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Achtes Kapitel

Die Person, die die Spuren ihrer Anwesenheit in dem oberen Zimmer des Moorehauses zurückgelassen hatte, war also nicht der Mann, der beim Volke unter dem Namen Onkel David bekannt war. Wer war es denn nun gewesen? Nur ein Name drängte sich mir auf – der Herrn Jeffreys.

Es war nicht so leicht für mich, bis zu diesem Manne vorzudringen wie bis zu seinem seltsamen und unformellen Onkel. Erstens blieb seine Tür seit dem Tode seiner Gattin für jedermann geschlossen. Weder Bekannte noch Fremde fanden Einlaß, wenn sie nicht mit einem amtlichen Ausweise von seiten des Coroners kamen. Und selbst wenn ich einen solchen hätte erhalten können, so würde mir dies wenig genutzt haben. Was ich zu sagen und zu tun hatte, würde besser zu einer zufälligen Begegnung gepaßt haben. Aber es schien sich mir keine Aussicht auf ein derartiges Zusammentreffen mit diesem Herrn zu bieten, und endlich demütigte ich meinen Stolz und bat den Leutnant abermals um eine Vergünstigung. Würde er die Güte haben, dafür zu sorgen, daß ich einmal Gelegenheit erhielte, irgend einen Brief zu besorgen oder einen Auftrag auszurichten, der es mir möglich machen würde, mit Herrn Jeffrey zusammenzutreffen? Wollte er diese Güte haben, so wäre ich bereit, ihm zu versprechen, daß ich ihn nicht mit weiteren Anliegen belästigen würde.

Ich glaube, mein Vorgesetzter beargwöhnte mich seitdem; er machte aber keine Bemerkung, und nach einigen Tagen erhielt ich den Auftrag, ein Schreiben nach der K.-Straße zu befördern.

Am Tage zuvor hatte Frau Jeffreys Leichenbegängnis stattgefunden, und das Haus schien leer zu stehen. Auf mein Läuten erschien bald ein sauber aussehendes, aber sehr aufgeregtes Mädchen, dessen Augen einen unverkennbar abweisenden Ausdruck annahmen, als ich meinen Auftrag ausrichtete und Herrn Jeffrey zu sprechen verlangte. Dieser Ausdruck würde mich nicht überrascht haben, wenn sie eine Einwendung gegen die gewünschte Unterredung erhoben hätte. Aber sie tat es nicht. Ihre Furcht und ihre Abneigung entsprangen folglich aus einer anderen Quelle als ihrem Interesse an dem Manne, der am meisten durch meinen Besuch bedroht war. War sie um ihre eigene Person besorgt? Da ich mich dessen erinnerte, was ich auf der Wache über ein Mädchen bei Jeffrey hatte tuscheln hören, das stets auf dem Punkte zu stehen scheine, etwas zu sagen, was aber in Wirklichkeit nie über ihre Lippen komme, hielt ich sie zurück, als sie die Treppe wieder hinaufschlüpfen wollte und fragte sie ruhigen Tones:

Sind Sie Loretta?

Die Art, in der sie sich umdrehte, die Art, in der sie mich ansah, eine kurze bejahende Antwort gab und dann rasch ihres Weges ging, verschaffte mir die Ueberzeugung, daß meine Kollegen recht hatten, wenn sie sie für eine Person hielten, die Veranlassung zur Furcht vor der Polizei habe. Ich beschloß sofort, in dieser Richtung weitere Nachforschungen anzustellen, und ich hatte ja auch in dem klugen kleinen Mädchen den besten Bundesgenossen dafür.

Im nächsten Augenblick kam Loretta zurück, und ich hatte abermals Gelegenheit, ihr hübsches, aber ausdrucksloses Gesicht zu beobachten, in dem nur die unruhig flackernden Augen Charakterstärke und Entschlossenheit verrieten.

Herr Jeffrey befindet sich oben in dem Hinterzimmer, erklärte sie. Er läßt Sie bitten, heraufzukommen.

Ist es das Zimmer, das Frau Jeffrey zu bewohnen pflegte? fragte ich mit unverhüllter Neugier, als ich an ihr vorüberschritt.

Ein unwillkürlicher Schauder verriet, daß sie nicht ohne Gefühl war. Sie protestierte eifrig gegen diese Vermutung und entgegnete:

Nein, nein! Diese Zimmer sind verschlossen. Herr Jeffrey bewohnt das, welches Fräulein Tuttle vor ihrer Abreise benutzte.

O, dann ist Fräulein Tuttle fort?

Loretta antwortete nicht. Sie hatte schon zuviel gesagt; denn sie biß sich auf die Lippen, als sie auf der Treppe zum Souterrain verschwand. Die Polizeibeamten hatten entschieden recht. Ein unbehagliches Gefühl beschlich mich nach der Unterredung mit diesem Mädchen. Und doch zeigte es trotz seines hinterhältigen Wesens auch eine gewisse offenherzige Ehrlichkeit, sodaß ich der Ansicht war, man könne sich, wenn man sie einmal zum Sprechen gebracht habe, auf ihre Aussagen verlassen.

Herr Jeffrey saß mit dem Rücken der Tür zugewandt, als ich eintrat, kehrte sich aber um, als ich seinen Namen nannte, und streckte die Hand aus, um das Schreiben, das ich überbrachte, in Empfang zu nehmen. Ich erwartete nicht, daß er sich meiner als eines der Männer erinnerte, die in jener Nacht im Moorehause geweilt hatten, und sah mich in dieser Erwartung auch nicht getäuscht. Für ihn war ich lediglich ein Bote, ein gewöhnlicher Polizist, und er beachtete mich daher auch nicht im geringsten, während ich ihn mit der gespanntesten Aufmerksamkeit, die ich je in meinem Leben angewandt hatte, betrachtete. Bis dahin hatte ich ihn nur bei halbem Lichte oder unter Umständen gesehen, die mich an der Bildung eines erschöpfenden Urteils über ihn verhinderten. Nun aber saß er mir gegenüber, während das helle Tageslicht voll auf sein Gesicht fiel, und ich hatte ausreichende Gelegenheit, seine Züge sowohl wie deren Ausdruck zu studieren. Er besaß ein vornehmes Aeußere, aber die Wolke, die auf seiner Stirn lagerte, war so schwer und finster, wie ich sie kaum bei einem anderen Manne seiner Stellung und seines Charakters bemerkt hatte. So sehr er sich auch durch düstere Gedanken bedrückt zu fühlen schien, war sein Wesen doch nicht ganz so, wie ich es erwartet hatte.

Sein Auge war groß und klar, aber der Schleier, der in diesem Momente die Heiterkeit seines Blickes verbarg, war aus Argwohn, nicht aus Tränen gewoben. Er schien sich vor einer genauen Beobachtung zu scheuen und rückte auf seinem Stuhle unruhig hin und her, solange ich vor ihm stand, obgleich er nichts sagte und seine Augen von dem Briefe, den er durchlas, nicht aufhob, bis er hörte, wie ich zu der Tür, die ich absichtlich offen gelassen hatte, zurückging und sie leise schloß. Jetzt sah er mit einem scharfen Blicke auf, der eine Unruhe zeigte, wie sie in diesem Falle gar nicht am Platze war – vorausgesetzt nämlich, daß Jeffrey keine Geheimnisse zu hüten hatte.

Sind Sie so empfindlich gegen Zug? fragte er, indem er mich zugleich durch ein leichtes Erheben vom Stuhle verabschiedete.

Ich verneinte lächelnd, und da ich glaubte, mir durch Offenheit sein Vertrauen am ehesten erwerben zu können, ging ich mit klaren und deutlichen Worten direkt auf mein Ziel los.

Ich bitte um Verzeihung, Herr Jeffrey; ich habe Ihnen aber etwas mitzuteilen, was sich nicht gerade für die Ohren der Dienerschaft eignet. Als er seinen Stuhl mit einem plötzlichen Ruck zurückschob und aufstand, fuhr ich zuversichtlich fort: Es ist keine Polizeiangelegenheit, sondern eine ganz und gar persönliche. Sie kann Ihnen wichtig oder unwichtig erscheinen – je nachdem. Ich war der Mann, Herr Jeffrey, der im alten Familiensitz der Moore jene unglückliche Entdeckung machte, die dieses Haus in Trauer gestürzt hat.

Er erschrak über diese Ankündigung. Scheu streiften seine Augen erst die eine Tür und dann die andere, als sei er es jetzt, der einen unbefugten Horcher zu fürchten habe.

Ich bitte Sie um Verzeihung, daß ich über eine so peinliche Sache spreche, fuhr ich fort, sobald ich sah, daß er bereit war, mich anzuhören. Eine Entschuldigung für mich liegt darin, daß ich in jener Nacht auf eine Kleinigkeit stieß, die ich nicht für wichtig genug hielt, um mit jemand anders darüber zu sprechen, die aber vielleicht für Sie von Interesse ist.

Hierbei nahm ich aus einem Buche, das ich in der Hand hielt, ein Blatt Notizpapier, das auf der einen Seite weiß und auf der anderen blau war. Die weiße Seite hatte ich stark mit Kreide eingerieben, obgleich dies nicht zu sehen war. Ich legte dieses Blatt Papier mit der weißen Seite nach oben auf den Rand eines großen Tisches, in dessen Nähe wir standen, zog einen Briefumschlag aus meiner Tasche und bemerkte, indem ich diesen langsam hin- und herbewegte:

In einem oberen Zimmer des Moorehauses – Sie entsinnen sich doch des südwestlichen Zimmers, Herr Jeffrey?

O, ob er es tat! Es war kein Zweifel möglich, nach dem Zusammenfahren und der Unruhe zu urteilen, mit der er dieses Zimmer nennen hörte.

In jenem Zimmer nun fand ich dies.

Ich öffnete den Umschlag und streute einige von den glänzenden Feilspänen, die ich an dem erwähnten Platze gefunden hatte, auf die Oberfläche des Papiers.

Er beugte sich erstaunt über sie. Dann schob er sie, wie es natürlich war, mit seinen Fingerspitzen zu einem Häufchen zusammen und betrachtete sie abermals, gerade als ich so tief ausatmete, daß sie sich weithin zerstreuten.

Unwillkürlich zog er seine Hand zurück; ich benutzte die Gelegenheit und drehte das Blatt um, indem ich die wortreichsten Entschuldigungen vorbrachte. Dann ließ ich das Papier liegen, wo es lag, als wünsche ich meine Ungeschicklichkeit nicht zu wiederholen, streute die wenigen Feilspäne, die ich noch übrig hatte, in meine flache Hand und hielt sie in einer Weise gegen das Licht, daß er genötigt war, sich über den Tisch zu lehnen, um sie zu sehen. Da ich die Entfernung sorgfältig berechnet hatte, berührten seine Fingerspitzen, die mit der Kreide in Berührung gekommen waren, die blaue Fläche des Papiers, die jetzt nach oben lag, und ließen hier ihre Spuren zurück.

Ich hätte in meiner Freude über das Gelingen des gewagten Manövers laut aufschreien können, unterdrückte aber meine Erregung und stand ganz still, während er die Feilspäne sorgfältig betrachtete. Sie schienen ein ungewöhnlich großes Interesse für ihn zu besitzen, und schließlich fragte er mit auffallend bewegter Stimme:

Was glauben Sie, daß dies ist, und wozu bringen Sie es mir her?

Meine Antwort lag unter seiner Hand geschrieben, aber es fiel mir natürlich nicht ein, ihm dies mitzuteilen. So legte ich denn mein Gesicht in die freundlichsten Falten und entgegnete in achtungsvollem Tone:

Ich weiß nicht, was ich aus den Spänen machen soll. Sie sehen wie Gold aus; aber dies zu entscheiden ist Ihre Sache. Wünschen Sie sie zu behalten, Herr Jeffrey?

Nein, versetzte er, sich gerade aufrichtend und seine Hand von dem Blatt Papier wegnehmend. Es ist eine reine Lappalie und nicht der geringsten Beachtung wert. Aber ich danke Ihnen, daß Sie den Fund zu meiner Kenntnis gebracht haben.

Und wieder nahm er eine kühl abweisende Haltung an.

Diesmal fügte ich mich ohne Widerrede. Nachlässig legte ich das Blatt Papier wieder in das Buch, aus dem ich es genommen hatte, machte eine Verbeugung und zog mich zurück. Er schien nachdenklich zu sein, und die tiefen Furchen, die, wie ich überzeugt bin, vor einer Woche noch nicht auf seiner Stirne eingegraben gewesen waren, wurden deutlich sichtbar. Endlich begann er:

Frau Jeffrey war nicht recht bei Sinnen, als sie jene unglückselige Tat beging. Ich weiß jetzt, daß die Veränderung in ihrem Wesen bis zu ihrer Hochzeit zurückreicht; daher darf man sich über manche kleine Sonderbarkeiten, die sie in den letzten Tagen gezeigt haben mag, nicht wundern.

Gewiß nicht, fiel ich dreist ein, namentlich wenn sich jene Sonderbarkeiten nach dem Schreck zeigten, den ihr die Katastrophe in der Bibliothek einjagte.

In seinen Augen, die fest auf die meinen gerichtet waren, flammte es auf, und seine Hände ballten sich krampfhaft zusammen.

Wir wollen von diesem Ereignis nicht sprechen, murmelte er, indem er sich wieder auf seinen Stuhl setzte, von dem er sich erhoben hatte.

Ich verbeugte mich und verließ das Zimmer. Ich dachte über diese Unterredung nicht nach, noch gestattete ich mir, irgendwelche Folgerungen aus ihr zu ziehen, ehe ich nicht das Blatt Papier mit in das südwestliche Zimmer des Moorehauses genommen und die Fingerabdrücke auf ihm sorgfältig mit den in die Oberfläche des Kaminsimses geritzten Zeichen verglichen hatte. Dies tat ich, indem ich die einen auf die anderen legte, nachdem ich an den Stellen, an denen Jeffreys Fingerspitzen das Papier berührt hatten, Löcher eingeschnitten hatte.

Die Löcher in dem Papiere und die in den Sims geritzten Zeichen paßten genau aufeinander.


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