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Siebzehntes Kapitel

Keine Worte vermögen es auszudrücken, wie lang mir diese Rückreise wurde. Die Angelegenheit, die alle meine Gedanken beschäftigte, war noch allzusehr in Dunkel gehüllt, als daß ich sie anders als mit aufgeregtem, prüfendem Blick hätte betrachten können. Während ich mich mit neuerwachter Hoffnung hartnäckig an den Faden anklammerte, der mir in die Hand gelegt worden war, so stand ich doch zu sehr unter dem Bewußtsein, wie verschlungen das Labyrinth war, durch das ich noch meinen Weg finden mußte, um jene Leichtigkeit des Geistes zu empfinden, die an sich diese Tage erzwungener Untätigkeit hätte erträglich machen können. Um mir über die Länge der Reise hinwegzuhelfen, fertigte ich eine vollständige Analyse der Tatsachen an, wie sie mir in dem Lichte des neuesten Zeugenmaterials erschienen. Das Resultat war nicht übermäßig ermutigend, doch will ich es einfügen, wenn auch nur als Beweis für meinen Fleiß und das ungemeine Interesse, das ich in all und jedem Stadium dieses verwickelten Falles betätigte. Es ist wieder in der Form einer Uebersicht gehalten und lautet wie folgt:

1. Die dringende Bitte um eine Unterredung, die Fräulein Moore während der letzten halben Stunde vor ihrer Trauung übermittelt wurde, rührte nicht von dem Bräutigam her, wie ich angenommen hatte, sondern von dem sogenannten Fremden, Herrn Pfeiffer.

2. Ihre Antwort auf diese Bitte bestand in dem Befehle, jenen Herrn in die Bibliothek zu führen und ihn zu bitten, Platz zu nehmen.

3. Der Bote, der diesen Befehl überbracht hatte, hatte unmittelbar bevor oder nachdem der erwähnte Herr nach der Bibliothek geleitet worden war, eine eifrige Unterredung mit Herrn Jeffrey gehabt.

4. Der Tod ereilte Herrn Pfeiffer, ehe die Braut Zeit fand, sich zu ihm zu begeben.

5. Fräulein Moore blieb bis nach der Trauung in Unkenntnis der Katastrophe, da ihr von den wenigen Personen, die Zutritt zu ihr erhielten, ehe sie zur Trauung herunterkam, keine Mitteilung davon gemacht wurde; doch wurde bemerkt, daß sie auf unerklärliche Weise zusammenschrak, als ihr Gatte sie küßte, und als sie von dem furchtbaren Ereignis Kunde erhielt, vor dem sie alle ihre Gäste fliehen sah, verließ sie in ganz veränderter Gemütsstimmung das Haus.

6. Nach all den erwähnten Tatsachen zu urteilen, war ihr jener Herr Pfeiffer wohlbekannt, vielleicht auch den übrigen Hochzeitsgästen; aber weder machte irgend jemand von diesen letzteren damals oder später eine dahin zielende Bemerkung, noch wurde von seiten des Ehepaars ein Widerspruch gegen die allgemein geäußerte Vermutung laut, dieser anscheinende Fremde aus dem Westen habe sich in die Bibliothek begeben, um eine ihm eigene krankhafte Neugier zu befriedigen.

7. Dagegen betrieb unmittelbar nachher Herr Jeffrey in außergewöhnlicher Weise die Entfernung der einzigen Zeugen, die die Wahrheit über jene verhängnisvollen zehn Minuten hätten sagen können; dies brachte aber der unglücklichen Frau keinen inneren Frieden, und sie erlebte niemals wieder einen wirklich glücklichen Augenblick.

8. Außergewöhnliche Bemühungen, etwas zu verbergen, deuten auf außergewöhnliche Veranlassungen zur Furcht hin. Um die näheren Umstände von Frau Jeffreys Tod voll zu verstehen, müßte man zuerst wissen, was sich in dem Mooreschen Hause zugetragen hatte, als Jeffrey von Curly Jim erfuhr, daß der Mann, der eine solche Macht über seine Braut besaß, daß er es wagen durfte, sie um eine Unterredung zu ersuchen, als sie gerade im Begriff stand, sich zu ihrer Trauung zu begeben, – daß dieser Mann in dem Zimmer saß oder sich eben setzen wollte, in welchem der Tod früher Hof gehalten hatte und wo er leicht bewogen werden konnte, abermals Hof zu halten.

Dies waren meine Schlußfolgerungen; zu weiteren konnte ich nicht gelangen und erwartete daher meine Ankunft in Washington mit der größten Ungeduld. Aber als ich wieder hier war und die Verantwortlichkeit für diese neue Untersuchung auf stärkere Schultern, als ich sie besaß, abgewälzt hatte, war ich im höchsten Grade erstaunt und auf das tiefste gekränkt, als ich bemerkte, daß die Angelegenheit unerklärlich langsam betrieben wurde und ich wahrnehmen mußte, daß trotz meiner sogenannten wichtigen Entdeckungen die Untersuchung gegen Fräulein Tuttle ihren Fortgang nahm und daß die unverkennbare Absicht bestand, den Fall in der nächsten Sitzungsperiode vor das Schwurgericht zu bringen.

Ob der Staatsanwalt die Schuld daran trug, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls lag ein mehr oder minder spöttischer Ausdruck in seinem Blicke, als wir uns zum erstenmal wieder trafen, und dies verdroß mich so, daß ich mir sofort vornahm, ohne Rücksicht auf seine Anschauungen mit aller Energie selbständig vorzugehen, nicht um das Hauptgeheimnis zu ergründen, das meinen Händen entschlüpft war, sondern um hinter die Ursache der gleichfalls unerklärten Todesfälle zu kommen, die sich von Zeit zu Zeit auf dem Sessel vor dem Kamin in der Bibliothek ereignet hatten.

Ich ließ mich nämlich durch nichts von der Ueberzeugung abbringen, daß die beiden Geheimnisse unlösbar miteinander verkettet seien, und daß die Lösung des einen Rätsels auch zur Lösung des andern führen werde.

Um die Wahrheit zu gestehen, hatte sich die Aufmerksamkeit der Kriminalpolizei so ausschließlich auf die vermeintliche Ermordung Frau Jeffreys konzentriert, daß man den übrigen Todesfällen kaum Beachtung geschenkt und den Fußboden, den Kamin und den alten Sessel noch gar nicht untersucht hatte. Ich hatte also zu meiner Genugtuung völlig freies Feld vor mir. Dazu kam, daß mein Selbstgefühl infolge meiner letzten Entdeckungen derart gewachsen war, daß ich vor keinem Hindernisse zurückschreckte. Ich telegraphierte daher zunächst auf eigene Hand nach Denver und ersuchte um möglichst schleunige Auskunft über Herrn W. Pfeiffer.

Da ich zu einer gründlichen Untersuchung der Bibliothek und ihrer Einrichtung einer besonderen Erlaubnis meiner Vorgesetzten bedurfte, so beschloß ich, meine Nachforschungen zunächst in einer anderen Richtung zu beginnen, da ich vorderhand niemand in meine Pläne einweihen wollte. Ich hatte die seltsamen Empfindungen noch nicht vergessen, die in dem südwestlichen Zimmer auf mich eingestürmt waren.

Während meiner Abwesenheit hatte die Bewachung des Hauses aufgehört. Aber die Schlüssel befanden sich noch im Besitze des Majors, und ich hatte keine Schwierigkeit, sie ausgehändigt zu bekommen. Da ich auch von dem Besitzer des Hauses nicht beobachtet sein wollte, so begab ich mich erst gegen Mitternacht, als alle Lichter in der gegenüberliegenden kleinen Villa erloschen waren, auf den Schauplatz all der schrecklichen Ereignisse, die ich mir zu ergründen vorgenommen hatte.

Wie zuvor suchte ich zuerst die Bibliothek auf. Es war von Wichtigkeit für mich, festzustellen, daß dieses Zimmer sich noch in seinem alten Zustande befand. Aber dies war nicht der einzige Grund, weshalb ich meine neuen Bemühungen mit einem Besuche dieser Stätte des Todes und geheimnisvollen Grauens beginnen wollte. Ich hatte noch einen anderen, der aber anscheinend so kindisch war, daß ich fast Bedenken trage, ihn zu erwähnen, und es auch nicht tun würde, wenn es nicht die nachfolgenden Ereignisse erforderten, diesen Grund anzuführen.

Ich wünschte mich zu vergewissern, ob ich auch alle Verdachtsmomente und bekannten Anhaltspunkte, die für meine Nachforschungen in Betracht kommen könnten, gehörig berücksichtigt hätte. Auf meiner langen Rückreise und während des stundenlangen Nachdenkens, zu dem mich diese genötigt hatte, war ich mehr als einmal durch flüchtige Visionen von Dingen, die ich in diesem alten Hause gesehen und später beinahe vergessen hatte, heimgesucht worden. Unter diesen befand sich das Buch, von dem ich bei der überstürzten Untersuchung in jener ersten Nacht festgestellt hatte, daß es noch vor ganz kurzer Zeit in jemandes Händen gewesen war. Die Aufmerksamkeit, die ich ihm in einem Augenblicke so drängender Eile hatte widmen können, war notgedrungen nur flüchtig gewesen, und als sich mir später eine zweite Gelegenheit bot, das Versäumte nachzuholen, hatte ich mich durch ein unbedeutendes Hindernis abschrecken lassen. Dies war ein Fehler, den ich jetzt wieder gutmachen wollte. Jeder Gegenstand, der, während sich eine so geheimnisvolle Tragödie abspielte, absichtlich berührt worden war – und die Stellung dieses Buches in einem Fache, das zufolge seiner Höhe nur mittelst eines Stuhles erreicht werden konnte, bewies, daß man es absichtlich gesucht und herausgenommen hatte – versprach einen Anhalt zu gewähren, den jemand, der sich auf einer so unsicheren Spur befand wie ich, unter keinen Umständen vernachlässigen durfte.

Als ich aber das Buch heruntergenommen hatte, wiederum seinen gänzlich uninteressanten und nichtssagenden Titel las und bei einem abermaligen Blicke auf seine vergilbten Seiten erkannte, daß mein Gedächtnis mich nicht getäuscht hatte, und daß es nichts anderes enthielt, als langweilige und ganz belanglose statistische Tabellen, so schwand das Vertrauen, das ich in den Band gesetzt hatte, als könne er mir bei meiner Untersuchung von Nutzen sein, genau so wie bei der ersten Gelegenheit. Ich stand im Begriff, ihn wieder an seinen Platz zu stellen, als mir der Gedanke kam, mit meiner Hand hinter die beiden Bücher zu fühlen, zwischen denen er stand. Ah, das war es! Ein anderes Buch stand flach gegen die Wand gelehnt hinten auf dem Regal, und als ich durch die Fortnahme der vor ihm stehenden Bücher in den Stand gesetzt worden war, es hervorzuziehen, so merkte ich bald, warum es an einem so versteckten Platze auf den Bücherbrettern der Mooreschen Bibliothek aufbewahrt wurde.

Es war eine Sammlung von unbekannten Memoiren einer Engländerin, die während der ersten Hälfte des Jahrhunderts in Amerika gelebt hatte und mehr oder weniger zu den Geheimnissen des Mooreschen Hauses in Washington in Beziehung gestanden hatte. Mehrere Stellen, namentlich eine, waren durch einen starken Bleistiftstrich am Rande bezeichnet. Da der Name Moore sowohl in diesen Stellen wie in ein paar vergilbten Zeitungsausschnitten, die auf die Innenseite des Einbandes geklebt waren, häufig vorkam, so machte ich mich ohne Zeitverlust an ihre Lektüre. Und so las ich:

 

»Ungefähr um dieselbe Zeit verbrachte ich eine Woche im Hause der Familie Moore, jenem geräumigen, geschichtlichen Gebäude, über das und über dessen Bewohner soviele seltsame Gerüchte im Umlauf sind. Ich wußte damals noch nichts von dem schlechten Rufe, in dem es stand; aber von dem ersten Augenblick an, als ich seine weiten, hellerleuchteten Flure betrat, hatte ich eine Empfindung, die ich nicht Furcht nennen möchte, die aber sicherlich nichts mit dem Entzücken zu tun hatte, mit dem die Anmut meiner Wirtin und der imposante Charakter des Hauses selbst mich sonst erfüllt hätten. Diese Gemütsbewegung war natürlich nur vorübergehend, wie es auch bei der herzlichen Begrüßung und dem außerordentlichen Interesse, das mir Callista Moore, die zu jener Zeit ein bezauberndes kleines Ding war, nicht anders möglich sein konnte. Klein bis zu einem Grade, daß sie beinahe winzig erschien, und ohne jede Bestimmtheit in Auftreten und Haltung, war sie nichtsdestoweniger eine Dame, die ihre ganze Umgebung beherrschte und ganz gegen ihren Willen, wie ich überzeugt bin, einen Eindruck von Unnahbarkeit, verbunden mit Herzensgüte, hervorrief, der sie für einen psychologisch veranlagten Beobachter zu einem höchst interessanten Studienobjekte machte. Ihre Stellung als die der nominellen Herrin eines Hauswesens, das schon damals für eines der vornehmsten von Washington galt, da der tatsächliche Besitzer, Reuben Moore, es vorzog, mit seiner französischen Gattin im Auslande zu leben, gab ihrer geringsten Bewegung eine Wichtigkeit, der ihre scheuen, ja flehenden Blicke und ein gewisses gezwungenes Wesen, das sehr schwer zu charakterisieren ist, vergebens zu widersprechen versuchten. Ich vermochte sie nicht zu verstehen und gab bald meine Versuche auf, aber meine Bewunderung hielt stand, und der Abend war noch nicht zur Hälfte vorüber, als ich ihre willenlose Sklavin war. Nach dem, was ich seither von ihr erfahren habe, glaube ich, sie würde es vorgezogen haben, meine Sklavin zu sein.

Als Schlafgemach wurde mir ein geräumiges Zimmer angewiesen, das ich später als ›des Obersten Kabinett‹ bezeichnen hörte. Es war sehr groß und es stand ein mächtiges Bett darin, das beinahe mit königlicher Pracht ausgestattet war. Ich glaube, ich fuhr auf ganz unerklärliche Weise zurück, als mein Blick zum ersten Male dieses riesige Bett streifte; es erschien mir so außer allem Verhältnis zu meiner kleinen Person. Aber gewarnt durch den Ausdruck, den ich auf Fräulein Callistas hochmütigem Gesicht bemerkte, unterdrückte ich rasch eine Aeußerung, die für einen Gast, wie ich es war, höchst unpassend gewesen wäre, und begann mit einem Wortschwalle voll gutgeheuchelten Entzückens die interessanten Einzelheiten des Zimmers zu rühmen und zu erklären, wie erfreut ich sei, in diesem Zimmer schlafen zu dürfen.

Sofort wich der gespannte Ausdruck aus Callistas Zügen; mit der ruhigen Bemerkung: Es war meines Vaters Zimmer, setzte sie die Kerzen, die sie in beiden Händen trug, nieder und gab mir einen so warmen, herzlichen Kuß, daß er vollständig genügte, mich auf eine halbe Stunde oder länger, nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, in eine glückliche, behagliche Stimmung zu versetzen.

Ich war sehr ermüdet und glaubte, bald einschlafen zu können; als ich mich aber ins Bett gelegt und hinter den Vorhängen hervor längere Zeit träumerisch auf die verglimmenden Holzscheite in dem offenen Kamin geblickt hatte, war ich so munter wie nur je in meinem Leben.

Und dies blieb die ganze Nacht so. Stundenlang warf ich mich von einer Seite des Bettes auf die andere, um die starr auf mich gerichteten Augen eines kaum wahrnehmbaren Porträts nicht bemerken zu müssen, das mir gegenüber an der Wand hing. Als Kunstwerk war das Bild wertlos, aber unter den Strahlen des Vollmondes, der durch den halboffenen Laden ins Zimmer schien, übte es einen unheimlichen Bann auf mich aus, wie ich ihn nicht beschreiben kann und wie ich hoffe, ihn nie wieder zu erfahren. Schließlich erhob ich mich und schob die Vorhänge am Fußende des Bettes heftig zusammen. Dadurch wurde mir der Anblick des Bildes entzogen; aber ich fand es unerträglicher, mir vorzustellen, wie es mit seinen gespenstischen Augen durch die schweren Falten des Damastes hindurch mich anstiere, als es offen vor mir zu haben; ich schob also die Vorhänge wieder zurück, aber nur, um mich eine halbe Stunde später wieder zu erheben und sie mit einer verzweifelten Anstrengung wieder zusammenzuschieben.

Ich verbrachte jene Nacht so unruhig, daß ich ganz blaß ausgesehen haben muß, als meine aufmerksame Wirtin mich am nächsten Morgen an dem oberen Ende der Treppe empfing. Ihre Hand zitterte merklich, als sie die meinige ergriff, und ihre Stimme klang unnatürlich gepreßt, als sie mich fragte, wie ich geschlafen hätte. Ich antwortete, wie es der Wahrheit, nicht der Höflichkeit entsprach: Nicht so gut wie gewöhnlich, worauf Callista, ohne mich anzusehen, hastig erwiderte: Dies tut mir sehr leid; Sie sollen heute abend ein anderes Zimmer haben. Sie fuhr anscheinend unbewußt und im Flüstertone fort: Es ist so; alle fühlen es, selbst junge, heitere Mädchen – und setzte dann, laut und mit unverkennbarer Angst hinzu: Sagen Sie, Liebste, Sie haben nichts gesehen?

Nein, entgegnete ich in plötzlich aufwallendem Unbehagen; nur die seltsamen Augen auf jenem Bilde, die mich durch die Bettvorhänge hindurch ansahen. Geht es in dem Zimmer um?

Sie sah mich erschreckt an und antwortete in auffallend heftigem Tone: O nein; noch niemand hat hier etwas wie einen Geist gesehen, aber jedermann findet es unmöglich, in jenem Bett oder selbst im Zimmer zu schlafen. Ich weiß nicht warum, wenn nicht aus dem Grunde, weil mein Vater so viele furchtbare Jahre innerhalb dieser Wände zugebracht hat, ohne auch nur einen Augenblick ruhen zu können.

Und starb er in jenem Bett? fragte ich.

Callista schauerte zusammen und drängte mich eilig die Treppe hinunter. Als wir an deren Fuß angelangt waren, drückte sie mir die Hand und flüsterte:

Ja, in der Nacht – beim hellen Scheine des Vollmonds.

Ich beantwortete ihren Blick mit einem, den sie wahrscheinlich ebensowenig verstand wie ich den ihrigen. Ich hatte von diesem ihrem Vater sprechen hören. Er war ein steinalter Mann gewesen und hatte ein furchtbares Andenken hinterlassen.

Am nächsten Tage bekam ich Callistas Versprechen zufolge ein anderes Zimmer, aber in Anbetracht der Beschuldigungen, die ich seitdem gegen dieses Haus und seine Bewohner habe ausstoßen hören, bin ich froh, eine Nacht in jenem Zimmer zugebracht zu haben, in dem es zwar nicht spukte, das aber seine Bewohner in die äußerste Aufregung versetzte.« –

Zweite Stelle. (Der gesperrte Druck zeigt an, wo der Strich am Rande besonders stark war.)

 

»Das Haus enthielt noch ein anderes Zimmer, das ebenso interessant war wie das von mir schon erwähnte. Es führte die Bezeichnung ›Bibliothek‹ und war an den Wänden dicht mit Büchern besetzt; doch hielt sich die Familie niemals darin auf, und ich hatte auch nur einmal das Glück, seine Türen geöffnet zu sehen, nämlich bei Gelegenheit der großen Gesellschaft, die Fräulein Callista mir zu Ehren gab. Ich schwärme für große Räume und bat meine Wirtin mehr als einmal, mir zu sagen, warum dieses Zimmer unbenutzt stehe. Aber die Dame beobachtete über diesen Punkt große Zurückhaltung, und ich mußte mich an ein anderes Mitglied des Haushalts wenden, um zu erfahren, daß das Zimmer durch den in ihm erfolgten unerwarteten Tod eines Freundes von Callistas Vater, eines bekannten Offiziers, für immer verdüstert worden sei.

Warum dies eine dauernde Nichtbenutzung des Gemaches zur Folge gehabt haben sollte, konnte ich nicht verstehen, und da jedermann, der über diesen Punkt sprach, durchgehends den Eindruck hervorrief, als sage er weniger, als er wisse, wurde meine Neugierde bald so stark, daß ich sie nicht ertragen konnte und Fräulein Callista nochmals mit Bitten bestürmte, mir weiteres mitzuteilen. Sie lächelte mir freundlich zu, denn sie war stets liebenswürdig, schüttelte aber den Kopf und ging zu einem anderen Gesprächsthema über. Eines Abends aber, als der Wind in den Kaminen heulte und das Gefühl der Einsamkeit in dem großen Gebäude schwerer auf uns lastete als gewöhnlich, setzten wir uns zusammen vor den Kamin in meinem Schlafzimmer, und als die Holzscheite vor uns zu Asche gebrannt waren, wurde Fräulein Callista mitteilsamer.

Ihr Herz sei schwer, erzählte sie mir, sei jahrelang schwer gewesen. Vielleicht würde sie etwas Erleichterung finden, wenn sie eine Freundin ins Vertrauen zöge. Gott weiß, sie brauchte eine solche, namentlich an Abenden, wie jener einer war, wenn der Wind im ganzen Hause das Echo wachrief und man schwer sagen konnte, was furchtbarer war, die Töne, von denen niemand wußte, woher sie kamen, oder die Stille, die darauf eintrat.

Callista zitterte, als sie dieses sagte, und rückte unwillkürlich näher an mich heran, sodaß sich unsere Köpfe beinahe über den flackernden Flammen berührten, bei deren Wärme und Schein wir Trost und Mut suchten. Sie schien diese Berührung dankbar zu empfinden; denn in der nächsten Minute schüttelte sie alle ihre bisherigen Bedenken ab und begann die Erzählung von Ereignissen, die meine bis vor kurzem so unwillkommenen Fragen mehr oder weniger beantwortete.

Der Todesfall in der Bibliothek, an den sich ihre trübsten Erinnerungen knüpften, hatte stattgefunden, als sie ein Kind war und ihr Vater jenen hohen Regierungsposten innehatte, der soviel Glanz auf die Familie warf. Ihr Vater war mit dem Manne, der hier seinen Tod gefunden hatte, eng befreundet gewesen. Sie hatten zusammen in dem Kriege von 1812 gekämpft und beide dieselben hohen Auszeichnungen aus der Hand des Präsidenten erhalten. Beide waren sie Mitglieder einer wichtigen Kommission, die sie in diplomatische Beziehungen zu England brachte. Während der Verhandlungen dieser Kommission trat der plötzliche Bruch ein, der allen freundschaftlichen Beziehungen zwischen ihnen ein Ende machte und bei Callistas Vater eine Veränderung hervorrief, die sowohl im Schoße seiner Familie wie bei Fernerstehenden bemerkt wurde. Was schuld an diesem Bruche war, wußte niemand. Ob sein ungezügelter Ehrgeiz durch die Eifersucht seines sogenannten Freundes einen Stoß erlitten hatte oder ob andere Gründe vorlagen, die von seinen Zeitgenossen zwar dunkel angedeutet, niemals aber offen ausgesprochen wurden – er wurde niemals wieder der Mann, der er früher gewesen war. Seine Kinder, die ihm sonst freudig entgegenzueilen pflegten, drückten sich jetzt, sowie sie seinen Schritt hörten, scheu in die Ecken oder schlüpften hinter halbgeöffnete Türen, von wo aus sie furchtsam seine große Gestalt betrachteten, während er in dumpfem Schweigen die Hallen des Hauses seiner Väter durchschritt oder mit gefurchten Brauen im Bibliothekszimmer vor den im Kamin verglimmenden Scheiten saß.

Die Mutter, die kränklich war, teilte diese Furcht nicht. Der Vater war stets zärtlich zu ihr, und das einzige Lächeln, das die Geschwister auf seinem Gesichte bemerkten, wurde beim Eintritt in ihr verdunkeltes Zimmer sichtbar.

Solchergestalt waren Callista Moores früheste Erinnerungen. Die folgenden waren bestimmter und noch schrecklicher. Präsident Jackson, der eine hohe Meinung von Moores Fähigkeiten hatte, beförderte ihn rasch. Endlich erhielt er einen Posten, der ihn zu hoher Bedeutung im Staatsleben emporhob. Da dies jahrelang das Ziel seines Ehrgeizes gewesen war, so zeigte er sich über diese Ernennung äußerst befriedigt, und obgleich sein Lächeln nicht häufiger wurde, war seine Stirn doch weniger gefurcht, und während er früher geradezu den Eindruck eines gefährlichen Mannes machte, so war er jetzt bloß mürrisch.

Aus welchem Grunde jenes mürrische Wesen nach einem unerwarteten Besuche seines ihm einst teueren, aber nunmehr seit langer Zeit entfremdeten Waffengefährten sich zu offener Drohung steigerte, wagte Moores Tochter, selbst nachdem sie jahrelang darüber nachgegrübelt hatte, nicht zu entscheiden. Wenn sie es könnte, würde sie glücklicher sein.

Der General war ein freundlicher Herr, mit scharfgeschnittenem Gesicht und von langer, hagerer Statur, und mit einem Auge, das die Kinder anlockte und sie durch seinen bloßen Blick glücklich machte. Aber sein Eindruck auf den Vater war ganz verschieden davon. Von dem Augenblick an, da sich beide in dem Hausflur unten begrüßten, verriet das Wesen des Wirtes, wie wenig willkommen ihm sein Gast war. Er ließ es nicht etwa an Höflichkeit fehlen – die Moores waren immer Gentlemen – aber es war eine schneidende Höflichkeit, die verletzt, während sie artige Redewendungen vorbringt. Die beiden Kinder, die vor der Schärfe des Tones erschraken, ohne zu wissen, worin das Verletzende lag, suchten sich zu verstecken und beobachteten hinter den beiden Pfeilern hervor, die den Eingang zur Bibliothek bezeichnen, die beiden Männer, wie sie im Flur auf- und abschritten und über die Schönheit dieser und jener Dekoration in dem neu hergerichteten Hause sprachen. Diese beiden unschuldigen, aber eifrigen Spione, die mehr Furcht als Neugier in ihrem Versteck festhielt, fingen einige Bruchstücke aus der Unterredung zwischen den sogenannten Freunden auf, und obgleich sie in ihrem kindlichen Sinne nur wenig davon verstanden, so prägten sich doch die einzelnen Worte ihrem Gedächtnis so fest ein, daß Fräulein Callista sie mir noch nach fünfundzwanzig Jahren wiederholen konnte.

Sie haben vieles, was die meisten Menschen entbehren müssen, bemerkte der General, als sie stehen blieben, um ein kleines Kunstwerk zu bewundern, das kürzlich aus Genua angelangt war. Sie haben Geld – zuviel Geld, Moore, eine Summe, die ich Ihnen leicht nennen könnte, ein Haus, das in manchen Augen den Namen eines Palastes verdient, eine liebenswürdige, wenn auch nicht allzu gesunde Gattin, zwei schöne, wohlgeratene Kinder und alle Ehre, die ein Mann in einer Republik wie der unsrigen nur wünschen kann. Lassen Sie die Politik aus dem Spiele!

Die Politik ist mein Lebenselement! lautete die kühle Antwort. Von mir verlangen, daß ich mich nicht mehr mit ihr beschäftigen soll, ist gleichbedeutend mit dem Verlangen, ich solle Selbstmord begehen. Dann fuhr er nach einer kleinen Pause mit besonderem Nachdruck fort: Und für Sie ist es beinahe Mord, wenn Sie mich von ihr fernhalten wollen.

Ein über einen Verräter gefällter Richterspruch ist kein Mord, erwiderte der General ernst und fest. Durch eine schwarze Tat bezahlter Verräterei, von der keiner Ihrer Landsleute außer mir Kunde hat, haben Sie sich des Vertrauens der Regierung unwürdig gemacht. Würde ich, der ich leider Ihr Geheimnis entdeckt habe, Ihnen gestatten, Ihre gegenwärtige Vertrauensstellung noch weiter zu bekleiden, so würde ich ebenfalls ein Verräter an der Republik sein, für die ich gekämpft habe und für die ich zu sterben bereit bin. Das ist der Grund, aus dem ich Ihren Rücktritt verlange, bevor –

Die beiden Kinder verstanden die Drohung nicht, die in diesem letzten Worte lag; sie erkannten aber die Stärke derselben aus dem eigenartigen Blick ihres Vaters, und waren ganz erstaunt, als er ruhig entgegnete:

Sie sagen, Sie seien das einzige Mitglied der Kommission, das mit den Tatsachen, die Sie Hochverrat zu nennen belieben, vertraut ist?

Die Lippen des Generals kräuselten sich verächtlich. Habe ich es Ihnen nicht gesagt? fragte er.

Etwas in dieser strengen Rechtlichkeit schien Eindruck auf den Vater zu machen. Er wandte sein Gesicht ab, und der andere sprach weiter. Es war eine Veränderung in seiner Stimme vorgegangen, und sie klang beinahe weich, als er fortfuhr:

Alpheus, wir sind Freunde gewesen. Ich will Ihnen vierzehn Tage Bedenkfrist geben. Wenn Sie nach Ablauf dieser Zeit nicht ins Privatleben zurückgekehrt sind, so können Sie einen zweiten Besuch erwarten, der unzweifelhaft von unliebsamen Folgen für Sie begleitet sein wird. Sie kennen mein Temperament, wenn ich einmal in Wallung komme. Zwingen Sie mich nicht zu einer Stellungnahme, die uns beiden unendlichen Kummer bereiten würde.

Möglicherweise, antwortete der Vater, möglicherweise auch nicht. Die Kinder hörten nichts weiter, beobachteten aber die düstere Miene, mit der er am nächsten Tage zum Weißen Hause fuhr. Da sie sich der Drohung des Generals erinnerten, so glaubten sie in ihrem kindlichen Herzen, ihr Vater sei gegangen, um sein Amt und seine vor kurzem erworbenen Ehren aufzugeben. Allein er kehrte des Abends zurück, ohne dies getan zu haben. Von diesem Tage an trug er den Kopf höher und zeigte sowohl zu Hause wie anderwärts ein herrisches Auftreten.

Aber er fand weder Ruhe noch Rast und begann, vielleicht um sein seelisches Unbehagen zu betäuben, einige bauliche Veränderungen in seinem Hause, Veränderungen, die viel Zeit in Anspruch nahmen und dabei nie zu seiner Befriedigung auszufallen schienen. Die Leute, die an dem einen Tage gearbeitet hatten, wurden am nächsten entlassen und andere dafür angeworben, bis diese Arbeit und alles sonstige durch die Rückkehr seines unwillkommenen Gastes unterbrochen wurde, der seine Zusage auf den Tag einhielt.

Als Callista in ihrer Erzählung bis hierher gekommen war, sank ihre Stimme zum Flüsterton herab, und die Flamme, die ihr Gesicht teilweise beschienen hatte, erlosch beinah, sodaß ich kaum den heimlich forschenden Blick bemerken konnte, mit dem sie mich beobachtete, als sie fortfuhr:

Ich hatte mich mit Reuben – Reuben war ihr Bruder – in die dunkle Ecke unterhalb der Treppe gedrängt, als mein Vater den General an der Tür begrüßte. Wir hatten einen erregten Wortwechsel oder einen Austausch bitterer Empfindungen zwischen ihnen erwartet und wußten kaum, ob wir froh oder betrübt sein sollten, als unser Vater seinen Gast mit ebenderselben tiefen Verbeugung bewillkommnete, die wir ihn einst vor dem Präsidenten im Weißen Hause hatten machen sehen. Das Folgende konnten wir nicht mehr beobachten. Wir wurden zum Abendessen gerufen. Unsere Mutter war zugegen – ein großes Ereignis zu jener Zeit – Toaste wurden getrunken, und unser Vater schlug einen auf die Gesundheit des Generals vor. Dies hielt Reuben für eine offene Besiegelung des Friedensschlusses und blickte mich mit seinen großen, runden Augen verwundert an. Ich aber war alt genug, um zu bemerken, daß dieser Toast keine Erwiderung fand, und daß der General mit seinen Lippen kaum das Glas berührte, das er höflich gegen unsere Mutter erhoben hatte, die dasselbe mit dem ihrigen tat: ich fühlte, daß in diesem Versuche, die gute Kameradschaft zu erneuern, eher etwas Erschreckendes als Beruhigendes lag. Obgleich ich damals nicht imstande war, darüber nachzudenken, habe ich dies später oft getan, und die Haltung und der Blick, die mein Vater zeigte, als er seinem Gast ins Auge sah, haben sich meinem Gedächtnis so unauslöschlich eingeprägt, daß kaum ein Jahr vergeht, ohne daß mir jener Auftritt samt den ihn begleitenden Empfindungen des Schreckens und der Verwirrung in meinen Träumen wieder lebendig wird. Denn – vielleicht kennen Sie den weiteren Verlauf der Geschichte – jene Stunde war des Generals letzte. Er starb, bevor er das Haus verließ, starb in derselben düsteren Bibliothek, betreffs deren Sie so viele Fragen an mich gerichtet haben.

Ich erinnere mich der näheren Umstände dabei noch ganz gut – o nur allzugut! – bis zu all und jeder Kleinigkeit herab. Unsere Mutter war in ihr Zimmer gegangen, und der General und mein Vater, die nicht länger beim Weine sitzen blieben – warum sollten sie dies auch, da der General doch nicht trinken mochte? – hatten sich nach der Bibliothek begeben, und zwar auf eine Aufforderung des Generals hin, dessen letzte Worte mir jetzt noch in den Ohren klingen.

Die Zeit für unsere kleine Unterredung ist gekommen, sagte er. Ihr Empfang deutet darauf hin –

Sie sehen nicht wohl aus, fiel mein Vater hier ein, mit, wie es mir schien, unnatürlich lauter Stimme. Kommen Sie herein und nehmen Sie Platz.

Dann schloß sich die Tür.

Wir hatten uns in der Nähe dieser Tür aufgehalten, in der Hoffnung, einen Schimmer von dem mächtigen Lehnsessel zu erhaschen, der an jenem Tage auf seinen Platz gestellt worden war. Aber wir ergriffen beim Herannahen der beiden Herren eiligst die Flucht und spielten dann auf dem Flure herum, als sich die Bibliothektür wieder öffnete und mein Vater heraustrat.

Wo ist Sambo? rief er. Sage ihm, er soll ein Glas Wein für den General hereinbringen. Mir gefällt sein Aussehen nicht. Ich will nach oben gehen, um Tropfen für ihn zu holen. Diese letzten Worte flüsterte er mit stockender Stimme, als er den Fuß auf die Treppe setzte. Warum ich mich auf dies alles noch so gut entsinnen kann, weiß ich nicht, denn Reuben, der sich so gestellt hatte, daß er in die Bibliothek hineinblicken konnte, als unser Vater heraustrat, und den Sessel sowie den darauf sitzenden General sah, erzählte mir davon voller Eifer ins Ohr, gerade während unser Vater seine Befehle gab.

Reuben ist jetzt ein Mann, und ich habe ihn seitdem mehr als einmal gefragt, wie der General in jenem kritischen Augenblick aussah. Es ist für mich sehr, sehr wichtig, und ebenso für ihn, da er nunmehr dahin gelangt ist, die Leidenschaften und Versuchungen eines Mannes kennen zu lernen. Aber er will nie darüber sprechen oder den Druck, der auf meiner Seele lastet, von mir nehmen, und ich kann nur hoffen, daß Anzeichen von wirklicher Krankheit auf des Generals Gesicht zu lesen waren, denn dann könnte ich das Bewußtsein haben, daß alles mit rechten Dingen zugegangen und sein Tod die natürliche Folge des großen Kummers gewesen ist, den er empfand, als er meinem Vater in Bezug auf dessen einzigen Herzenswunsch entgegentrat. Der flüchtige Blick, den Reuben kurz vor seinem Tode auf ihn geworfen hatte, hat mich stets mit seltsamem Grauen erfüllt. Ein kleines Kind, das einen Mann erblickt, der trotz all seiner anscheinenden Gesundheit doch im nächsten Augenblick an der Pforte der Ewigkeit steht – ich wundere mich nicht, daß er nicht gern darüber spricht, und doch –

Es war Sambo, der den General zuerst sah. Unser Vater war noch nicht wieder heruntergekommen. Als er dies tat, geschah es unter lauten Ausrufen des Bedauerns. Die Kunde von dem Todesfalle war nach oben gedrungen und hatte ihn in dem Zimmer meiner Mutter erreicht. Ich erinnere mich, daß ich mich wunderte, weshalb er über den Tod des Mannes, den er in diesem Maße gehaßt und gefürchtet hatte, so verzweifelt die Hände rang. Erst viele Jahre später, nachdem unsere Mutter längst gestorben und das Haus mit einer Pracht eingerichtet worden war, die für Reuben zu schwer und düster war, als daß er sich in ihm hätte wohl fühlen können, entdeckte ich bei meinem Vater die Spuren heimlicher Gewissensangst, die ich mir jedoch durch die Tatsache zu erklären suchte, daß er durch das plötzliche, aber ihm sehr gelegen kommende Abscheiden seines besten Freundes von dem ihm drohenden politischen Tode gerettet worden war. Dieser Vorfall gab seinem Gefühlsleben einen solchen Stoß, daß er sich Zeit seines Lebens nicht wieder davon erholte. Glauben Sie nicht, daß dies die zutreffende Erklärung für sein unveränderlich finsteres Wesen und den großen Widerwillen bildet, den er stets für diese selbe Bibliothek hegte? Obgleich er in keinem anderen Hause leben mochte, wollte er doch weder jenes Zimmer betreten noch einen Blick auf den düsteren Sessel werfen, auf dem den General der Tod ereilt hatte. Das Gemach wurde mit abergläubischer Scheu gemieden, und obgleich es, wenn es die Notwendigkeit erheischte, von Zeit zu Zeit für große Festlichkeiten geöffnet wurde, so wollte der auf ihm lastende Schatten nicht weichen, und mein Vater haßte sogar bis zu seinem Tode die Tür zur Bibliothek. Ist es nicht natürlich, daß seine Tochter diese Empfindung teilt?

Gewiß, und ich erklärte dies Callista auch; allein ich wollte nicht mehr sagen, obgleich sie mir einen schüchternen, bittenden Blick zuwarf, der durch den Druck ihrer kleinen Finger auf meinen Arm und das Heulen des Windes, der sich in diesem Augenblick plötzlich erhob, die glimmenden Scheite auseinanderwarf und das Haus mit geisterhaften Lauten erfüllte, eine eigene Bedeutung gewann. Ich küßte sie einfach und riet ihr, in meiner Begleitung nach England zurückzukehren und dieses alte Haus samt all seinen unglückseligen Erinnerungen zu vergessen. Das war alles, was ich ihr an Trost spenden konnte. Als ich mich nach einer zweiten schlaflosen Nacht in aller Frühe hinunterschlich, um in das düstere, unbenutzte Gemach hineinzusehen, dessen Geschichte ich nun doch erfahren hatte, kann ich nur sagen, daß ich halb und halb erwartete, den hageren Geist des unglücklichen Generals sich von den Kissen des unheimlichen Sessels erheben zu sehen, der noch jetzt seine geheimnisvolle Wacht vor dem öden Kamin hielt.«

 

Soviel in Betreff der Stellen aus den Memoiren selbst. Die Zeitungsausschnitte, zu denen ich mich nunmehr wandte, trugen ein viel späteres Datum und lauteten folgendermaßen:

 

»Ein seltsames Zusammentreffen kennzeichnet den Tod Albert Moores, der gestern im Hause seines Bruders starb. Man fand ihn tot auf demselben Sessel sitzen, auf dem General Lloyd vor vierzig Jahren gestorben war. Es heißt, daß diesem plötzlichen Dahinscheiden eines Mannes, der stets als ein Urbild der Kraft und Gesundheit galt, ein heftiger Streit mit seinem älteren Bruder vorausgegangen ist. Wenn dem so ist, so könnte die Erregung über einen derartigen Bruch des guten Einvernehmens, das sonst zwischen den Brüdern herrschte, einen Erklärungsgrund für seinen plötzlichen Tod abgeben. Edward Moore, der sich unglücklicherweise nicht in dem Gemach befand, als sein Bruder starb – einige behaupten, er sei oben in seines Großvaters Zimmer gewesen – war ganz außer sich über dieses unerwartete Ende eines höchst wahrscheinlich nur vorübergehenden Zwistes, und liegt jetzt schwer krank danieder.

Das Verhältnis zwischen ihm und dem verstorbenen Albert war stets das beste, bis sie sich unglücklicherweise in ein und dasselbe Mädchen verliebten.«

 

An diesen Ausschnitt war ein anderer befestigt, der offenbar von einer späteren Nummer derselben Zeitung herrührte.

 

»Der Zwist zwischen den beiden Gebrüdern Moore, auf den unmittelbar der Tod des jüngeren folgte, scheint ernsterer Natur gewesen zu sein, als man zuerst annahm. Es ist seitdem durchgesickert, daß zu jener Zeit zwischen den beiden Brüdern ein Duell in der alten Bibliothek ausgefochten und daß bei diesem Duell der ältere verwundet worden ist. Einige gehen sogar soweit, zu behaupten, daß die Hand der betreffenden Dame die Belohnung dessen sein sollte, der den anderen zuerst verwundete, und es wird auch nicht länger geleugnet, daß sich das Zimmer in der größten Unordnung befand, als die Bedienten später eintraten. Sämtliche Möbel waren an die Wand gerückt, sodaß ein freier Platz entstanden war, in dessen Mitte man einen Blutstropfen entdeckte. Sicher ist, daß Herr Moore durch einen ernstlicheren Anlaß als durch seinen tiefen Schmerz ans Haus gefesselt wird, und daß die junge Dame, die die Veranlassung zu diesem verhängnisvollen Streit gewesen ist, die Stadt verlassen hat.«

 

Darunter war die folgende kurze Ankündigung geklebt:

 

»Verehelicht am einundzwanzigsten Januar auf dem amerikanischen Konsulate in Rom, Italien, Edward Moore aus Washington, Vereinigte Staaten von Amerika, mit Antoinette Sloan, Tochter von Joseph Dewitt Sloan aus ebenderselben Stadt.«

 

Mit dieser Notiz war mein Interesse an dem Buche erschöpft, und ich schickte mich an, von dem Stuhle herabzusteigen, auf dem ich während meiner Lektüre gestanden hatte.

Als ich dies tat, bemerkte ich ein Blatt Papier, das auf dem Boden zu meinen Füßen lag. Da es sich zehn Minuten vorher noch nicht dort befunden hatte, konnte kein Zweifel daran bestehen, daß es aus dem Buche, in dem ich so hastig geblättert hatte, herausgefallen war. Ich beeilte mich, es aufzuheben und fand, daß es ein Blatt gewöhnlichen Papiers und teilweise mit Worten in einer sauberen, klaren Handschrift bedeckt war. Dies war ein wichtiger Fund, denn das Papier war neu, und die Handschrift konnte mit leichter Mühe identifiziert werden. Was ich darauf geschrieben fand, war noch merkwürdiger. Es hatte den Anschein, als sei es eine jener Zusammenstellungen von Tatsachen, wie ich sie mir selbst in den verwickeltsten Phasen dieses rätselhaften Kriminalfalls gemacht hatte. Ich schreibe den Inhalt wortgetreu ab:

 

»Wir haben hier zwei verschiedene Berichte über die näheren Umstände beim Tode derer, die auf dem alten Sessel in der Bibliothek des Moorehauses ihren letzten Atemzug taten.

Gewisse Tatsachen treten bei beiden hervor.

Jedes Opfer war im Augenblicke seines Todes allein.

Jedem Todesfall ging ein Wortwechsel oder ein heftiger Streit zwischen dem Opfer und dem jeweiligen Besitzer des Hauses voraus.

In jedem Falle hatte der Eigentümer des Hauses einen realen oder ideellen Nutzen von dem Tode des anderen.«

 

Eine merkwürdige Reihe von Aufzeichnungen! Außer mir suchte noch irgend jemand nach denselben Aufklärungen, die ich mir verschaffen wollte. Ich würde die Niederschrift für das Werk unserer Detektivs gehalten haben, wenn nicht die nachfolgenden Zeilen, zu denen ich jetzt kam, nur von einem Mitgliede der Familie Moore hätten herrühren können. Niemand, der nicht derselben Abstammung oder nicht ganz vertraut mit allen Familienbeziehungen war, hätte diese Worte, die mein höchstes Erstaunen erregten, zu Papier bringen können. Die einzige Entschuldigung, die ich für ihre Niederschrift finden konnte, lag in der Schwierigkeit, die manche Leute haben, ihre Gedanken anders als mit Hilfe von Feder und Tinte zu ordnen: so augenscheinlich waren sie nur für des Schreibers Auge und Kenntnisnahme bestimmt.

 

»Ich möchte mir die Worte meines Vaters ins Gedächtnis zurückrufen, die er zu mir sprach, ehe mein Bruder mit der Kunde meiner schlimmen Streiche, die alle meine glänzenden Aussichten für mein künftiges Leben vernichteten, zu uns hereingestürzt kam. Es war an meinem einundzwanzigsten Geburtstage, und der alte Mann hatte mir soeben mitgeteilt, daß ich als der älteste Sohn das Haus, in dem wir standen, dereinst als das meine betrachten könne, und daß ich damit in den Besitz eines Geheimnisses gelangen werde, das immer, seitdem die Familie in der Person des Obersten Alpheus zu Ehren und Würden gekommen sei, vom Vater auf den ältesten Sohn übergehe. Dann bemerkte er, ich sei jetzt volljährig, und fuhr unmittelbar fort: Dieser Umstand bringt es mit sich, daß du gewisse Tatsachen erfahren mußt, ohne deren Kenntnis du kein echter Moore sein würdest. Diese Tatsachen mußt du später deinem ältesten Sohne, oder wer immer das Glück haben wird, dich zu beerben, mitteilen. Es ist das Vermächtnis, das mit diesem Hause verknüpft ist, und das noch kein Erbe verschmäht hat, entgegenzunehmen und weiterzugeben. Höre. Du hast oft den Goldfiligranschmuck bemerkt, den ich an meiner Uhrkette trage. Er ist der Talisman unseres Hauses, dieses Hauses. Wenn du dich im Laufe deines Lebens in einer dringenden Notlage befindest, aus der kein Ausweg möglich erscheint – beachte diese Einschränkung wohl – in einer dringenden Notlage, aus der kein Ausweg möglich erscheint (ich habe mich niemals in einer solchen Lage befunden, und habe daher auch dieses Goldfiligran-Medaillon nie geöffnet), so nimm das Schmuckstück von der Kette, drücke auf die hier verborgene Feder und benutze das, was du darin finden wirst, in Verbindung mit – Ach, in diesem Augenblick stürmte John Judson ins Zimmer, und seine Eröffnungen waren derart, daß mein Vater mich verstieß, meinem Bruder mein rechtmäßiges Erbe übergab und ihm das volle Geheimnis, von dem ich nur einen Teil erfahren hatte, anvertraute. Aber jener Teil muß mir nun zu dem ganzen verhelfen. Ich habe das Filigranherz oft gesehen. Veronika besitzt es jetzt. Aber ich habe seinen Inhalt nie zu Gesicht bekommen. Wenn ich wüßte, was darin verborgen ist und warum der Besitzer dieses Geheimnisses stets die Bibliothek gemieden hat –«

 

Hier endeten die Aufzeichnungen mit einem langen Striche, der von dem Buchstaben t ausging und aussah, als sei der Schreiber bei seiner Arbeit unterbrochen worden.

Der Eindruck, den diese merkwürdigen Worte auf mich machten, war geeignet, mein Interesse zu steigern, mich mit neuer Hoffnung zu erfüllen und zu neuer Tätigkeit anzuspornen.

Außer mir war noch jemand anders am Werk, die Nachforschungen nach dem Geheimnis in der einzigen Richtung, die Erfolg verhieß, zu betreiben, und da dieser jemand mit den Familienüberlieferungen vertraut war, hatte er mir den wertvollsten Fingerzeig gegeben. Jemand anders? Wer war aber dieser jemand? Dies war eine leicht zu beantwortende Frage. Nur ein Mann konnte diese Worte geschrieben haben, der Mann, der in seiner Jugend zu Gunsten seines jüngeren Bruders beiseite geschoben worden und nunmehr infolge des plötzlichen Todes seiner Nichte wieder in den Besitz seines Erbteils gekommen war. Onkel David, und nur er, war der Fragesteller, dessen Eröffnungen ich soeben gelesen hatte. Dieser Umstand ließ ein neues Problem vor mir erstehen, da ich mich fragen mußte, ob diese Zeilen vor oder nach Herrn Pfeiffers Tod geschrieben seien und ob es ihm gelungen war, das Rätsel, von dem er sprach, zu lösen, oder ob er immer noch im Dunklen tappte. Ich war aber durch die Andeutung in seinem letzten, halbvollendeten Satze dermaßen in Anspruch genommen, daß ich jene minder wichtigen Nachforschungen der einen entscheidenden, die sich auf den Filigranschmuck bezog, bald vergaß. Denn ich hatte diesen Filigranschmuck gesehen. Ich hatte ihn sogar in der Hand gehabt. Nach der von ihm gegebenen Beschreibung war ich sicher, daß er sich unter den zahlreichen Schmuckgegenständen befunden hatte, die ich bei meiner ersten hastigen Besichtigung des Zimmers am Abend von Frau Jeffreys Tode auf dem Toilettentisch hatte liegen sehen. Warum war keine Ahnung von seiner Bedeutung als eines verbindenden Gliedes zwischen diesen Tragödien und ihrer geheimnisvollen Ursache in mir aufgestiegen, als ich das Medaillon in meiner Hand hielt? Jetzt war es zu spät. Es war mit den übrigen beweglichen Gegenständen, die in dem Zimmer umhergelegen hatten, fortgenommen worden, und ich hatte heute nacht keine Gelegenheit mehr, diese so verheißungsvolle Spur zu verfolgen.

Und doch empfand ich einen wahrhaften Triumph, als ich die Tür des alten Hauses hinter mir zuschloß. Unzweifelhaft hatte ich seit meinem Eintritt einen Schritt vorwärts getan und hatte nur noch einen anderen gleich bedeutungsvollen zu tun, um die Aufmerksamkeit des Polizeipräsidenten auf mich zu lenken.


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