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Achtzehntes Kapitel

Am nächsten Morgen bezähmte ich meinen Stolz und suchte meinen Freund Durbin auf, der die Entfernung der Effekten von Frau Jeffrey aus dem südwestlichen Zimmer überwacht hatte und der vor allen andern wissen mußte, wo sich dieses Filigranmedaillon jetzt befand. Ohne Zweifel war es mit den anderen Gegenständen in Jeffreys Haus zurückgebracht worden, und doch, wer weiß? Durbin ist schlau, und es mochte vielleicht irgend eine Ahnung von der Bedeutung des Schmuckstückes als eines Anhaltspunkts in ihm aufgestiegen sein. War dem so, so befand es sich sicher wo anders als in Jeffreys oder Fräulein Tuttles Besitz.

Um meinen Kollegen in bezug auf seine Kenntnis von diesem anscheinend geringfügigen Gegenstand und sein Interesse an ihm auf die Probe zu stellen, nahm ich meine Zuflucht zu einer, wie es mir scheinen will, sehr verzeihlichen Notlüge. Ich begrüßte ihn in der unbefangensten Weise, die unmöglich einen Verdacht bei ihm erregen konnte, und erklärte ihm, ich hätte eine wichtige Entdeckung in Betreff des Jeffreyschen Falles gemacht, und der Schlüssel zu diesem läge in einem kleinen goldenen Medaillon, das Frau Jeffrey mitunter getragen und auf das sie großen Wert gelegt habe. Soweit blieb ich bei der Wahrheit. Es sei ihr von jemandem geschenkt worden, nicht von Herrn Jeffrey, und ich glaubte, obgleich ich es nicht wüßte, daß es ein Miniaturporträt enthielte, das kennen zu lernen für uns von Vorteil sein könnte.

Ich erwartete ein spöttisches Kräuseln seiner Lippen; aber sonderbarerweise behielt er seinen harmlosen Gesichtsausdruck bei, obgleich ich überzeugt bin, daß ich einen leichten, ganz leichten Schimmer von Neugier für einen Moment in seinem großen grauen Auge wahrnahm.

Sie befinden sich auf einer phantastischen Fährte, sagte er höhnisch, und das war alles.

Allein ich hatte nicht mehr erwartet. Ich hatte nur zu erfahren gewünscht, welche Rolle dieser Filigranschmuck in seiner Auffassung der Sachlage spielte, wenn er überhaupt für ihn in Betracht kam, und falls er ihn übersehen hätte, seine Neugier rege zu machen, damit er vielleicht in irgend einer Weise den jetzigen Aufbewahrungsort des Schmuckstücks verrate.

Daß das Medaillon trotz all seiner anscheinenden Unwichtigkeit eine Rolle bei ihm spielte, war für jeden, der ihn kannte, klar; aber ich mußte mich auch sehr bald davon überzeugen, daß er für seine Person keine Ahnung hatte, wo es sich augenblicklich befand, sonst würde er nach dem Wink, den ich ihm gegeben hatte, unter keinen Umständen eine halbe Stunde zwecklos mit mir verplaudert haben. Was war nun zu tun? Sollte ich meine Geschichte dem Major erzählen und es ihm überlassen, die Sache zum Abschluß zu bringen? Mein Stolz flüsterte mir zu: Noch nicht! Durbin hält dich für einen Narren. Warte also, bis du volle Aufklärung geben kannst, ehe du deine Karten aufdeckst. Aber es fiel mir schwer, meine Erregung zu verbergen und den Narren zu spielen, für den meine Kollegen mich hielten, wenn sie mich mit diesem berühmten goldenen Schmuckstück aufzogen und fragten, was mein nächtlicher Aufenthalt im Moorehause für Resultate gezeitigt habe. Aber ich erinnerte mich an das Sprichwort: Wer zuletzt lacht, lacht am besten, sowie daran, daß die Partie zwischen Durbin und mir noch nicht zu Ende war, und war daher imstande, meine unbefangene Haltung zu bewahren. Ich fand mich reichlich belohnt, als einer meiner Kollegen, der es sorgfältig vermieden hatte, mich zu foppen, mir eines Tages die folgende Mitteilung machte:

Ich weiß nicht, welcher Art das Interesse ist, das Sie an dem kleinen Schmuckstücke nehmen, von dem Sie sprechen, aber Sie haben in dem Falle Jeffrey schon viel erreicht, und ich trage kein Bedenken, Ihnen mitzuteilen, was ich von dem Ding weiß. Dieses kleine goldene Medaillon hat der Polizei viel Umstände gemacht. Es steht auf der Liste derjenigen Gegenstände, die in dem Zimmer gefunden wurden, in dem man die Kerze hat brennen sehen; als aber all die kleinen Frau Jeffrey gehörenden Dinge zusammengesucht und ihrem Gatten wieder zugestellt wurden, da befand sich dieses Schmuckstück nicht unter ihnen. Es war beim Transport verloren gegangen, und niemand hat es seitdem wiedergesehen. Und wer, glauben Sie, war es, der die Aufmerksamkeit auf diesen Verlust lenkte und verlangte, man solle nach dem Schmuckstücke suchen? Nicht Herr Jeffrey, der wenig oder keinen Wert darauf zu legen schien, sondern der alte Mann, den die Leute Onkel David nennen. Er, der allem Anschein nach kein Interesse an dem persönlichen Eigentum seiner Nichte hatte, war zur Stelle, als jene Gegenstände in Herrn Jeffreys Haus zurückgebracht wurden, und zwar in der ausgesprochenen Absicht, wie es scheint, nach diesem goldenen Medaillon zu suchen, das er für ein Familienerbstück erklärte. Als solches gehöre es ihm als dem gegenwärtigen Eigentümer des Familienbesitzes, und ihm allein. Da in dieser Weise die Aufmerksamkeit auf den Schmuck gelenkt wurde, stellte es sich heraus, daß er fehlte, und da die Schuld an diesem Verluste niemand anders als die Polizei zu treffen schien, wurde die Sache vertuscht, und man würde kein Wort darüber verloren haben, weil das Schmuckstück völlig wertlos war, wenn Herr Moore nicht ein solches Aufheben von ihm gemacht hätte. Dieses Medaillon, erklärte er, habe für ein Mitglied der Familie Moore soviel Wert wie das ganze übrige Besitztum, das, wie Sie wissen, sehr bedeutend ist; das Törichte dieser Behauptung und die tiefe leidenschaftliche Erregung, in die er geriet, so oft von dieser Angelegenheit die Rede war, haben uns die Frage nahegelegt, ob er wirklich der unschuldige Erbe ist, für den er sich auszugeben sucht. Jedenfalls weiß ich es bestimmt, daß der Staatsanwalt auf ihn zurückgreifen wird, wenn das Schwurgericht Fräulein Tuttle freisprechen sollte.

Der Staatsanwalt ist ein kluger Mann, erwiderte ich und verfiel in Nachdenken.

Hatte dieser geheime Verdacht gegen den alten Moore irgendwelchen soliden Untergrund? War er der Schuldige? Die Aufzeichnung, die ich in dem Buche gefunden hatte, das ganz kürzlich von den Bücherregalen in der Bibliothek heruntergenommen worden sein mußte, bewies, daß er trotz seiner gegenteiligen Behauptung unmittelbar vor jenem verhängnisvollen Abend, wenn nicht an diesem Abend selbst, in jenem Hause gewesen war. Ebenso bewies sie sein lebhaftes Interesse an den Familienüberlieferungen. Aber bewies sie etwas mehr? Hatte er seine Niederschrift unterbrochen, um die Streitfrage in Blut zu ersticken, und war einer seiner Beweggründe zu diesem Verbrechen der gewesen, sich in den Besitz des Filigranschmuckes zu setzen? War dies der Fall, warum hatte er diesen auf dem Tische oben liegen gelassen? Eine Kerze hatte in jenem Zimmer gebrannt; vielleicht hatte er sie angezündet, um bei ihrem Scheine das Medaillon zu suchen. Diese Annahme würde die Sache sehr vereinfachen. Was war also der Grund dafür, daß eine Stimme in meinem Inneren sich so entschieden gegen diese Möglichkeit sowie dagegen verwahrte, daß er Frau Jeffreys Mörder gewesen sein könne? Ich kann es nicht sagen. Ich haßte den Mann und mißtraute ihm zugleich auf das stärkste. Aber ich konnte ihn trotz dieser Aufdeckung seiner Doppelzüngigkeit in meinen Gedanken nicht mit dem offenen Verbrechen in Verbindung bringen, ohne meiner Auffassung Zwang anzutun. Glücklicherweise wurden meine Bedenken von meinen Kollegen nicht geteilt. Sie hatten ihn scharf beobachtet. Hier fühlte ich meine Schulter berührt, und der Detektiv, der soeben mit mir gesprochen hatte, schob mir eine Zeitung in die Hand.

Sehen Sie sich einmal die Liste der verlorenen und der gefundenen Gegenstände an, sagte er. Die dritte Anzeige rührt, wie Sie sehen, von der Staatsanwaltschaft her; die nächstfolgende wurde von Herrn Moore selbst aufgegeben.

Ich verfolgte seinen Finger, der mir die Stelle andeutete, und las zwei Beschreibungen des Filigranschmuckes. Der Unterschied der ausgesetzten Belohnungen war auffallend. Die von Onkel David versprochene war geeignet, jedermanns Verlangen zu reizen, und hätte die sofortige Rückgabe des Schmuckstückes zur Folge haben müssen.

Er hat diesmal der Polizei den Wind aus den Segeln genommen, sagte ich lachend. Wann sind diese Anzeigen erschienen?

Während der Zeit, als Sie von Washington abwesend waren.

Und woher wissen Sie, daß er das Medaillon nicht zurückerhalten hat?

O, davon sind wir überzeugt. Seine beständige Unruhe und sein lebhaftes Interesse, das er noch an der Sache nimmt, beweisen dies zur Genüge, selbst wenn unsere Ueberwachung weniger vollständig wäre.

Und die Polizei hat auch nichts erreicht?

Nichts.

Trotz all ihrer Bemühungen?

Trotz aller Anstrengungen.

Wer war der Beamte, der jene Gegenstände zusammensuchte und aus dem südwestlichen Zimmer entfernte?

Er lächelte.

Sie sehen ihn vor sich.

Sie waren es?

Ich selbst.

Und Sie sind sicher, daß sich dieses kleine Medaillon unter ihnen befunden hat?

Nein. Ich weiß nur, daß ich es irgendwo gesehen habe, aber es befand sich nicht unter den Gegenständen, die ich Herrn Jeffrey ablieferte.

Wie haben Sie sie denn transportiert?

In einer Handtasche, die ich selbst zugeschlossen habe.

Bevor Sie das Südwestzimmer verließen?

Ja.

Dann muß es sich noch in jenem Gemache befinden.

Suchen Sie es, lautete die lakonische Antwort meines Kollegen.

Hier würden sich die meisten haben erschrecken lassen, aber ich besitze die Hartnäckigkeit einer Bulldogge, wenn ich mir einmal etwas in den Kopf gesetzt habe. Bei Anbruch der Dunkelheit begab ich mich in das Moorehaus zurück, sicherte mich gegen jede Störung und durchsuchte das südwestliche Zimmer in meinem eigenen Interesse nach etwas, was ich doch offenbar nur sehr geringe Aussicht hatte, hier zu finden.

Es schien von Anfang an ein hoffnungsloses Unternehmen zu sein; aber ich war mit ganzer Seele dabei, als ob noch niemand vor mir das Zimmer durchsucht hätte. Ich entfernte jeden Gegenstand von seinem Platze, suchte zuerst auf dem offenen Fußboden und dann in jedem erdenklichen Schlupfwinkel. Aber es gelang mir nicht, das Medaillon zu finden, und ich war nahe daran, mich für besiegt zu erklären, als mein Blick auf die langen Brokatvorhänge fiel, die ich vor den verschiedenen Fenstern zugezogen hatte, damit kein Lichtschimmer auf die Straße hinausdränge. Sie waren beinahe faltenlos, aber ich schüttelte sie nichtsdestoweniger kräftig, namentlich den, der sich dem Tische am nächsten befand, aber natürlich ohne Erfolg.

Dummheit! murmelte ich, verlor aber den Mut noch nicht ganz. Denn die großen Quasten hingen noch unberührt an den Seiten da und – Nun, man kann es einen unmöglichen Fund nennen oder sagen, daß, wenn das Schmuckstück hier gewesen wäre, es sicher beim ersten Suchen hätte gefunden werden müssen! Ich will dies nicht bestreiten. Ich kann nur erzählen, was sich ereignete. Als ich eine von diesen Quasten in die Hand nahm, glaubte ich, während ich sie hin- und herdrehte, etwas Glänzendes in den alten verblichenen Fäden zu entdecken, das nicht zu ihnen zu gehören schien. Ich stutzte, und ohne auch nur im entferntesten zu ahnen, daß ich den gesuchten Gegenstand gefunden hatte, zog ich an dem Dinge und entdeckte, daß es eine kleine goldene Kette war, die sich in dem Vorhange festgehakt hatte. Als ich sie losgemacht, zeigte es sich, daß an dem einen Ende ein kleines goldenes Medaillon hing, das mit Filigranverzierungen bedeckt und für seine Größe und anscheinende Zierlichkeit erstaunlich schwer war.

Wie dieses Medaillon hierherkam, ob es von dem Tische heruntergerollt oder unversehens der Hand des Detektivs entglitten war, und wie es kam, daß es von dieser alten Quaste aufgefangen und trotz des vielen Schüttelns, das sie hatte über sich ergehen lassen müssen, festgehalten worden war, kümmerte mich in diesem Augenblicke nicht. Der Talisman dieses alten Hauses war gefunden. Ich hatte nur noch zu untersuchen, was das Medaillon enthielt, um zu wissen, was den alten Moore so beunruhigte, und das Geheimnis, das er sich zu ergründen bemühte, so unlösbar machte. Ich empfand ein Gefühl des Triumphes, verlor aber keinen Augenblick mit eitler Selbstbespiegelung, sondern beugte mich mit meinem Funde über die Kerze und suchte nach dem Schloß oder der Feder, die die beiden Hälften des Medaillons zusammenhielt. Ich besitze eine besondere Geschicklichkeit in bezug auf geheime Schlösser, und es gelang mir, das Medaillon beim ersten Versuch zu öffnen. Und was fand ich darin? Etwas so Verschiedenes von dem, was ich erwartet hatte, etwas so Alltägliches und scheinbar Harmloses, daß ich erst, als ich mir die Schlußworte von Onkel Davids Niederschrift ins Gedächtnis zurückrief, mir seine volle Bedeutung und die Möglichkeiten, die es eröffnete, klarmachte. An sich war es nichts anderes als ein winziges Vergrößerungsglas, aber benutzt in Verbindung – womit? Ah, das war es eben, was Onkel David unterließ zu sagen, vielleicht weil er es selbst nicht wußte. Und doch war dies nun die Hauptsache, um zu einem vollen Verständnis dieser vielen Tragödien zu gelangen. Ich betrachtete das Glas von allen Seiten und wandte es hin und her, um vielleicht einen Hinweis zu entdecken; mit einem Male schob sich der Griff, in den die Horneinfassung auslief, auseinander, und auf der Innenfläche erschienen in winziger Goldschrift die Buchstaben A. P.

Fragend schaute ich auf; da fiel mein Blick auf das alte Bild über dem Kamin, und wie ein Blitz durchfuhr mich der Gedanke, daß die geheimnisvollen Buchstaben sich nur auf dieses Porträt, diese nichtssagende und anscheinend wertlose Zeichnung beziehen könnten, deren Vorhandensein in einem so reich und kostbar ausgestatteten Zimmer mir immer ein Rätsel gewesen war!

Beim Anblick des Bildes kam mir die Erinnerung an die schlaflosen Nächte aller, die ihm gegenüber gelegen und auf das verzerrte Lächeln des Mädchens gestarrt hatten. Jetzt konnte ich mir auch jenes geheime Familiengesetz der Moores erklären, das die Entfernung irgend eines Bildes von den verfallenen Wänden verbot, ebenso die Neugier, die das Bild in jedem Beschauer erregte – Francis Jeffrey eingeschlossen. –

In großer Erregung sprang ich auf einen Stuhl, nahm das Bild von der Wand und legte es auf das Bett. Dann betrachtete ich es durch das Vergrößerungsglas und war, trotzdem ich mich auf alles gefaßt gemacht hatte, ganz erstaunt, wahrzunehmen, daß sich die nach allen Richtungen kreuzenden Linien, aus denen das Bild bestand, in Schriftzüge und die Schriftzüge in Worte auflösten, von denen einzelne vollkommen deutlich zu lesen waren.

Die Zeichnung war, so einfach sie auch aussah, eine schriftliche Mitteilung für diejenigen, die sie mit einem Vergrößerungsglas betrachteten. Ich konnte mein Triumphgefühl kaum niederzwingen, kaum die Selbstbeherrschung finden, die zu einem sorgfältigen Studium der wellenförmigen, sich vielfach verschlingenden Linien sowie zu der langsamen Aneinanderreihung der in ihnen enthaltenen Worte notwendig war.

Als ich dies aber getan und den ganzen Inhalt der hin- und hergehenden Linien auf eine Seite meines Notizbuches geschrieben hatte, erkannte ich die Bedeutung der Mitteilung.

Der Leser möge selbst urteilen.

 

»Feigling, der ich bin! Ich stehe im Begriff, meine Nachkommen in ein düsteres Verbrechen einzuweihen, dessen Folgen ich während meines Lebens nicht zu verantworten wage. Beichten muß ich aber. Zu sterben und keine Erinnerung an meine Tat zu hinterlassen, ist mir unmöglich. Auf welche Weise soll ich aber meine Geschichte erzählen, damit nur meine Erben sie lesen können und selbst diese nur dann, wenn ihr Schicksal an einem seidenen Faden hängt? Ich glaube, ich habe den Weg in dieser Zeichnung und der Anweisung gefunden, die ich den Besitzern des Filigranschmuckes gegeben.

Niemand hat je den Tod seines Feindes glühender gewünscht, als ich es tat, und niemand hat es schlauer angefangen, um seinen Zweck zu erreichen. Da ich volle Verfügung über mein Haus hatte, so ersann ich eine Vorrichtung, durch die der Mann, der mein Schicksal in seiner Hand hielt, auf dem Lehnstuhle in meiner Bibliothek seinen Geist aushauchte, ohne daß jemand zugegen war und ohne daß der leiseste Verdacht auf mich fallen konnte. Klingt dies nicht wie die Erklärung eines Wahnsinnigen? Nun gut, begib Dich in das Zimmer, das in der Familie »das Schlafkabinett des Obersten« genannt wird. Gehe in das anstoßende Gelaß, ziehe die beiden dort befindlichen Schubkästen heraus und suche in der so entstandenen Oeffnung nach einem kleinen Loche in dem Boden, durch das Du, wenn Du Dich tief genug bückst, den Kamin der Bibliothek und den vor ihm stehenden großen Armstuhl erblicken kannst. Hat Dein Auge diese gefunden, so verharre in derselben Stellung und laß Deine Hand über die Wand zu Deiner Rechten gleiten, bis Du auf einen Handgriff stößt. Dieser steht durch Drähte mit einem geheimen Mechanismus in dem in der Bibliothek am Fußboden festgeschraubten alten Lehnsessel, dessen eines Bein hohl ist, in Verbindung. Drückt man diesen Griff stark herunter, so wird dieser Mechanismus in Bewegung gesetzt: von der inneren Seite der Armlehnen des Sessels her bewegen sich zwei starke Stahlarme, die den auf dem Stuhle Sitzenden mit aller Kraft gegen die Rücklehne drücken. Gleichzeitig springt aus dieser letzteren eine mit Curare vergiftete, sehr feine Nadel hervor, die den auf dem Stuhle Sitzenden in den Hinterkopf sticht. Da Curare ein sehr schnell wirkendes Gift ist, so braucht man den Griff nur wenige Sekunden lang niederzudrücken. Dann läßt man ihn los; die Reifen und die Nadel springen zurück, und der Stuhl steht wieder harmlos wie zuvor da. Nur der auf ihm Sitzende ist tot. Die Wunde ist aber fast unsichtbar, zumal sie sich in dem behaarten Teile des Kopfes befindet, und kein Arzt der Welt kann auf den Gedanken kommen, daß hier ein Verbrechen vorliege.

Kannst Du den Apparat somit auch ohne jede Furcht vor dem weltlichen Richter handhaben, so hüte Dich doch, ihn anders als im äußersten Notfalle in Bewegung zu setzen. Dem Richter in Deinem Inneren kannst Du ebensowenig entgehen wie ich. Seit ich mir meinen Weg durch Mord zu ebnen versucht habe, ruht ein Fluch auf meinem Leben. Die Blutschuld läßt sich nicht abschütteln. Ich habe das Hindernis, das sich mir auf dem Wege zum Ruhme entgegenstellte, beseitigt, aber dafür hat mich ein Grauen gepackt, das alle Begriffe übersteigt und das nur der zu verstehen vermag, der selbst die aus einem begangenen Verbrechen entspringenden Schrecken empfunden hat. Seit ich damals den Handgriff niedergedrückt habe, finde ich keine Ruhe mehr. Eine Unrast beherrscht mich, die mir noch jetzt, nach dreißig Jahren vergeblichen Widerstandes und übermenschlichen Ringens, den Schlummer raubt, mich aus dem Bett treibt und das Gespenst jener Tat immer und immer wieder von neuem heraufbeschwört. Ich vermag diese Unrast nicht zu unterdrücken. Jeder Versuch, den todbringenden Mechanismus zu beseitigen und das Haus von diesem stummen Zeugen des Verbrechens zu befreien, würde mich nur zwingen, meine Schuld laut herauszuschreien und das, was ich jetzt nur zagend in der Stille und Einsamkeit tue, vor aller Welt zu tun. Wenn die Stunde kommt, wie sie einst kommen muß, in der ich nicht aufstehen und mich in jenes verhängnisvolle Gelaß begeben kann, werde ich die Tat noch in meinen Träumen vollführen, im Schlafe laut aufschreien, mir den Tod wünschen und mich doch vor dem Sterben fürchten, damit ich nicht in der Hölle in alle Ewigkeit die Pein ertragen müsse, meinen Freund in stets wachsendem Grauen und Entsetzen immer wieder von neuem zu ermorden.

Willst Du mein Geschick teilen? Dann versuche es durch Mord, Dich von den Dir drohenden Schwierigkeiten zu befreien.«


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