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Neunzehntes Kapitel

Es gibt in dem Leben eines jeden Augenblicke, deren Erinnerung nie verblaßt, sondern bis ins höchste Alter hinein mit greifbarer Deutlichkeit vor der Seele steht. Für mich trat ein solcher Moment ein, unmittelbar nachdem ich die vorstehenden Zeilen gelesen hatte, die zwar als Warnung gemeint waren, in der Tat aber in mehr als einem Falle nur dazu gedient hatten, den Weg zur Wiederholung eben des Verbrechens zu eröffnen, das sie beklagten. Ich selbst fühlte mich unter demselben Bann. Ich wollte den Mechanismus erproben, die gegebenen Vorschriften auf das genaueste befolgen und das Ergebnis beobachten. Aber mein Anstandsgefühl hinderte mich hieran. Es war ganz offenbar meine Pflicht, eine so wichtige Entdeckung dem Major zu unterbreiten und mich seinen Anordnungen zu fügen, ehe ich den Versuch unternahm, der in den mit so vieler Mühe entzifferten Wellenlinien beschrieben war. Außerdem war es schwierig, dieses Experiment allein und nur bei dem Schein meiner Laterne auszuführen. Ich brauchte dazu Unterstützung und mehr Licht.

Durch diese Erwägungen geleitet, hängte ich das Bild wieder an seinen Platz und verließ das Haus. Als ich heraus trat, zeigten sich schon die ersten Spuren der Morgendämmerung. Ich hatte drei volle Stunden gebraucht, um den in den geschwungenen Linien der alten Zeichnung verborgenen Sinn zu ergründen. Als ich nach Hause kam, fand ich die Antwortdepesche auf meine nach Denver gerichtete Anfrage vor und steckte sie, als ich in den Dienst ging, uneröffnet ein, um sie dem Major zu übergeben. Ich traf auf dem Bureau zeitig ein, aber nicht zeitig genug, um den Chef allein sprechen zu können. Eine Anzahl von Beamten war in seinem kleinen Amtszimmer schon um ihn versammelt, und als ich bei meinem Eintritt unter ihnen den Staatsanwalt, Durbin und einen anderen bekannten Detektiv bemerkte, erkannte ich instinktiv, was für eine Frage zur Beratung stand.

Ich durfte bleiben, möglicherweise weil man mir ansah, ich brächte etwas Neues, möglicherweise weil der Major freundlicher gegen mich gesinnt war, als ich glaubte. Es war noch ein Fremder zugegen, auf den sich die allgemeine Aufmerksamkeit bei meinem Eintritt konzentriert hatte, und zu dem sie jetzt zurückkehrte. Er zeigte ein bescheidenes, freundliches Auftreten. Wer mit den Verhältnissen der Einwohner Washingtons vertraut war, erkannte sofort in ihm einen der vielen Departementsbeamten, deren Gehalt zur Bestreitung der Bedürfnisse ihrer Familie nicht ausreicht. Er hatte zwei persönliche Eigenschaften an sich. Er zwinkerte mit den Augen, wenn er sprach, und stotterte in einer peinlich berührenden Weise, wenn er in Aufregung geriet. Trotz dieser Mängel machte er einen guten, vertrauenerweckenden Eindruck. Seine Aussage war, wie ich bald bemerkte, von Wichtigkeit, denn die Geschichte, die er nun begann, war ganz geeignet, mich meine Botschaft vergessen zu lassen und selbst meine Ueberzeugung zu erschüttern.

Die erste Kunde von dem merkwürdigen Charakter seiner Mitteilung erhielt ich durch folgende Fragen, die der Major an ihn stellte:

Sie sind sicher, daß dieser Herr identisch mit dem ist, dem Sie gestern abend begegneten?

Ganz sicher, Herr Major. Ich kann es beschwören. Sie erkennen ihn also bestimmt wieder?

Ganz bestimmt. Ich würde ihn mit derselben Sicherheit herausgefunden haben, wenn ich ihn in einer anderen Stadt und unter einer Menge von Herren getroffen hätte, die ebenso fein aussehen wie er. Sein Gesicht machte einen tiefen Eindruck auf mich. Sie sehen, ich hatte volle Zeit, ihn in den paar Minuten, die wir dicht nebeneinander standen, genau zu beobachten.

Nun gut. Wollen Sie die Freundlichkeit haben, uns den Hergang nochmals zu erzählen? Ich möchte, daß der Beamte, der soeben eingetreten ist, Ihren Bericht mit eigenen Ohren hört. Nun beginnen Sie, bitte. Es ist alles sehr interessant.

Der Fremde blickte forschend nach der Richtung, in der ich stand, und leistete der Aufforderung Folge.

Am Abend des elften Mai, an dem sich der schreckliche Vorfall abspielte, kehrte ich nach meiner Wohnung in Georgetown zurück. Meine Frau war krank; ich hatte mich in die Stadt begeben, um einen Arzt zu holen, und hätte direkt nach Hause gehen sollen. Aber die Neugier trieb mich an den Fluß; ich wollte sehen, wie hoch er gestiegen sei – Sie entsinnen sich, er war an jenem Abend über die Ufer getreten. So wanderte ich zur Brücke hinaus und begegnete dem Herrn, nach dem Sie mich fragen. Er stand ganz allein über das Geländer gelehnt, hatte seine Arme auf diesem verschränkt und sah starr vor sich nieder. Ich kannte ihn nicht, aber die Art und Weise, in der er in die trüben Fluten des vorüberrauschenden Flusses unten sah, war nicht die eines Neugierigen, wie ich selbst einer war, sondern jemandes, der irgend eine verzweifelte Tat plant. Es war ein schöner, feingekleideter Mann, aber er sah zum Gotterbarmen aus und war so vollständig in seine Gedanken versunken, daß er mich nicht bemerkte, obgleich ich nur fünf Fuß von ihm entfernt stehen geblieben war. Ich glaubte jeden Augenblick, er würde sich ins Wasser stürzen, aber anstatt dessen erhob er plötzlich den Kopf, sah starr vor sich hin, nicht auf die vorüberschießenden Wellen, sondern als ob er eine Vision hätte, und brach endlich in folgende Worte aus, Worte, wie ich sie nie zuvor in einem solchen Ton gehört hatte –

Hier machte der Erzähler eine Pause und fuhr dann fort:

Sie lauteten: »Sie muß sterben! sie muß sterben!« Kein Name, sondern nur der eine zweimal wiederholte Satz: »Sie muß sterben.« Dies machte mich stutzig, und ungewiß, ob ich Hand an ihn legen oder umkehren und weggehen sollte, entfernte ich mich langsam, als er seine Arme von dem Brückengeländer nahm und vor sich hinstarrend in demselben harten, entschiedenen Tone die beiden Worte hinzufügte: »Heute abend!« Dann drehte er sich um, streifte mich mit einem leeren und geistesabwesenden Blick und wandte sich der Stadt zu. Als er an mir vorbeikam, öffneten sich seine Lippen zum drittenmal: »Und das bedeutet,« rief er, indem er hell aufstöhnte, »eine Kugel für sie und –« Ich wünschte, ich hätte den Schluß verstanden, aber er war schon außer Hörweite, ehe er seinen Satz beendet hatte.

Um welche Zeit war dies?

Gleich nach halb sechs. Es war sechs, als ich ein paar Minuten später nach Hause kam.

Ah, er muß dann nach dem Kirchhof gegangen sein.

Ich bin davon überzeugt.

Warum sind Sie dem Herrn nicht gefolgt? fragte Durbin.

Das war nicht meines Amtes. Er war mir fremd und möglicherweise wahnsinnig. Ich wußte nicht, was ich tun sollte.

Was taten Sie denn?

Ich ging nach Hause und blieb ruhig dort; meine Frau war sehr krank, und ich hatte an meinen eigenen Sorgen genug.

Sie lasen doch aber am nächsten Morgen die Zeitungen?

Nein, viele Tage lang nicht. Mit meiner Frau ging es immer schlechter, eine ganze Woche lang bin ich nicht von ihrem Lager gewichen und glaubte bei jedem Atemzuge, es würde ihr letzter sein. Ich war für alles, was außerhalb des Krankenzimmers vorging, wie abgestorben, und als es mit ihr besser wurde, machte ihre Genesung sehr langsame Fortschritte. Ich habe sie fortbringen müssen, sodaß ich erst vor ungefähr einer Woche Gelegenheit hatte, über diesen Vorfall mit jemand zu sprechen, als mir nämlich eine Bemerkung, die in Verbindung mit Frau Jeffreys Tod veröffentlicht war, die Begegnung auf der Brücke wieder ins Gedächtnis zurückrief. Ich erzählte einem Nachbar, ich glaubte, der Mann, den ich dort gesehen hatte, sei Herr Jeffrey gewesen; wir sahen die Zeitungen durch und überflogen sie, bis wir auf sein Bild stießen. Dies setzte die Sache außer Zweifel, und da ich jetzt meine Sorge los war, so konnte ich meinen Mund nicht länger halten – die Polizei hörte davon –

Das genügt, Herr Gelston, fiel der Major ein. Wenn wir Sie noch brauchen sollten, werden wir Sie benachrichtigen. Durbin, geleiten Sie Herrn Gelston hinaus.

Ich blieb allein mit dem Major und dem Staatsanwalt.

Einen Augenblick herrschte Schweigen; mein Herz klopfte so laut, daß ich fürchtete, die beiden anderen würden es hören. Seitdem ich mich Fräulein Tuttles Sache angenommen, hatte ich trotz des Alibis, das Jeffrey nachgewiesen hatte, niemals recht an seine Unschuld geglaubt und erwartete nun, der Major und der Staatsanwalt würden dieselbe Meinung äußern. Der Major ergriff zuerst das Wort. Er wandte sich an den Staatsanwalt und bemerkte: Dieses Zeugnis wird Ihnen die Sache wesentlich erleichtern. Wir haben jetzt den Beweis in Händen, daß Frau Jeffreys Tod in der Tat vorher geplant war. Wenn Fräulein Tuttle sie nicht erschossen hätte, wollte er es tun. Ich glaube, es war eine Erleichterung für ihn, als er beim Nachhausekommen erfuhr, die Tat sei geschehen.

Ich konnte mein Erstaunen nicht unterdrücken.

Fräulein Tuttle! wiederholte ich. Steht es denn so unwiderruflich fest, daß Herr Jeffrey das Moorehaus nicht rechtzeitig genug erreicht hat, um den Schuß selbst abzufeuern?

Der Major warf mir einen raschen Blick zu.

Ich glaubte, Sie hielten Fräulein Tuttle für die Schuldige.

Ich hielt die Zeit für gekommen, meine Karten aufzudecken.

Ich habe meine Ansicht geändert, erwiderte ich. Ich kann Ihnen keinen genügenden Grund dafür angeben, ich glaube, es ist etwas, was im Wesen der Dame selbst liegt. Sie sieht nicht aus wie eine Verbrecherin, noch benimmt sie sich wie eine solche. Obgleich ich kein Verlangen danach trug, mich in Opposition zu dem Urteil derer zu setzen, die in jeder Hinsicht so hoch über mir stehen, hegte ich diese Ueberzeugung und habe Mut genug, um dies offen einzugestehen. Wenn aber Herr Jeffrey den Kirchhof nicht vor sieben Uhr verlassen und das Moorehaus nicht rechtzeitig erreicht haben kann, um alle Bedingungen dieser Tragödie zu erfüllen, so nimmt die Sachlage für die Dame ein sehr ernstes Aussehen an. Sie gibt zu, zugegen gewesen zu sein, als die Pistole abgefeuert wurde, nur –

Nur was? Sie haben uns etwas mitzuteilen. Das habe ich Ihnen gleich angesehen, als Sie ins Zimmer traten. Was ist es?

Ich warf einen Blick nach der Tür. Würde es mir möglich sein, meine Erzählung zu beenden, ehe Durbin zurückkehrte? Ich glaubte dazu imstande zu sein, und obgleich ich mich noch immer in Aufregung über die neue Zeugenaussage befand, die durchaus nicht günstig für Fräulein Tuttle war, nahm ich all meine Geisteskräfte zusammen und begann meine Darlegungen.

Ich habe soeben eine zweite Nacht im Moorehause zugebracht. Alle bisher gemachten Anstrengungen, seine Geheimnisse zu enthüllen, gründeten sich auf eine Theorie, die zu nichts geführt hat. Ich ging von anderen Voraussetzungen aus und bemühte mich, diese auf ihre Richtigkeit zu prüfen, ehe ich von jedem weiteren Versuch, das Rätsel zu lösen, Abstand nahm. Bei der Verfolgung einer anscheinend so bedeutungslosen Fährte, daß ich sie wochenlang vernachlässigen zu können glaubte, habe ich auch den Schlüssel zu den vielen geheimnisvollen Verbrechen gefunden, die auf dem alten Sessel vor dem Kamin zur Ausführung gekommen sind. Und wo glauben Sie, daß dieser Schlüssel liegt? Nicht in dem Sessel selbst oder in dem Fußboden unter diesem, überhaupt nicht in der Bibliothek, sondern in dem Bilde, das im südwestlichen Zimmer des ersten Stockes hängt.

In dem Bild! jener verblichenen Skizze, die nur in die Rumpelkammer paßt?

Jawohl. Für Sie und die meisten Beschauer stellt sie das dar, was Sie sagen, und nichts mehr. Aber für die wenigen Eingeweihten – Gott sei Dank sind ihrer nur sehr wenig – ist sie eine Niederschrift, die geheime Anweisungen enthält. Sämtliche Linien, aus denen diese Skizze besteht, werden aus Worten gebildet, die mit der äußersten Sorgfalt in mikroskopisch kleinen Buchstaben niedergeschrieben sind. Durch ein Vergrößerungsglas betrachtet, lösen sich die unbestimmten Umrisse des Gesichtes, das von einer Fülle aufgetürmten Haares umgeben ist, in geschriebene Zeilen auf, deren Worte völlig lesbar sind und schreckliche, nicht mißzuverstehende Pläne enthüllen. Ich habe diese Zeilen entziffert, noch mehr, ich habe sie abgeschrieben. Wollen Sie sie lesen? Sie enthalten ein ganz außerordentliches Geständnis – ein Geständnis, das offenbar als Warnung gedacht war, das aber unglücklicherweise die entgegengesetzten Folgen gezeitigt hat. Es vermag den Tod des Herrn aus Denver zu erklären, wenn es auch kein Licht auf die übrigen rätselhaften Umstände des denkwürdigen Falles wirft, von dem wir sprechen.

Bei diesen Worten legte ich die von mir erwähnte Abschrift auf den Tisch offen hin. Sofort beugten sich die beiden Herren über das Blatt. Als sie wieder aufsahen, drückten ihre Mienen nicht nur Erregung, sondern auch Anerkennung aus, und in dieser einen Minute des Triumphes war alles, was mich in der Vergangenheit verletzt oder verstimmt hatte, vergessen.

Sie sind ein Mann, wie man unter Tausenden kaum einen findet, erklärte der Major im ersten Aufwallen seiner Freude. Dann schlug er vor, sofort nach dem alten Hause zu gehen. Ein Familiengeheimnis dieser Art, sagte er, kommt selbst in einer Stadt, die so reich an Überraschungen ist wie Washington, nicht alle Tage vor. Wir wollen nach dem Handgriffe in dem kleinen Gelasse suchen und den Apparat spielen lassen, nicht? Und unterwegs – hier wandte er sich an mich – können Sie mir das Nähere über die unbedeutenden Anhaltspunkte mitteilen, von denen Sie vorhin sprachen. Nebenbei bemerkt, Herrn Jeffreys Interesse an der alten Zeichnung ist nun erklärt. Er kannte ihr teuflisches Geheimnis.

Dies war selbstverständlich, und es wurde mir schwer ums Herz, wenn ich an Fräulein Tuttle dachte, die ihres Schwagers Vertrauen in so hohem Maße zu besitzen schien.

Es wurde mir noch schwerer ums Herz, als Durbin, der sich uns anschloß, durch seine Ungläubigkeit dem Verdachte der anderen neue Nahrung bot. Bei allen Erläuterungen, die ich jetzt gab, wiederholte ich mir in meinem Inneren fortwährend mit etwas erzwungener Hartnäckigkeit: Ich will Fräulein Tuttle unter keinen Umständen für schuldig halten. Sie trägt den Stempel der Unschuld an sich, und ihre Unschuld muß an den Tag kommen, mag für Francis Jeffrey daraus entstehen, was da will. Einen so tiefen Eindruck hatte die hoheitsvolle Miene, die ich in ihrem Antlitz wahrgenommen hatte, auf mich gemacht.

Hätte Herr David Moore an diesem Morgen mit offenen Augen hinter seinen Weinranken gesessen, so würde er ohne Zweifel sehr überrascht gewesen sein, so viele seiner geschworenen Feinde zu so früher Stunde in sein Besitztum eindringen zu sehen. Aber zum Glück war er noch nicht aufgestanden, und wir konnten unsere Nachforschungen anstellen, ohne von ihm beobachtet oder gestört zu werden.

Zunächst begaben wir uns alle zusammen in das südwestliche Zimmer, nahmen das Bild herunter, betrachteten es durch ein Vergrößerungsglas und überzeugten uns, daß die Worte, die ich aus seinen verschlungenen Linien herausgelesen hatte, sich wirklich dort befanden. Als dies geschehen und meine Glaubwürdigkeit festgestellt war, begaben wir uns in das anstoßende kleine Gelaß, in dem gemäß den in dem Bilde niedergelegten Anweisungen der geheime Handgriff zu suchen war, durch die der teuflische Mechanismus in dem alten Sessel unten in der Bibliothek in Bewegung gesetzt werden sollte.

Zu meiner großen Genugtuung wurde mir die handelnde Rolle bei diesem Experiment übertragen. Ich zog die beiden großen Schubläden heraus und setzte sie beiseite. Dann suchte ich das kleine Loch, durch das man den Sessel in der Bibliothek sollte erblicken können, und fand es auch; da ich aber nichts sehen konnte, so bat ich, man möge ein Licht in dem unteren Zimmer anzünden.

Ich hörte Durbin die Treppe hinuntergehen, dann den Major und schließlich den Staatsanwalt. Bald wurde eine brennende Kerze auf den Kaminsims gestellt, und bei deren Scheine sah ich, wie sich die drei Herren im Kreise um den alten Sessel herum gruppierten. Ich rief hinunter: Sind Sie soweit? Ein einstimmiges Ja! war die Antwort.

Achtung! rief ich nun, tastete nach dem so geschickt in der Wand versteckten Handgriff und drückte ihn kräftig nieder, während ich kein Auge von dem Sessel unten abwandte.

Die Wirkung war überraschend. Mit leisem Klirren bewegten sich von der Innenfläche der Armlehne aus die zwei Stahlarme nach aufwärts und legten sich so aneinander, daß sie eine auf dem Stuhle sitzende Person gegen die Rücklehne pressen mußten, während zu gleicher Zeit in Kopfhöhe die verhängnisvolle vergiftete Nadel hervorzuckte. Ich hielt den Griff so lange niedergedrückt, bis die Herren unten alles genau in Augenschein genommen hatten; dann ließ ich ihn los, und im nächsten Augenblick glitten die Stahlstäbe in ihr Lager zurück, und der Sessel stand wiederum da, als wäre überhaupt keine Veränderung mit ihm vorgegangen. Das Ganze erinnerte ungefähr an die Konstruktion neuerer Geldschränke, bei denen ebenfalls eine ähnliche, aber automatisch wirkende Vorrichtung angebracht ist, durch die ein Dieb, der es versucht, den Schrank zu öffnen, festgehalten wird.

Das Experiment war auf das vorzüglichste geglückt; der Mechanismus hatte tadellos funktioniert und nach so langer Zeit Zeugnis von der außerordentlichen technischen Geschicklichkeit und der sorgfältigen Berechnung des Obersten Alpheus abgelegt. Ich hatte hier oben nichts mehr zu tun und schickte mich eben an, meinen unbequemen Standort zu verlassen, als ich etwas Helles an einem der rauhen Bretter unterhalb der Schubkästen hängen sah. Ich hob es auf und bemerkte zu meinem Erstaunen, daß es ein Stück kostbare Spitze war. Eine entsetzliche Ahnung stieg in mir auf, und eilig stürzte ich die Treppe hinab, um meine Begleiter wieder aufzusuchen. Als ich die Bibliothek betrat, standen sie alle drei noch stumm und wie betäubt von dem Gesehenen um den Sessel herum und sahen ihn unverwandten Blickes an. Der Staatsanwalt war der erste, der die Sprache wiederfand; bezeichnenderweise lauteten seine Worte: Ich bin froh, daß ich nicht Moore heiße.

Der Major antwortete nichts; sein Auge ruhte in dem meinen, und er war sehr nachdenklich.

Der eine von den beiden Armleuchtern, die auf den Kamin des Salons gehören, wurde auf dem Fußboden jenes Gelasses gefunden, bemerkte er. Es muß jemand vor kurzem dort drin gewesen sein, und zwar an dem Tage, an dem Herr Pfeiffer hier saß.

Entschuldigen Sie die Unterbrechung, rief ich hastig. Herr Pfeiffers Tod ist völlig aufgeklärt. Ich zog meine Hand, die ich bis jetzt fest geschlossen auf dem Rücken gehalten hatte, hervor, öffnete sie langsam vor den erstaunten Augen der Beamten und zeigte ihnen die Spitze – Es war eine Spitze von solcher Feinheit, wie sie von Frauen nur bei den festlichsten Anlässen getragen wird.

Wo haben Sie dies gefunden? fragte der Major in tiefer Erregung, wie ich sie noch nie bei ihm wahrgenommen hatte.

Doch meine Erregung war noch größer als die seinige, als ich erwiderte:

An einem Brette in dem Gelasse. Arm und Hand einer Frau haben vor mir nach dem verhängnisvollen Handgriff gesucht – einer Frau, die Spitzen trug, wertvolle Spitzen.

Es kam hier nur eine Frau in Betracht, die diesen Bedingungen entsprach. Die Braut! Veronika Moore.


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