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Elftes Kapitel

Loretta wurde entlassen, und der Coroner wandte sich nunmehr an Francis Jeffrey, der sich bleich und mit den Spuren des quälendsten Seelenschmerzes in seinen Zügen erhob.

Nach den einleitenden Fragen nahm der Coroner das Blatt Papier mit den zwei bis drei Zeilen zur Hand, das, wie Jeffrey erklärt hatte, von seiner Frau für ihn zurückgelassen worden war, und fragte:

Ist dies die Handschrift Ihrer Gattin?

Jeffrey bejahte hastig, nachdem er einen kurzen Blick auf das ihm dargereichte Blatt Papier geworfen hatte.

Der Coroner wurde dringender:

Betrachten Sie die Schrift genau, sagte er. Sie zeugt von großer Hast und ist stellenweise kaum lesbar. Sind Sie bereit, zu beschwören, daß diese Worte von Ihrer Gattin und nicht von jemand anders geschrieben worden sind?

Jeffrey tat mit einem ganz leichten, unmutigen Zusammenziehen seiner Brauen, was ihm geheißen worden war. Er nahm das kleine Blatt Papier zur Hand und prüfte es genau oder schien dies wenigstens zu tun.

Es ist die Handschrift meiner Gattin, erklärte er ungeduldig. Die Worte sind, wie jedermann sehen kann, in großer Aufregung geschrieben, aber es ist ganz zweifellos die Schrift meiner Frau.

Wollen Sie uns diese Worte laut vorlesen? fragte der Coroner.

Jeffrey kam dem Ansuchen des Beamten festeren Tones nach, als ich erwartet hatte, und las:

»Ich finde, daß ich Dich nicht so liebe, wie ich es glaubte. Ich kann nicht länger leben, seit ich weiß, daß dies der Fall ist. Möge mir Gott verzeihen! Veronika.«

Als das letzte Wort mit einem leichten Zittern von Jeffreys Lippen gefallen war, begann der Coroner von neuem:

Sie glauben immer noch, daß diese Zeilen von Ihrer Gattin an Sie gerichtet waren, daß sie in kurzen Worten einen Aufschluß über ihren Tod enthalten?

Gewiß.

Meine Gattin, fuhr Jeffrey nach einer Pause fort, war nicht mehr ganz Herrin ihrer Sinne und befand sich in einem überreizten, leidenden Zustande. Jemandem, der so nervös erregt ist, muß manches zugute gehalten werden.

Warum schienen Sie denn aber so erleichtert aufzuatmen, als Sie diese doch keineswegs beruhigende Aufklärung erhielten?

Bei dieser nicht mißzuverstehenden Verdachtsäußerung geriet Jeffrey zum ersten Male in heftige Erregung.

Wessen Zeugnis haben Sie dafür? rief er. Das eines Dienstmädchens, das erst so kurze Zeit in meinem Hause war, daß ich nicht einmal sein Gesicht kannte. Sie werden zugeben müssen, daß man einer Person von so geringer Erfahrung schwerlich zutrauen kann, mich zu kennen oder meine innersten Empfindungen richtig aufzufassen, nachdem sie einen flüchtigen Blick auf mein Gesicht geworfen hat.

Wir haben nicht nur das Zeugnis dieses Dienstmädchens, versetzte der Coroner. Der Umschwung in Ihrer Stimmung fiel auch noch zahlreichen anderen Personen auf. Dies können wir den Geschworenen beweisen, wenn es gewünscht werden sollte.

Aber niemand von den in ernster Aufmerksamkeit lauschenden Herren ergriff das Wort, und so fragte der Coroner weiter, ob Jeffrey aus freien Stücken über diesen Punkt genügenden Aufschluß geben könne. Da er keine Antwort erhielt, ging er in seinem Verhöre von den Vermutungen zur Erörterung der Tatsachen über.

Wo fanden Sie das Blatt Papier mit den letzten Worten Ihrer Gattin? fragte er zunächst.

In einem Buch, das ich von dem Bücherbrett in unserem Zimmer im ersten Stock nahm. Als Loretta mir den Auftrag meiner Gattin ausrichtete, wußte ich, daß ich ein Wort von ihr in einer Novelle finden würde, die wir soeben ausgelesen hatten. Da wir uns seit unserer Hochzeit nur mit einem einzigen Buche beschäftigt hatten, so konnte ich keinen Augenblick im Zweifel sein, welches gemeint war. Es führte den Titel »Vergeltung« und stand auf dem Bücherbrett rechts von der Tür zum Schlafzimmer. Der Einband ist ziemlich auffallend, rot und grün, und so konnte ich es bald finden.

Der Coroner war ein methodischer Herr, und seine Absicht ging augenscheinlich dahin, zu beweisen, daß die Annahme eines Selbstmordes von seiten Frau Jeffreys geeignet sei, Zweifeln zu begegnen. Zunächst fragte er ihn, wie er sich den Blutfleck an dem Trauringe seiner Frau und die leichte Verletzung an deren Hand erkläre, und ließ durchblicken, er glaube an einen heftigen Streit zwischen den beiden Gatten, in deren Verlauf Jeffrey seiner Frau den Ring gewaltsam vom Finger gerissen habe. Er schenkte daher der Versicherung des Zeugen, er habe sich weder in der Unterredung mit seiner Gattin selbst noch in der darauffolgenden mit ihrer Schwester irgendwie hinreißen lassen, keinen Glauben, nötigte ihn vielmehr zu der Erklärung, daß sich seine Unterredung mit Fräulein Tuttle nicht um erfreuliche Dinge gedreht habe, daß keine Versöhnung mit seiner Gattin darauf erfolgt sei und daß er in den sechsunddreißig Stunden, die vergangen waren, ehe er nach Hause zurückkehrte, keinen Versuch unternommen habe, seine Gattin zu besänftigen, die er nach seiner eigenen Aussage für die Unvorsichtigkeiten, die sie etwa begangen haben mochte, verantwortlich machte. Dann brachte er die Rede auf das Freundschafts-, wenn nicht gar Liebesverhältnis zwischen Jeffrey und Fräulein Tuttle; es nützte ersterem nichts, daß er ein solches in Abrede stellte, er wurde durch mehrere einwandfreie Zeugen, die von dem Gegenteil zu berichten wußten, überführt.

Der Coroner hob jetzt das Blatt Papier mit den so oft angeführten mitleiderregenden Zeilen abermals empor und fragte den Zeugen, ob er je eine Aehnlichkeit zwischen der Handschrift seiner Gattin und der Fräulein Tuttles bemerkt habe. Auf die Erwiderung Jeffreys, er könne dies nicht beurteilen, da er zu wenig von der Handschrift Fräulein Tuttles gesehen habe, ließ der Coroner den Geschworenen Proben von der Handschrift der jungen Dame vorlegen, die eine so auffallende Aehnlichkeit mit den Schriftzügen auf dem verhängnisvollen Zettel zeigten, daß die Herren ein erstauntes Murmeln hören ließen. Der Coroner stellte nun mit lauter Stimme die fast völlige Uebereinstimmung in der Handschrift der beiden Schwestern fest und fragte Jeffrey, was er dazu sage. Dieser antwortete nur durch ein Achselzucken.

Doch der Coroner hatte noch stärkere Waffen in Bereitschaft. Er rief Loretta von neuem auf, und diese erzählte auf seine Fragen, sie habe sich, nachdem Frau Jeffrey fortgegangen, in deren Zimmer begeben, um es in Ordnung zu bringen, habe sich aber, als sie damit fertig gewesen, an dem Tische verweilt und, von Neugier getrieben, in einigen Briefen gelesen, die dort herumlagen, die aber, wie der Coroner feststellte, nichts mit der Untersuchung zu tun hatten. Da habe sie Fräulein Tuttle an der Tür gehört, und ihr erster Gedanke sei gewesen, sich zu verstecken, damit die Dame ihren Vorwitz nicht bemerke. Sie sei hinter einen Fenstervorhang geschlüpft gerade in dem Augenblicke, als Fräulein Tuttle eintrat, und habe ganz genau sehen können, was die Dame tat, da der Vorhang nicht ganz zusammengezogen war. Sie trat zuerst zu den Bücherbrettern, nahm ein Buch herunter, dessen Einband grün aussah und mit roten Figuren bedeckt war, genau so, wie das vor dem Coroner liegende, schlug es auf, schloß es aber sofort wieder und stellte es an seinen Platz zurück. Ob Fräulein Tuttle etwas in das Buch gelegt habe, konnte die Zeugin nicht angeben, da die Dame ihr die ganze Zeit über den Rücken zugekehrt hatte. Dann habe sie sich in der größten Aufregung und sich verschiedene Male scheu umblickend in das anstoßende Zimmer begeben, wo Herrn Jeffreys Schreibtisch stand, und sei vor diesem stehen geblieben. Sie habe nun den oberen Schubkasten herausgezogen und in offenkundiger Gemütsbewegung ihre Hand hineingesteckt. Was sie herausnahm oder ob sie überhaupt etwas herausnahm, konnte die Beobachterin nicht bemerken, denn als sie den Schubkasten an seinen Platz zurückstoßen hörte, zog sie den Vorhang fest zu, da, wenn Fräulein Tuttle zurückkam, sie gerade dieses Fenster vor Augen gehabt hätte. Indessen wagte sie noch ab und zu einen Blick, gerade als die junge Dame das Zimmer verließ, und erinnerte sich, als sei es gestern gewesen, wie kreideweiß ihr Gesicht ausgesehen habe und wie sie ihre linke Hand gegen die Falten ihres Kleides preßte. Nur wenige Minuten später verließ Fräulein Tuttle das Haus.

Die Bedeutung dieser Aussage lag klar auf der Hand: es konnte nur die Pistole sein, die Fräulein Tuttle gesucht und eventuell mitgenommen hatte.

Der Coroner rief nun Jeffrey wieder auf und legte ihm die Frage vor, ob er seine Gattin an jenem Abend nach dem Moorehause begleitet habe oder zu irgend einer früheren Stunde dort gewesen sei als zu der Zeit, da er von dem Beamten dorthin begleitet worden sei. Anfangs verneinte Jeffrey beide Fragen, gab dann aber, als man die Abdrücke der Fingerspuren zeigte, zögernd zu, im Moorehause gewesen zu sein; er sei im Besitz des Schlüssels zu dem alten Hause gewesen, und da habe es ihm in seiner nervösen Stimmung eine wohltuende Zerstreuung gewährt, durch die verfallenen Gemächer zu wandern. Er könne sich aber auf keine Einzelheit mehr entsinnen, da er fortwährend an das Zerwürfnis mit seiner Gattin habe denken müssen. Natürlich diente diese offenkundige Ausflucht nicht dazu, den Verdacht, der auf den beiden lastete, zu verscheuchen.

Mittlerweile war es spät geworden, und die Atmosphäre des Saales war drückend; aber niemand schien sich dieser Unannehmlichkeit bewußt zu sein, und ein allgemeines Ah! der Erregung ging durch den Saal, als der Coroner eine Schachtel unter einem Stoß Papiere hervorholte und das berühmte weiße Band mit der zierlichen Schleife, das an den Kolben der verhängnisvollen Pistole geknüpft war, herausnahm. Als er nun das Band in die Höhe hob und fragte: Sie kennen dieses Band?, so wurden wir mehr durch den unwillkürlichen Schrei des Erstaunens überrascht, der aus den Reihen der Zuhörer in der Nähe der Tür erklang, als durch den Blick, mit dem Jeffrey es betrachtete und dann die erforderliche Antwort gab. In diesem Schrei lag mehr als Nervenerregung. Da ich in der Frau, die ihn ausgestoßen hatte, eine in der Stadt wohlbekannte etwas seltsame Dame, ein Fräulein Nixon, erkannte, schickte ich einen Polizisten zu ihrer Überwachung ab; dann lenkte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den Gegenstand der Verhandlung. Der Coroner hatte Jeffrey genötigt, das Band als das anzuerkennen, mit dem die Pistole an den Arm seiner Gattin befestigt gewesen war; nun fragte er weiter, ob seiner Meinung nach sich eine Frau eine solche Schleife an ihr eigenes Handgelenk binden könne, und als Jeffrey dies notgedrungen verneinte, machte er zum drittenmal eine kleine Pause, bevor er den allgemeinen Verdacht in die Worte zusammenfaßte: Können Sie nicht auf irgendwelche Art oder durch irgend einen Zeugen nachweisen, daß es Dienstag- und nicht Mittwochabend war, als Sie der Stätte Ihrer Trauung und des Todes Ihrer Frau Gemahlin den Besuch, von dem Sie sprechen, abstatteten?

Ich kann nur wiederholen, entgegnete Jeffrey, was ich Ihnen schon gleich nach dem unglückseligen Ereignisse mitgeteilt habe, daß nämlich mein Freund Tallman, den ich am Mittwochabend gegen sieben Uhr am Tor des Rock Creek-Kirchhofs antraf und der dies zu bekunden imstande ist, am folgenden Tage, wie er mir mitteilte, verreisen mußte und noch nicht zurückgekehrt ist.

Das ist allerdings schlimm für Sie, versetzte der Coroner ernst; Herr Tallman ist zwar zu der von Ihnen angegebenen Zeit verreist, wie wir festgestellt haben; aber dadurch wird Ihre Angabe, daß Sie mit ihm am Mittwochabend zusammengetroffen sind, noch nicht bestätigt.

In diesem Augenblick näherte sich ein Gerichtsdiener dem Coroner und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dieser blickte erstaunt auf und sagte zu Jeffrey in einem weit freundlicheren Tone, als er ihn bisher gegen ihn angeschlagen hatte: Sie können von Glück sagen; Herr Tallman ist zurückgekehrt und hat sich soeben gemeldet, um sein Zeugnis abzulegen.

Er gab sofort Befehl, den neuen Zeugen in den Saal zu führen, und ich werde nie das Gemurmel unterdrückter Erregung vergessen, das Tallman empfing, als er in Begleitung des Gerichtsdieners im Saale erschien.

Jeffrey lächelte schwach, als er seinen Freund und Retter in der Not erblickte. Nach den nötigen Formalitäten erklärte Tallman mit wenigen Worten, er habe erst vor einigen Tagen erfahren, welch schlimme Wendung die Angelegenheit für seinen Freund Jeffrey genommen habe, und sei Tag und Nacht gereist, um sobald wie möglich nach Washington zurückzukehren. Er komme direkt vom Bahnhof in den Gerichtssaal und müsse um Entschuldigung bitten, daß er in seinen Reisekleidern erscheine; er habe aber geglaubt, sich ohne Verzug hier melden zu müssen.

Er wurde darauf vereidigt und bestätigte Jeffreys Aussage in allen Punkten. Er habe seinen Freund an dem bezeichneten Tage abends sieben Uhr am Tore des Rock Creek-Kirchhofes getroffen, also nur fünfzehn Minuten, bevor Frau Jeffreys Uhr infolge des Zusammenbrechens ihrer Trägerin in dem alten Hause an der Waverley-Avenue stehen geblieben war. Da die Entfernung zwischen diesen beiden Punkten in so kurzer Zeit nicht zurückgelegt werden konnte, so war Jeffreys Alibi damit unwiderleglich dargetan.

Nachher wurde noch Onkel David kurz vernommen, dessen Aussage den Besuch Jeffreys am Dienstagabend zu bestätigen schien, da er erklärte, sowohl an diesem wie an dem folgenden Abend Licht im Moorehause gesehen zu haben. Sonst aber bestritt er auf das entschiedenste, irgend jemand das Haus selbst betreten gesehen zu haben.

Nach seiner Vernehmung wurde die Sitzung vertagt, und wir erhoben uns alle, froh über diese Unterbrechung, die uns die Möglichkeit freier Bewegung und offener Aussprache gewährte.


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