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Dreizehntes Kapitel

Als ich den Sitzungssaal verließ, erinnerte ich mich an eine Tatsache, die wir alle beobachtet und mit unseren Bemerkungen begleitet hatten, und dies veranlaßte mich, an einen neben mir gehenden Kollegen die Frage zu richten, was er über die Abwesenheit des alten Moore von einer Verhandlung denke, die allem Anscheine nach für alle Mitglieder seiner Familie von so entscheidender Bedeutung war.

Der Detektiv lachte und sagte:

Der alte David hat keine seiner Eigenheiten abgelegt, da er jetzt reich geworden ist. Heut ist der Tag, den er stets auf dem Kirchhofe zubringt. Wußten Sie das nicht? Nichts in der Welt, geschweige denn ein so alltägliches Vorkommnis wie die Verhandlung über die sterblichen Reste seiner nächsten Angehörigen, kann ihn verhindern, am 23. Mai nach jenem Fleck Erde zu pilgern.

Ich fühlte, wie mir etwas in die Kehle stieg; dann durchfuhr mich ein Gedanke, und ich fragte, wie lange der alte Herr auf seinem Posten bliebe.

Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, sagen die Kollegen. Ich selbst habe ihn nie dort gesehen. Mein Revier liegt in einer anderen Richtung.

Ich trennte mich von ihm und begab mich nach dem Rock Creek-Kirchhofe. Es waren noch zwei gute Stunden bis zu Sonnenuntergang, und ich faßte den Entschluß, Onkel David einen Besuch abzustatten.

Ich machte mich sofort auf den Weg und langte auch glücklich vor Sonnenuntergang auf dem Kirchhofe an. Schon von weitem bemerkte ich einen prächtigen Wagen, bespannt mit zwei der schönsten Pferde, die ich seit langer Zeit in Washington gesehen hatte; er hielt in der Nähe eines einzeln stehenden Grabsteins, und neben diesem erblickte ich beim Näherkommen die Gestalt Onkel Davids, der in kniender Stellung mit einem Tuche den auf dem Denksteine befindlichen Namen blankputzte. Er war hochfein gekleidet, und sein Wesen trug den Stolz auf den ihm so unerwartet zugefallenen Reichtum deutlich zur Schau.

Ich ging ohne weitere Umstände auf den am Grabe Knienden zu und bemerkte laut:

Der Untergang der Sonne wird Sie bald aus Ihrer unbequemen Stellung befreien, Herr Moore. Fahren Sie dann sofort nach der Stadt zurück?

Er hielt in seiner Beschäftigung inne und machte ein verdrießliches Gesicht, wandte sich um und sah mir fest in die Augen, wobei sein Blick einen forschenden Ausdruck annahm.

Ich werde in der Regel hier nicht gestört, erklärte er von oben herab. Ich fahre direkt nach der Stadt. Kann ich etwas für Sie tun?

Danke, nein. Ich glaubte, es möchte Ihnen daran liegen, zu erfahren, wie es drinnen steht. Die Stadt befindet sich in großer Aufregung. In der Angelegenheit Jeffrey-Moore hat die Coroner-Jury soeben ihren Wahrspruch dahin abgegeben, daß der Selbstmord nicht bewiesen worden ist. Natürlich ist dieser Wahrspruch gleichbedeutend mit einem auf Mord lautenden.

Ah! rief er aus, leicht zurückfahrend, was mich bei einem durchweg so kaltblütigen Manne etwas in Erstaunen setzte. Und wem mißt man die Schuld an diesem Verbrechen bei? fuhr er etwas unsicher fort.

Es wurde kein Name genannt; aber der Verdacht fällt natürlich auf Fräulein Tuttle.

Auf Fräulein Tuttle? Ah!

Ja, seitdem es nachgewiesen ist, daß Herr Jeffrey an dem betreffenden Abend zu weit von dem Hause entfernt war, als daß er rechtzeitig hätte zurück sein können, um den Schuß abzufeuern, während sie –

Ich folge Ihnen schon.

– in demselben Hause war – tatsächlich an der Bibliothekstür – und die Pistole abfeuern hörte, wenn sie sie nicht selbst abgefeuert hat, was einige glauben, namentlich der Staatsanwalt. Sie hätten zugegen sein sollen.

Er blickte überrascht auf bei dieser Zumutung.

Am 23. Mai bin ich niemals anderswo als hier, erwiderte er.

Fräulein Tuttle hätte einen Berater gebraucht.

Ah, das glaube ich schon.

Sie wären doch gewiß in der Lage gewesen, ihr einen guten Rat zu geben.

Und einen willkommenen, he?

Ich glaubte kaum, daß Herrn Moores Rat Fräulein Tuttle sehr willkommen gewesen wäre, behielt meine Meinung aber für mich. Nichtsdestoweniger ergriff er den Vorteil, den er offenbar gewonnen zu haben glaubte, und fuhr milder oder vielmehr ohne eine Spur von Gefühl fort:

Fräulein Tuttle kann mich noch weniger leiden, als es Veronika tat. Ich glaube nicht, daß sie meine Gegenwart bei ihren Beratungen geduldet hätte – sicherlich hätte sie sie nicht gewünscht. Aber eins möchte ich ihr mitteilen – ihr und der Welt im allgemeinen. Jede Geldsumme, deren sie in dieser – in dieser unglücklichen Krisis ihres Lebens bedürfen sollte, wird sie voll zu ihrer Verfügung finden. Sie hat keine Ansprüche an mich, aber dies macht in einem Falle, in dem die Familienehre engagiert ist, wenig aus. Der Mann ihrer Mutter war mein Bruder – das Mädchen soll alles haben, was es braucht.

Er näherte sich seinem Wagen.

Eine feine Equipage? bemerkte er in fragendem Tone.

Ich pflichtete ihm bei mit aller Bewunderung, allem Staunen sogar, das sein hoheitsvoller Egoismus als Tribut zu fordern schien.

Es ist die beste, die mir Downey in der kurzen Zeit, die ich ihm dafür bewilligte, besorgen konnte. Wenn ich erst tatsächlich das Geld in den Händen habe, dann können wir ja weitersehen.

Er hatte den Fuß auf den Wagentritt gesetzt und sah nach dem westlichen Horizont. Die Sonne war im Untergehen begriffen, aber noch nicht ganz verschwunden. Haben Sie denn ein besonderes Anliegen an mich? fragte er, anscheinend absichtlich solange wartend, bis der letzte Strahl der Sonne verschwunden war.

Ich sah auf den Kutscher, der wie aus Stein gemeißelt auf seinem Bocke saß.

Sie können ruhig sprechen, bemerkte der alte Herr; Cäsar hat weder Ohren noch Augen für etwas anderes als seine Pferde, wenn er mich fährt.

Der Schwarze zuckte mit keiner Wimper. Er fühlte sich so heimisch auf seinem Bocke und ging so vollständig in seinem Dienste auf, als hätte er seinen Herrn schon jahrelang gefahren.

Er weiß, was seines Amtes ist, setzte der alte Mann hinzu, diesmal aber ohne jeden Anflug von Stolz. Was haben Sie mir zu sagen?

Ich zögerte nicht länger.

Fräulein Tuttle soll an dem Abend, an dem Sie uns riefen, heimlicherweise im Moorehause gewesen sein. Sie selbst räumt dies ein. Ich weiß, Sie haben beschworen, daß Sie niemand in das Haus haben gehen sehen; haben Sie aber trotzdem kein Mittel, um der Polizei und der Welt im allgemeinen zu beweisen, daß nicht sie es war, die jenen verhängnisvollen Schuß abfeuerte? Die öffentliche Meinung ist so grausam. Fräulein Tuttle wird zugrunde gerichtet, mag sie unschuldig oder schuldig sein, wenn es sich nicht unwiderleglich dartun läßt, daß sie die Bibliothek nicht eher betrat, bevor sie mit dem Polizisten hinkam.

Und wie kommen Sie auf die Vermutung, daß ich in der Lage bin, gerade dies zu beweisen? Angenommen, ich hätte den ganzen Abend über an meinem Vorderfenster gesessen und fortwährend mit der gespanntesten Aufmerksamkeit die Haustür beobachtet, durch die von Sonnenuntergang an bis Mitternacht so viele Menschen ein- und ausgegangen sind – was ich nicht getan habe, wie ich klar und deutlich beschworen – wie können Sie erwarten, daß ich gesehen habe, was in dem finsteren Innern eines Hauses vor sich ging, dessen Aeußeres zur Nachtzeit kaum über die Straße hinweg zu unterscheiden ist?

Dann können sie ihr also nicht helfen? fragte ich.

Mit einer leichten Verbeugung stieg er in den Wagen. Während er sich setzte, bemerkte er höflich:

Ich würde mich freuen, wenn es in meiner Macht stände. Denn obgleich sie nicht zur Familie Moore gehört, so steht sie ihr doch so nahe, daß deren Ehre dabei engagiert ist. Da ich sie aber das Haus nicht habe betreten sehen, so kann ich in keinerlei Weise etwas zu ihren Gunsten bezeugen. Nach Hause, Cäsar, und zwar rasch. Diese Abendnebel bekommen mir nicht.

Und sich mit einer Miene zurücklehnend, in der sich Zufriedenheit mit sich selbst, mit seinem Wagen und der Aussicht auf unbegrenzten Lebensgenuß spiegelte, fuhr der letzte Vertreter der berühmten Familie Moore rasch davon.


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