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Drittes Kapitel

Nicht einen Augenblick war ich über die Richtigkeit dieser Identifikation im Zweifel. Alle Bilder, die ich von dieser in der Gesellschaft wohlbekannten Schönheit gesehen hatte, zeigten einen ganz eigenartigen Ausdruck, der ihr Gesicht nicht wieder aus dem Gedächtnis schwinden ließ und den ich jetzt von neuem in den leblosen Zügen vor mir erkannte.

Im höchsten Grade betroffen über meine Entdeckung, aber vollkommen überzeugt, daß dieser Selbstmord nur die furchtbare Fortsetzung einer schon zur Genüge schauerlichen Tragödie war, unternahm ich zunächst die Schritte, die in solchen Fällen selbstverständlich sind. Nachdem ich den nur allzu bereitwilligen Hibbard mit der Meldung an die Polizeiwache beauftragt hatte, wollte ich mir eben die Einzelheiten, die mir von Bedeutung erschienen, aufzeichnen, als mit einem Male meine Laterne verlöschte und mich in vollständiger Finsternis ließ.

Dies war nichts weniger als angenehm, aber der dadurch hervorgebrachte Eindruck blieb nicht ergebnislos. Denn kaum fand ich mich allein in dieser dichten Finsternis und in diesem gruftähnlichen Raume, so war ich davon überzeugt, daß keine Frau, so geistesgestört sie auch sein mag, den Sprung in eine unbekannte Welt in tiefer Dunkelheit wagen wird, die ihr den Gedanken an das Grab, dem sie entgegeneilt, nur allzu nahelegt. Dies wäre unnatürlich, unter allen Umständen unnatürlich für eine Frau. Entweder hatte sie den Schlußakt herbeigeführt, ehe der schwache Tagesschimmer, der durch die geschlossenen Fensterläden eindringen konnte, gänzlich verschwunden war – eine Annahme, die aber sofort durch die Wärme widerlegt wurde, die an einzelnen Stellen ihres Körpers noch zu fühlen war – oder aber das Licht, das gebrannt hatte, während sie den verhängnisvollen Schuß abgab, war seitdem anderswohin gebracht oder gelöscht worden.

In Erinnerung an den unbestimmten Schimmer, den wir an einem der oberen Fenster bemerkt hatten, war ich geneigt, die erstere Annahme für richtig zu halten, wollte aber beiden gerecht werden. Nachdem ich daher meine Laterne wieder angezündet hatte, drehte ich an einem der Gashähne des massiven Kronleuchters, der über mir hing, und hielt ein brennendes Streichholz daran. Das Ergebnis war das vorausgesehene; es war kein Gas in den Röhren. Ein Gasometer war für die Hochzeit nicht aufgestellt worden. Dies hatten die Zeitungen wiederholt hervorgehoben, als sie von der zauberhaften Wirkung des Tageslichtes auf die eleganten Toiletten der Damen sprachen. Nicht einmal für Kerzen hatte man gesorgt – ah, Kerzen! Was war denn das, was ich auf einem kleinen Tische an der gegenüberliegenden Wand des Zimmers bemerkte? Ohne Frage ein Leuchter oder vielmehr ein altmodischer Armleuchter mit einer halbverbrannten Kerze in einer von seinen Tüllen. Rasch ging ich hin und fühlte nach dem Docht. Er war ganz hart und steif. Da ich dies aber nicht als genügenden Beweis dafür betrachtete, daß er nicht vor kurzer Zeit gebrannt habe – die Spitze eines Dochtes trocknet bald, nachdem die Flamme ausgelöscht ist – zog ich mein Taschenmesser hervor und untersuchte den Docht an seiner Wurzel; dabei fand ich, daß dort, wo das Stearin die Fäden geschützt hatte, sie verhältnismäßig weich und biegsam waren.

Die daraus zu ziehende Folgerung lag auf der Hand. Wie ich instinktiv gefühlt hatte, war die Waffe von der Frau nicht im Dunkeln abgefeuert worden; diese Kerze hatte dabei gebrannt. Hier stockten meine Gedanken jedoch von neuem. Wenn sie gebrannt hatte, von wem war sie dann gelöscht worden? Auf keinen Fall von der Dame selbst; die Kugel hatte hierfür ihr Ziel allzugut getroffen. Also hatte jemand anders – jemand, dessen Atem noch in der mich umgebenden Luft schwebte – diese Kerze nach dem Fallen des Schusses gelöscht, und die Tote zu meinen Füßen war keine Selbstmörderin, sondern sie war ermordet worden.

Die Erregung, die mir bei dieser Entdeckung durch jeden Nerv zitterte, hatte ihren Ursprung in meinem Ehrgeize, von dem ich am Eingange dieser Erzählung gesprochen habe. Ich glaubte, die langersehnte Gelegenheit sei endlich für mich gekommen, und hoffte, es werde mir gelingen, von der soeben gemachten Wahrnehmung ausgehend, so viel Anhaltspunkte zu finden und Tatsachen festzustellen, daß sie mit Notwendigkeit zur Anerkennung dieser neuen Auffassung anstatt der von Hibbard gewonnenen, daß ein Selbstmord vorliege, führen müßten; diese letztere Annahme würde natürlich auch auf sämtlichen Polizeiwachen geteilt werden, da mein Kollege ja dabei war, seine Nachricht überall zu verbreiten. Drang ich mit meiner Ansicht durch, welch ein Triumph würde dann meiner harren, und welchen Dank würde ich dem grämlichen alten Herrn schulden, dessen anscheinend phantastische Befürchtungen mich zuerst in dieses Haus geführt hatten!

Während ich diese verheißungsvolle Aussicht überdachte, die sich mir in den wenigen Minuten, die es mir vergönnt gewesen war, allein an dem Schauplatz des Verbrechens zuzubringen, eröffnet hatte, machte ich mich mit jenem methodischen Zielbewußtsein, das, wie ich mir stets gelobt hatte, meinen ersten Erfolg im Detektivberufe kennzeichnen sollte, an die Lösung meiner Aufgabe.

Zunächst also noch einen Blick auf das schöne junge Opfer selbst! Welch ein Leidenszug um die Braue! Welch tiefe Höhlen entstellten die Wangen, die im übrigen so zart waren wie die Blütenblätter einer Rose! Das interessante, wenn auch nicht im strengsten Sinne schöne Antlitz erzählte mir manches, was ich kaum in Worte fassen konnte, sodaß ich den Eindruck gewann, als lasse die Tote ein anziehendes, aber unergründliches Geheimnis hinter sich; von dem Gesicht wandte ich mich zum Studium der Hände, von denen jede ein besonderes Problem darbot. Das von dem rechten Knöchel dargebotene kennt der Leser bereits – das lange weiße Band, an dem die abgeschossene Pistole hing. Die linke enthüllte ein zwar weniger schreckliches, aber vielleicht ebenso bedeutungsvolles Geheimnis. Sämtliche Ringe waren verschwunden, selbst der Trauring, der vor so kurzer Zeit hierher gesteckt worden war. Hatte man sie beraubt? Ich konnte keine Anzeichen von Gewalt, ja nicht einmal von jener Unordnung bemerken, die die Beraubung durch Verbrecherhand zu begleiten pflegt. Die Krause von köstlichen schwarzen Spitzen, die ihren Hals umgab, befand sich in tadellosem Zustande, und die schweren Falten ihres Kleides aus feinem Tuch deuteten in keinerlei Weise darauf hin, daß irgend eine fremde Hand die Tote nach ihrem Hinstürzen berührt hätte. Wenn ein Schmuck an ihrem Halse geglänzt oder Ringe ihre Ohren geschmückt hatten, so waren sie von einer sorgsamen, wenn nicht gar liebenden Hand entfernt worden. Aber ich neigte eher zu der Ansicht, daß sie den Schauplatz ihres Todes ohne Schmucksachen betreten hatte – eine solch strenge Einfachheit sprach aus ihrem ganzen Anzuge.

Ihr Hut, der ebenso einfach und elegant war wie ihre sonstige Kleidung, lag neben ihr auf dem Fußboden. Augenscheinlich hatte ihn eine ungeduldige Hand abgenommen und weggeworfen. Daß diese Hand ihre eigene gewesen war, ging aus einem kleinen, aber sehr bedeutsamen Umstande hervor. Die Nadel, die den Hut auf ihrem Haar festgehalten hatte, war wieder in ihn hineingesteckt worden. Keine Hand außer der ihrigen würde so ordnungsliebend gewesen sein. Ein Mann würde sie ebenso heftig zur Seite geschleudert haben, wie er dies mit dem Hute getan hätte.

Es erhob sich nun die Frage: deutete dies auf ihre selbstverständliche Absicht hin, den Hut wieder aufzusetzen? Oder war die Handlung die Folge einer zur zweiten Natur gewordenen Gewohnheit?

Nachdem ich nun alles notiert hatte, was möglicherweise von Bedeutung sein konnte, ohne den Rechten des Coroners In Amerika und England der Beamte, der bei verdächtigen Todesfällen die Untersuchung zu leiten hat. vorzugreifen, machte ich mich zunächst daran, Anhaltspunkte für die Feststellung der Person zu suchen, die ich für das Löschen der Kerze verantwortlich machen zu müssen glaubte. In dieser Hinsicht wartete meiner jedoch eine große Enttäuschung. Ich konnte nichts finden, was auf die Gegenwart einer zweiten Person hätte schließen lassen können, außer einem Häufchen Zigarrenasche in der Nähe eines gewöhnlichen Küchenstuhls, der vor den Bücherbrettern in dem Teile des Zimmers stand, in dem sich der kleine Tisch mit dem Armleuchter befand. Aber diese Asche sah alt aus, und ich konnte in der dumpfen Atmosphäre, die im ganzen Zimmer herrschte, auch keine Spur von Tabaksgeruch entdecken. Rührte diese Asche von dem Manne her, der vor vierzehn Tagen hier gestorben war? War dies der Fall, so mußte seine nicht zu Ende gerauchte Zigarre irgendwo zu bemerken sein. Sollte ich nach ihr suchen? Nein, zu diesem Zwecke hätte ich mich zu dem Sessel begeben müssen, und dies war mir denn doch eine zu gefährliche Stelle, als daß ich mich ihr ohne besondere Vorsichtsmaßregel hätte nähern mögen.

Außerdem war ich mit meiner Untersuchung des Fleckes, auf dem ich stand, noch nicht zu Ende. Konnte ich zu keinem befriedigenden Resultat hinsichtlich der Asche gelangen, so war dies doch vielleicht in bezug auf den Stuhl oder die Bücherreihen, vor denen er stand, möglich. Es hatte jemand hier gesessen, der sich für Bücher interessierte, jemand, der für jene alten Bände genügend Zeit übrig zu haben glaubte, um das Bedürfnis nach einem Stuhle zu empfinden. War dieses Interesse ein allgemeines gewesen, oder hatte es sich auf einen bestimmten Band konzentriert? Ich ließ mein Auge über die Bücher gleiten, soweit es reichte, möglicherweise in der Absicht, diese Frage zu stellen, und obgleich ich nur eine beschränkte Kenntnis von Büchern besitze, sah ich doch sofort, daß man diese hier sehr wohl als Seltenheiten bezeichnen konnte. Einige von ihnen enthielten Proben von altgotischer Schrift und waren mit Moder und Staub bedeckt, andere waren Inkunabeln, die das Entzücken eines jeden Sammlers bilden mußten. Aber an keinem konnte man eine Spur davon entdecken, daß es in jüngster Zeit zur Hand genommen worden war, und um keine Zeit mit nichtigen Einzelheiten zu vergeuden, entfernte ich mich rasch von dem Stuhle und war im Begriff, meine Aufmerksamkeit nach einer anderen Richtung zu lenken, als ich auf einem der oberen Fächer ein Buch bemerkte, das etwas vor den übrigen hervorragte. Im Nu war ich auf dem Stuhle und ergriff das Buch. Fand ich es interessant? Jawohl, aber nicht hinsichtlich seines Inhaltes, denn der war mir völlig unverständlich, sondern weil der Staub am oberen Rande abgewischt war, der doch jeden anderen Band, den ich zur Hand genommen hatte, bedeckte. Dieses Buch also war es, das den Unbekannten an die Bücherfächer gelockt hatte – diese – ich will sehen, ob ich mich an seinen Titel erinnern kann – Untersuchung über alte Küstenlinien. Pah! Ich hatte meine Zeit verloren. Was hatte ein solch trockenes Lehrbuch wie dieses mit der Toten zu tun, die einige Schritte hinter mir in ihrem Blute dalag, oder mit der Hand, die die Kerze nach jener grausigen Tat gelöscht hatte? Nichts! Ich stellte das Buch wieder an seinen Platz, aber nicht so hastig, um es auch nur einen Zoll weiter nach vorwärts zu stellen, als ich es gefunden hatte. Denn wenn es eine Geschichte zu erzählen hatte, so war es meine Pflicht, dafür zu sorgen, daß diese Geschichte von anderen gelesen werden konnte, die sich besser auf Bücher verstanden als ich.

Mein nächster Schritt führte mich zu dem kleinen Tische, auf dem der Armleuchter mit seinen glänzenden Behängen stand. Dieser Tisch gehörte zu einer Gruppe gleichartiger Möbel, die an einer Wand standen. Die nähere Untersuchung ergab, daß der Tisch vor ganz kurzer Zeit von den anderen Möbeln entfernt und an seinen gegenwärtigen Platz gebracht worden war, da der Staub, der auf seiner Platte lag, an einer Seite, an der man ihn getragen hatte, fast vollständig fehlte. Auch der Armleuchter hatte nicht lange auf dem Tischchen gestanden, da der Staub sowohl unter ihm, als um ihn herum lag. Hatte ihre Hand ihn hierher gebracht? Schwerlich, wenn er sich auf dem Simse des Kamins befunden hatte, an dessen Untersuchung ich mich nunmehr machte.

Ich habe diesen Kamin schon mehr als einmal erwähnt. Dies hätte sich auch kaum vermeiden lassen, da in ihm und in seiner Nähe der Schlüssel des Geheimnisses lag, wegen dessen das Zimmer so verrufen war. Obgleich ich jedoch so ausführlich von ihm gesprochen habe und er mir nicht ein einzigesmal aus dem Sinne gekommen war, so hatte ich doch noch nicht gewagt, ihn anders als aus sicherer Entfernung zu betrachten. Als ich nun überlegte, wie ich wohl am gefahrlosesten näher treten könne, fühlte ich jenes plötzlich aufsteigende und alles überwältigende Interesse an jeder Einzelheit seines Aeußeren, das sich an alle mit einer Gefahr verbundenen Gegenstände knüpft.

Ich tat einen Schritt auf ihn zu und hielt dabei meine Laterne so, daß ein heller Strahl auf einen verblaßten alten Stich fiel, der über dem Kamin hing. Es war das – wenigstens in Washington – wohlbekannte Bild, das Benjamin Franklin am französischen Hofe darstellt und an sich ohne Zweifel interessant, aber kaum geeignet war, in einem so kritischen Moment das Auge zu fesseln. Auch das Bücherbrett darunter konnte nicht mehr als vorübergehende Aufmerksamkeit erregen, denn es war vollkommen leer. So war auch die abgenutzte, vielleicht blutbefleckte Feuerstelle, soweit sie sich in dem undurchdringlichen Schatten, den die hohe Gestalt des großen an einer Ecke des Kamins stehenden Sessels auf ihn warf, erkennen ließ.

Ich habe schon den Eindruck beschrieben, den dieses alte, charakteristische Möbel bei meinem Eintreten auf mich gemacht hatte.

Dieser wurde jetzt noch verstärkt, als mein Auge über die plumpe Schnitzerei streifte, die die Unbequemlichkeit seiner hohen, geraden Rücklehne noch erhöhte und ich den muffigen Geruch seiner möglicherweise von Mäusen bewohnten Polster spürte. Ein geheimes Furchtgefühl stieg in mir auf und trat an die Stelle meines anfänglichen instinktiven Widerstrebens. Umfing mich der Aberglaube mit seinen Schrecken? Ort und Stunde sowie die unmittelbare Nähe der Toten wären vollkommen geeignet gewesen, die Einbildungskraft über die Grenzen der Wirklichkeit hinauszutragen. Während ich so in Gedanken versunken dastand und den Armsessel mit seinem Lederbezuge und den schweren geschmiedeten Nägeln betrachtete, mittels deren der letztere an dem Holze befestigt war, begann eine Empfindung, der ich keinen Namen geben kann und die mich ganz gegen meinen Willen packte, die ruhige Ueberlegung bei mir zu verdrängen. Ehe ich mir klarmachen konnte, welcher Art dieser Impuls war oder wozu er mich antrieb, fühlte ich, wie ich mich langsam, aber stetig diesem fürchterlichen Sitze mit dem unwiderstehlichen Verlangen näherte, mich auf diese alten Polster niederzulassen.

In diesem Augenblick rief mich aber das Knarren irgend eines offenstehenden Ladens – vielleicht war es der, den ich von der entgegengesetzten Seite der Straße aus hatte hin- und herschwingen sehen – zu meinen gegenwärtigen Pflichten zurück. Da ich mich erinnerte, daß meine Untersuchung erst halb vollendet war, und daß ich jede Minute von anderen Geheimpolizisten überrascht werden könne, schüttelte ich den unheimlichen Bann ab, der mich in dem Augenblick, als ich mich von ihm befreite, mit Entsetzen erfüllte, und verließ das Zimmer durch eine Tür in der Hinterwand, um in einem der anstoßenden Räume nach den entscheidenden Spuren zu suchen, die ich an dem eigentlichen Schauplatz des Verbrechens zu entdecken nicht vermocht hatte.

Es war eine traurige Untersuchung, da sie mir auf Schritt und Tritt die beinahe wahnsinnige Hast verriet, mit der die Gäste das Haus verlassen hatten. Der Speisesaal namentlich erregte nichts weniger als angenehme Empfindungen. Die offenbar für das Hochzeitsmahl hergerichtete Tafel war in solch atemloser Eile geleert worden, daß die von den Schüsseln heruntergeworfenen Speisen nun in schimmelnden Klumpen auf dem Fußboden lagen. Der Hochzeitskuchen, den jemand hatte fallen lassen, möglicherweise bei dem Versuche, ihn zu retten, war zertreten worden; zerbrochene Gläser, zerknüllte Tischwäsche und verwelkte Blumen lagen überall herum und machten das Gehen über die morschen Dielen anwidernd und gefährlich zugleich. Die mit dem Saale in Verbindung stehenden Vorratskammern befanden sich in keinem besseren Zustande.

Angeekelt von dem Anblick und den Gerüchen, die sich mir hier aufdrängten, ging ich nach der Küche und gelangte weiterhin über einen schmalen Korridor nach den Zimmern für die Dienerschaft, die im hinteren Teile des Gebäudes dicht beieinander lagen. Hier machte ich eine Entdeckung. Eines der Fenster in diesem lange Zeit nicht benützten Flügel des Hauses stand halb offen. Da ich aber auf keine Spuren stieß, die darauf hindeuteten, daß der Mörder durch dieses Fenster entflohen sei, ging ich nach den vorderen Räumen des Hauses zurück und gelangte somit auch zu der Treppe, die in das obere Stockwerk emporführte.

Auf dem am Fuße dieser Treppe liegenden Teppich fand ich das erste von etwa einem Dutzend angebrannter Streichhölzer, die auf den Treppenstufen und auf dem Fußboden des oberen Flures lagen und eine deutliche Fährte bildeten. Da diese Streichhölzer sämtlich so kurz herabgebrannt waren, wie sie jemand überhaupt noch zwischen den Fingern halten konnte, so war es klar, daß sie dazu gedient hatten, jemand zu leuchten, der sich nach oben begeben wollte, vielleicht gerade in das Zimmer, in dem wir das Licht gesehen hatten, das uns zuerst in dieses Haus gelockt hatte. Was nun? Sollte ich weitergehen oder auf einen Kollegen warten, bevor ich mich auf die Suche nach dem vermeintlichen Mörder machte? Ich entschloß mich zum Weitergehen, veranlaßt, wie ich glaube, durch die Bestimmtheit und Klarheit der vor mir liegenden Fährte.

Als ich aber sorgfältig den Schritten desjenigen, der so kurze Zeit vor mir denselben Weg zurückgelegt hatte, nachgegangen war, gelangte ich an eine eingeklinkte Tür am Ende eines Seiteneinganges, vor der ich, wie ich zugeben muß, einen Augenblick zögernd stehen blieb, ehe ich die Hand auf die Klinke legte. So vieles kann sich hinter einer verschlossenen Tür verbergen! Aber meine Unschlüssigkeit, wenn es überhaupt Unschlüssigkeit war, dauerte nur eine Sekunde. Meine natürliche Ungeduld und die Regungen meines Ehrgeizes erhielten die Oberhand über die Mahnungen der Vernunft, und unbekümmert um die Folgen, vielleicht ihnen absichtlich Trotz bietend, legte ich schwer die Hand auf den Griff. Ich öffnete leise die Tür, und als ich einen Lichtschimmer am Türpfosten emporlaufen sah, stieß ich sie weiter und weiter auf, bis ich endlich den ganzen Raum überblicken konnte. In diesem Augenblick knarrte der Laden an einem der Fenster, und dies bewies mir, daß das Zimmer in der Tat dasjenige war, das wir von unten aus erleuchtet gesehen hatten. Sonst war alles still; auch konnte ich beim ersten flüchtigen Umherblicken kein anderes Anzeichen von der Anwesenheit eines Menschen entdecken, als eine Kerze, die auf dem Boden eines auf einem altmodischen Toilettentische stehenden Glases knisternd brannte. Diese Kerze, der einzige Gegenstand, der nicht in das reich und geschmackvoll möblierte Zimmer hineinpaßte, deutete mit voller Bestimmtheit auf die Anwesenheit jemandes hin, der sich hier verborgen hielt; aber von diesem jemand war keine Spur zu entdecken.

Nicht zufrieden mit diesem kurzen Ueberblick – einem Ueberblicke, der mir ein geräumiges, altmodisches Zimmer gezeigt hatte, das vollständig möbliert war, aber mehr den Geist der Vergangenheit als der Gegenwart atmete – und entschlossen, das Aeußerste zu erfahren, oder, besser gesagt, das Aeußerste zu wagen und zu erdulden, schritt ich geraden Weges bis in die Mitte des Zimmers vor und warf rasch einen forschenden Blick um mich, der vor nichts zurückwich, selbst nicht vor den tiefen Schatten, die in den Ecken lauerten. Aber es erhob sich keine liegende Gestalt aus diesen Ecken, es zeigte sich auch kein lauschender Kopf neben den Wänden des großen Schrankes, hinter dem ich genau nachschaute.

Sehr beruhigt und in der Tat völlig davon überzeugt, daß, wo auch immer der Verbrecher lauern mochte, er sich doch in diesem Augenblick keinesfalls in demselben Zimmer mit mir befand, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf meine Umgebung, die mancherlei Interessantes darbot. Zunächst war da das riesige Bett, das einen großen Raum zu meiner Rechten einnahm. Ich hatte nie zuvor ein ähnliches gesehen und wurde im höchsten Grade durch seine Größe und den Anschein des Geheimnisvollen gefesselt, der ihm durch die fest zusammengezogenen Vorhänge von verblichenem Brokat verliehen wurde. In der Tat übte dieses Bett, sei es infolge seines Aeußeren, sei es infolge eines ihm anhaftenden geheimen Einflusses, eine magische Anziehungskraft auf mich aus. Ich zögerte, mich ihm zu nähern, konnte mich aber nicht enthalten, es lange und genau zu betrachten. War es denn nicht möglich, daß diese Vorhänge jemand verbargen, der sich hinter ihnen versteckt hatte? Seltsam, ich fühlte nicht den Mut in mir, sie zurückzuschlagen und nachzusehen.

Ein Toilettentisch, bedeckt mit Flakons und sonstigen Toilettengegenständen, die alle von außergewöhnlichem Wert und Reichtum waren, nahm den Platz zwischen den beiden Fenstern ein, und auf dem Fußboden, unmittelbar vor einem hohen Kaminmantel aus Mahagoniholz, lag inmitten einer Menge leerer Büchsen ein umgestürzter Stuhl. Dieser Stuhl und die Vermutungen, die seine Lage in mir erweckte, veranlaßten mich, den Kamin zu betrachten, mit dem er mir irgendwie in Beziehung zu stehen schien, und so wurde ich eine verblaßte alte Zeichnung gewahr, die über ihm an der Wand hing. Warum dieses Bild, das eine durchaus uninteressante Skizze eines einfältig lächelnden Mädchengesichtes zeigte, mein Auge länger als einen Moment fesselte, weiß ich nicht. Es war nicht schön, selbst wenn man es vom sentimentalen Standpunkte aus beurteilen wollte, und besaß wenig oder keinen künstlerischen Wert. Die schon an sich ziemlich schwachgezeichneten Linien waren nahezu verwischt und stellenweise völlig verblaßt. Und doch konnte ich nicht aufhören es zu betrachten und vergaß darüber mich selbst und beinahe sogar meine Aufgabe. Es lag anscheinend gar kein Grund für den Reiz vor, den es auf mich ausübte, und ebensowenig konnte ich mir die förmlich abergläubische Furcht erklären, die mich von diesem Moment an beherrschte und mich veranlaßte, meinen Kopf nach allen Seiten zu wenden und einen ängstlichen Blick nach rückwärts zu werfen, sobald der offene Laden knarrte oder eines der vielfältigen Geräusche, die wir in der Stille der Nacht zu hören glauben, wenn wir stark erregt sind, meine Aufmerksamkeit fesselte oder mein Blut erstarren machte.

Allem Anscheine nach war hier oben weniger Veranlassung für einen Mann vorhanden, den Mut sinken zu lassen, als unten. In diesen Räumen verbreitete keine das Anzeichen eines Mordes an sich tragende Leiche Schrecken; aber die Empfindungen, die ich in der Bibliothek unten mit leichter Mühe überwunden hatte, verfolgten mich hier mit seltsamer Zähigkeit, und als ich mich mit gewaltsamer Anstrengung zum Gehen zwang und unerwartet mein Bild in einem Spiegel erblickte, an dem ich gerade vorüberkam, erlitt ich eine derartige Nervenerschütterung, wie ich mich nicht erinnern konnte, sie je erlebt zu haben. – Es mag unnötig und für einen Mann meines Berufes unpassend erscheinen, diese zufälligen Empfindungen zu erwähnen; aber ich muß es tun, um zu erklären, wie mehrere Minuten vergehen konnten, ehe ich wieder soviel Geistesgegenwart besaß, die geschlossenen Vorhänge des Bettes zurückzuschlagen und einen raschen Blick dahinter zu tun, wie es meine gegenwärtige prekäre Lage erheischte. Aber kaum hatte ich den Bann abgeschüttelt, so fühlte ich meine Mannheit und mit ihr meinen alten Spürsinn wiederkehren. Das Bett enthielt keinen nach Luft schnappenden, zitternden Verbrecher, und doch war es nicht ganz leer. Etwas lag darin, und dieses Etwas, obgleich an sich durchaus nichts Ungewöhnliches, überraschte mich doch in Anbetracht des Ortes und der Stunde zur Genüge, um mein Interesse zu erregen und meine Gedanken zu beschäftigen. Es lag ein Damenüberwurf da von so kostbarem Stoffe und so wundervoller Arbeit, daß ich ganz erstaunt war, ihn in so vernachlässigtem Zustande in diesem alten verfallenen Hause zu finden. Obgleich ich wenig von dem Preise für Frauenkleider verstehe, kenne ich doch den Wert der Spitzen, und dieses Kleid war über und über damit bedeckt.

So sehr dieser Fund auch mein Interesse erregte, der folgende tat es in noch höherem Grade. In den Falten des Ueberwurfs verborgen lagen die verwelkten Ueberreste eines Straußes, der nur das Brautbukett gewesen sein konnte. Jetzt unscheinbar und geruchlos, war einst ein Meisterwerk der Blumenbindekunst gewesen. Als ich bemerkte, daß an dem aus Lilien und weißen Rosen bestehenden Strauß an langen seidenen Bändern kleinere Sträußchen hingen, erinnerte ich mich mit begreiflichem Schrecken an den Gebrauch, der von einem ähnlichen Bande dort unten gemacht worden war. In dem durch dieses Zusammentreffen erzeugten Schauder vergaß ich ganz, mir die Frage vorzulegen, wie ein von der Braut getragener Strauß seinen Weg in dieses Zimmer im ersten Stock zurückfinden konnte, wenn sie, wie alle Erzählungen übereinstimmend berichteten, den im Parterre liegenden Salon, ohne ein Wort zu sprechen oder auch nur einen Augenblick zu warten, in wilder Flucht verlassen hatte, als sie die Nachricht von dem Unglücksfalle in der Bibliothek erhielt. Daß ihr Mantel hier lag, war nicht auffallend, aber daß das Brautbukett –

Daß es wirklich das Brautbukett war und daß sich die Braut in diesem Zimmer zur heiligen Handlung angekleidet hatte, mußte auch dem oberflächlichsten Beobachter einleuchten. Aber es wurde zur unumstößlichen Tatsache, als ich bei meiner weiteren Untersuchung des Zimmers auf ein Taschentuch stieß, dessen eine Ecke den Namen Veronika in Stickerei trug.

Dieses Taschentuch bot, abgesehen von dem Namen, ein besonderes Interesse. Es war von feinem Gewebe und stimmte hinsichtlich der Kostbarkeit ganz mit den übrigen Sachen seiner anspruchsvollen Besitzerin überein. Aber es war nicht sauber, sondern zeigte Schmutzflecken, und zwar einer so besonderen Art, daß ich sie mir nicht sogleich erklären konnte. Eine Frau würde zweifellos sofort die Ursache der braunen Streifen, die ich darin fand, erkannt haben, aber bei mir dauerte es mehrere Minuten, ehe ich mir klarmachen konnte, daß dieses Batisttuch, zart wie eine Spinnwebe, zum Abwischen von Staub benutzt worden war. Zum Abwischen von Staub! Staub, wovon? Wahrscheinlich von dem Kaminsims, an dessen einem Ende ich es gefunden hatte. Aber nein! Ein Blick über die polierten Bretter hinweg belehrte mich, daß, was auch immer in diesem Zimmer abgestäubt worden sein mochte, dieser Sims es sicherlich nicht gewesen war. Ich konnte die Staubansammlung von Tagen, ja von Monaten von einem Ende seiner glatten Oberfläche bis zum anderen übersehen, mit Ausnahme der Stelle, an der das Taschentuch gelegen hatte, und – die wichtigste Entdeckung bis jetzt – derjenigen, an der fünf deutlich erkennbare Flecke gerade links von der Mitte verrieten, daß die Hand eines Menschen dort geruht hatte. Nichts anderes als der Druck der Fingerspitzen konnte diese Flecke verursacht haben. Bei näherer Prüfung konnte ich sogar erkennen, wo der Daumen gelegen hatte, und sofort sah ich die Möglichkeit voraus, mit Hilfe dieser Flecke sowohl die Größe wie die Gestalt der Hand zu bestimmen, die diesen so klaren und unverkennbaren Beweis zurückgelassen hatte.

Seltsam! was bedeutete dies alles? Aus welchem Grunde sollte jemand seine Finger auf dieses abgelegene Kaminsims stützen? Hatte er es getan, um sich bei einem Versuche, den Kamin zu betrachten, im Gleichgewicht zu erhalten? Nein, denn dann würden sich die von seinen Fingern hinterlassenen Spuren am Ende des Simses gezeigt haben, während sie sich tatsächlich in dessen Mitte befanden. Auch war ihre Gestalt rund, nicht länglich; der Druck war also von oben gekommen, und, ha! jetzt hatte ich es, diese Abdrücke in dem Staub des Simses sahen genau so aus, als rührten sie von jemand her, der sich aufgestützt hatte, um sich das alte Bild genau anzusehen. Und dieser Umstand erklärte auch das Umstürzen des Stuhles und das Benutzen des Taschentuches als Staubtuch. Irgend jemand mußte ein größeres Interesse an dem Bilde genommen haben als ich, irgend jemand, der entweder sehr kurzsichtig oder dessen Temperament so geartet war, daß nur die genaueste Besichtigung eine plötzlich erwachte Neugier stillen konnte.

Dies brachte mich auf einen Gedanken, oder besser gesagt, überzeugte mich von der Notwendigkeit, die Umrisse dieser eine ganze Geschichte erzählenden Spuren für die Dauer zu erhalten, solange sie noch für das Auge deutlich sichtbar waren. Ich zog mein Taschenmesser hervor und umfuhr mit der Spitze der schärfsten Klinge leicht jeden einzelnen Abdruck, bis ich sie für alle Zeit in der wohlerhaltenen Politur des Mahagoniholzes festgelegt hatte.

Nach Erledigung dieser Arbeit kehrten meine Gedanken zu der Frage, die ich mir schon einmal gestellt hatte, zurück. Was gab es an diesem alten Bilde zu sehen, daß es jemand, der auf bösen Wegen ging, wenn er nicht gar soeben ein schändliches Verbrechen begangen hatte, eine solche Neugier einflößen konnte? Ich habe oben gesagt, daß das Bild als solches wertlos war, nichts weiter als eine verblaßte Skizze, die nur für die Rumpelkammer paßte. Worin lag dann aber sein Reiz, den auch ich empfunden hatte, wenn auch nicht in demselben Grade? Es war nutzlos, Vermutungen hierüber anzustellen. Mit dieser überraschenden Entdeckung hatte sich eine neue Schwierigkeit für die Lösung meiner Frage erhoben, aber Schwierigkeiten steigerten nur meinen Eifer. Ich fühlte mich daher nur um so zuversichtlicher, als ich bei der weiteren Untersuchung des Zimmers auf zwei weitere Tatsachen stieß, die ebenso seltsam wie unvereinbar waren.

Die eine bestand in dem Auffinden eines Taschenmessers mit offener Feile, das ich auf einem Tischchen in der Nähe des Fensters mit dem offenstehenden Laden entdeckte. Rings herum lagen Feilspäne, die ich glänzen sah, als das Licht meiner Laterne auf sie fiel, die aber so fein waren, daß man beinahe ein Vergrößerungsglas gebraucht hätte, um sie wahrzunehmen. Die andere bezog sich auf ein kleines Nebengelaß in der Nähe des Bettes. Es war leer, leer bis auf einige Kleiderhaken und ein Gestell mit zwei halb offenstehenden Schubladen an der Rückwand; mitten auf dem Fußboden aber lag ein umgestürzter Armleuchter, ähnlich dem, den ich unten bemerkt hatte, dessen Prismen aber umhergestreut waren und dessen eine Kerze zerdrückt und aus aller Form gebracht auf der geschwärzten Diele lag. Der Fuß, der auf ihr in wilder Erregung umhergestampft hatte, um die Flamme zu löschen, war offenbar der eines Wahnsinnigen gewesen. Von wem und wann war aber diese wahnwitzige Handlung vollbracht worden? Innerhalb der letzten Stunde? Ich konnte keinen Geruch von Rauch entdecken. Oder zu einer früheren Zeit, sagen wir am Hochzeitstage?

Als ich von der zertretenen Kerze zu meinen Füßen auf die in dem Glase auf dem Toilettentische blickte, die soeben zischend verlöschte, mußte ich mir eingestehen, daß ich ganz verdutzt war.

Sicherlich genügte keine gewöhnliche Erklärung für diese auffallenden und einander anscheinend widersprechenden Tatsachen.


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