige Stunde vertrieben habe, so bekenne ich mich natürlich zu ihr. Warum auch nicht? Jene Neugier ist noch nicht gestillt. Wenn es nicht indiskret wäre, möchte ich Sie nun fragen, ob Sie herausgefunden haben, wozu dies kleine goldene Medaillon, das mir gehört, und mit dem Sie so ungeniert vor meinen Augen herumspielen, zu gebrauchen ist.

Lesen Sie die Zeitungen, erwiderte ich; lesen Sie die Morgenzeitungen, Herr Moore, oder noch besser die Abendzeitungen. Vielleicht erfahren Sie aus ihnen das Nötige.

Er war ungehalten, wie ich es erwartet hatte, da aber sein Unmut bewies, daß er mehr von Neugier als Furcht beherrscht war, fühlte ich festen Boden unter meinen Füßen und kehrte ins Haus zurück. Der alte Moore begleitete mich nicht.

 

Der Major stand noch im Hausflur. Die anderen hatten sich offenbar in den Salon zurückgezogen.

Der Mann weiß sein Teil, sagte ich; aber er hat keine Ahnung von den das Bild im südwestlichen Zimmer oder den teuflischen Mechanismus betreffenden Tatsachen.

Sind Sie dessen sicher?

So sicher, wie jemand bei meinem Mangel an Erfahrung sein kann. Aber, Herr Major, ich bin ebenso fest davon überzeugt, daß er über Frau Jeffreys Tod mehr weiß, als für ihn gut ist. Ich gehe sogar soweit, zu behaupten, daß er meiner Meinung nach zu derselben Zeit im Hause war, als sich der Selbstmord ereignete.

Hat er dies eingestanden?

Keineswegs.

Was haben Sie dann für Gründe für diese Annahme?

Vielerlei.

Wollen Sie mir sie nennen?

Gern, wenn Sie meine Kühnheit verzeihen wollen. Einige von meinen Schlußfolgerungen können für Sie nicht neu sein. Die Wahrheit ist, daß ich vielleicht mehr von dem alten Manne gesehen habe, als meine Pflicht erheischte, und ich fühle mich sehr wohl in der Lage, zu erklären, daß er mehr von den Ereignissen in diesem Hause weiß, als er einräumen will. Ich bin sicher, er hat es oft heimlicherweise besucht und kennt ein gewisses zerbrochenes Fenster ebensogut wie wir. Ebenso bin ich überzeugt, daß er an dem Abend von Frau Jeffreys Selbstmord hier gewesen ist. Er zeigte damals zu wenig Ueberraschung, als ich ihm das Geschehnis mitteilte, als daß er nicht schon vorher im geheimen Kunde davon gehabt haben sollte, selbst wenn wir nicht das Zeugnis der angezündeten Kerze und des so eilig wieder an seinen Platz gestellten Buches hätten. Außerdem ist er nicht der Mann, der sich aus einem so einfachen Grunde wie dem, den er uns angegeben hat, so spät abends aus seinem Hause bemüht. Er wußte, was wir in diesem Hause hier finden würden.

Sehr gut. Wenn Herrn Jeffreys jetzige Erklärungen wahr sind, so sind Ihre Schlußfolgerungen vermutlich richtig. Aber Herr Moore hat ganz bestimmt geleugnet. Ich fürchte, die Sache wird einfach darauf hinauslaufen, wem wir Glauben schenken wollen.

Nicht unbedingt, erwiderte ich. Ich glaube einen Weg vor mir zu sehen, Herrn Moore zu dem Geständnis zu zwingen, daß er an jenem verhängnisvollen Abend in diesem Hause oder in seiner Nähe gewesen ist.

Meinen Sie?

Jawohl, Herr Major; ich will mich nicht rühmen, und ich würde Ihnen dankbar sein, wenn Sie mich nicht nötigten, Ihnen das Mittel zu nennen, mit dessen Hilfe ich dies herauszubringen hoffe. Nur gestatten Sie mir, eine Anzeige sowohl in die Abend- wie die Morgenzeitungen einrücken zu lassen, und in zwei Tagen werde ich Ihnen dann melden, ob mir mein Plan gelungen ist oder nicht.

Der Major sah mich mit einem Interesse an, das mir das Herz höher schlagen machte. Dann sagte er rasch: Sie haben diese Erlaubnis verdient; ich will Ihnen zwei Tage Frist geben.

In diesem Augenblick erschien Durbin. Als ich sein Klopfen hörte und ihm die Haustür öffnen wollte, warf ich dem Major einen beredten Blick zu. Er lächelte und winkte mir freundlich mit der Hand zu. Das Verhältnis zwischen Durbin und mir war ihm augenscheinlich wohlbekannt.

Mein Nebenbuhler trat mit heiterer Miene ein, die sich aber veränderte, als er mich in so vertraulicher Unterredung mit dem Chef sah.

Er hatte das Buch in der Tasche. Er zog es heraus und überreichte es dem Major mit der Bemerkung:

Sie werden nichts darin finden. Herr Jeffrey hat sich einen Scherz mit Ihnen erlaubt.

Der Major öffnete das Buch, schüttelte es, sah unter den Umschlag, fand nichts und ging hastig nach dem Salon. Wir folgten ihm ebenso eilig. Der Staatsanwalt sprach gerade mit Fräulein Tuttle, Herr Jeffrey ging nervös im Zimmer auf und ab. Er blieb stehen, als wir eintraten, und seine Augen hefteten sich auf das Buch.

Bitte zeigen Sie es mir, begann er.

Es ist absolut leer, bemerkte der Major. Der Brief ist daraus entfernt worden, wahrscheinlich ohne Ihr Wissen.

Ich glaube nicht, lautete Jeffreys unerwartete Entgegnung. Glauben Sie, ich würde ein Geheimnis, für dessen Bewahrung ich Leben und Ehre aufs Spiel zu setzen bereit war, den offenen Seiten eines Buches anvertrauen? Als ich mich von polizeilichen Besuchen aller Art bedroht fand und jeden Augenblick gewärtigen mußte, daß meine Sachen durchforscht würden, so suchte ich ein Versteck für diesen Brief, das niemand mit seinen natürlichen Sinnen entdecken könnte.

Er riß die äußere Umhüllung ab, steckte die Spitze seines Taschenmessers unter die eine Ecke des über die Innenseite des Einbands geklebten Papiers und schnitt dieses mit einem Ruck auf.

Ich habe es selbst hier befestigt, rief er aus und zeigte uns, wie zwischen diesem Papier und dem Pappdeckel in einer eigens dazu ausgehöhlten Vertiefung eine Anzahl zusammengefalteter Bogen lag, die er mit einem tiefen Seufzer dem Major zum Durchlesen überreichte. Dabei bemerkte er:

Ich wäre lieber jeden natürlichen Tod gestorben, als daß ich das Geheimnis meines unglücklichen Weibes preisgegeben hätte. Aber da das Verbrechen nun einmal an den Tag gekommen ist, so kann diese Geschichte ihrer Verfehlung und ihrer Reue vielleicht dazu dienen, die öffentliche Meinung einigermaßen zu besänftigen. Sie hatte mit einer schweren Versuchung zu kämpfen und ist unterlegen; die verbrecherische Neigung ihrer Vorfahren lag ihr im Blute.

Er ging wieder auf und ab. Der Major entfaltete die Bogen.


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