Paul Grabein
Im Wechsel der Zeit
Paul Grabein

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXVI.

Da endlich fuhr der Zug in die Bahnhofshalle ein. In freudiger Ungeduld flog Hellmrichs Blick die lange Flanke des Zuges entlang. Und nun sah er auch ziemlich hinten aus einem Coupéfenster sich zwei blonde Kinderköpfe strecken – seine beiden Ältesten! Eine Minute später stand er vor dem Abteil und ergriff die sich ihm entgegenstreckenden Hände der jubelnden Kleinen. »Papa, Papa!« Hinter ihm stand seine Frau, den kleinen Hellmuth auf dem Arm, der gleichfalls nun die Ärmchen nach ihm ausstreckte. Ein Gefühl unsagbarer, stiller Freude und innerster Beruhigung überkam ihn, als er die Seinen wieder alle wohlbehalten vor sich sah. Gott sei gedankt, dass sie wieder vereint waren! Nun sollte sie auch nichts mehr trennen. Mit einem innig grüssenden Blick sah er zu seiner Frau auf; doch er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen, denn ein dichter schwarzer Schleier verhüllte ihre Züge.

Schnell riss er die Tür auf und half den ungeduldigen Kleinen aus dem Wagen heraus, die nun an ihm emporkletterten und sich an ihn klammerten. Was waren sie doch froh, nun ihren Papa wiederzuhaben! Er musste sich schliesslich mit sanfter Gewalt von ihnen losmachen, um Lotte mit dem Jüngsten das Trittbrett herunter zu helfen. Er reichte ihr die Hand und legte in zärtlicher Sorge seine Linke um ihre Taille, wie sie nun herabstieg. Er glaubte ein leises Beben durch ihren Handschuh hindurch zu spüren, als ihre Rechte sich zum erstenmal wieder in die seine legte; dann aber fühlte er, wie sie mit festem, langem Druck seine Hand umspannte, und nun trafen sich auch zum erstenmal ihre Blicke! Aus ihren Augen leuchtete ein heisser Strahl demütiger, hingebender Liebe. Seine Blicke sagten ihr: Komm! Es ist alles vergessen und vergeben! Und dann zog er ihren Kopf sanft an sich, einen leisen Kuss zum Gruss auf ihre Stirn drückend, und mit bewegter Stimme sprach er: »Herzinnig willkommen wieder daheim, meine Lotte!« –

Ein fröhliches, aufgeregtes Durcheinander, die Jagd nach dem Gepäck, der Droschke, nahm sie alle ganz in Anspruch. Dann wieder die Fahrt in dem rasselnden Wagen mit den in ihrer Herzensfreude alle durcheinander schwatzenden Kindern – es war keine Gelegenheit für die Gatten, einander ein ernstes Wort zu sagen. Aber ihre leuchtenden Augen, die oftmals auf ihren kleinen Lieblingen ruhten und dann in stummem, beredtem Blicke über die blonden Köpfe weg einander trafen, sie zeigten, wie übervoll ihnen beiden das Herz war.

Auch zu Haus war dann noch eine ganze Weile ein lautes, heiteres Durcheinanderwimmeln. Nur als Hellmrich die Entreetür öffnete und seine Frau eintreten liess, umfasste er zärtlich ihre Schulter, als wolle er sie an der Schwelle seines Hauses noch einmal willkommen heissen. Sie dankte es ihm mit einem verstohlenen, zitternden Händedruck.

Aber endlich waren sie allein miteinander; die Kleinen waren der Obhut des Mädchens im Kinderzimmer anvertraut. Da eilte er auf sie zu, die noch in Hut und Mantel war. In heftiger Bewegung zog er sie an sich. »Mein liebes, liebes Weib, dass ich dich nun wieder habe in meinem Hause! Nun lass es uns geloben in dieser Stunde: Nichts, nichts soll uns jetzt innerlich und äusserlich mehr trennen!« Lotte hatte, an seine Brust gezogen, sich rasch den Schleier hochgeschoben. Nun schaute sie zu ihm auf. Ihr Gesicht war bleich und schmäler geworden, aber es sprach die Ruhe einer still und stark gewordenen Seele daraus. Ihre Augen glänzten ihn mit feuchtem Schimmer an, und mit zitternden Händen suchte sie nach seiner Rechten.

»Karl, – Karl!« Kaum vermochte sie die Worte herauszubringen, und er fühlte, wie ihre ganze schlanke Gestalt in heftiger Erregtheit an seinem Leibe zitterte. »Ist es denn möglich? Nimmst du mich so wieder auf?« Und plötzlich verbarg sie ihr Gesicht an seinem Halse, und er fühlte, wie heisse Tränen ihren Augen entströmten.

»Ruhig, mein Herzlieb, nur ruhig!« tröstete Hellmrich, sie sanft über ihre Wange streichelnd. »Und nichts mehr von dem Vergangenen. Siehst du, mein Frauchen, in jeder Ehe muss einmal – früher oder später – der Verfassungskampf ausgefochten werden, ehe der friedliche Ausgleich der Kräfte erfolgt. Nun, wir haben's halt auch durchkosten müssen. Es ist ein bissel spät und darum um so heftiger bei uns aufgetreten. Nun aber, wir haben's schliesslich doch noch glücklich überwunden. Also sagen wir: Ende gut, alles gut! Es war wohl eben nötig zu unserem dauernden Glück. – Aber nun wollen wir den Blick voll neuen, frischen Vertrauens in die Zukunft richten, meine Lotte, nicht wahr? Wir haben ja beide nun allerlei gelernt. Dein Brief, meine Lotte, mit seiner abgeklärten, grossen Auffassung, er hat mich aufs tiefste gerührt und mit höchster Achtung für dich erfüllt. Wie hast du nur an dir gearbeitet, meine gute, tapfere Frau! Nun, aber auch ich bin nicht müssig geblieben, glaube es mir. Ich habe einsehen gelernt, dass auch ich doch mein vollgerüttelt Mass Schuld an unseren Leiden getragen habe, ja, vielleicht sogar das grössere Teil. Ja, ja, lass nur, mein Liebling! Ein offenes Bekennen ist doch das wenigste, was ich dir schulde. Es ist mir allmählich voll zum Bewusstsein gekommen, wie egoistisch ich, ohne es zu ahnen, gewesen bin, wie ich über meinen Mannesinteressen ganz vernachlässigt habe, mich um dein innerstes Seelenleben, um deine wahren Lebensbedürfnisse zu bekümmern. Nun, das hat ein Ende, meine Lotte! Jetzt, wo ich dich erst so recht in deinem innersten Wesen kennen gelernt habe, jetzt, meine Lotte, sage ich es dir aus freien Stücken, jetzt bitte ich dich innig darum: Werde – sei mir die kluge, teilnehmende, helfende Kameradin! Es wird mir eine innerste Freude sein, dich einzuführen auch in mein Geistesleben, und mein höchster Stolz, von dir auch hier verstanden und anerkannt zu werden! Nun, ist es recht so, meine Lotte? Werden wir so freundnachbarlich miteinander auskommen?«

»Ach, du unaussprechlich geliebter, einzig guter Mann!« In überströmender Liebe presste Lotte ihr Antlitz auf das ihres Mannes, und ihre Hände umschlangen stürmisch seinen Kopf. So fanden sich die Lippen der Gatten wieder im langen, ersten Kuss.

Dann aber brachte Frau Lotte schnell hervor, schüchtern erst, dann aber zuversichtlicher: »Karl, und nun, bitte, bitte, sei mir nicht bös, wenn ich nun doch trotz deines Wunsches noch einmal an die Vergangenheit rühre – an zwei Punkte, die uns so tiefen Schmerz bereitet haben!«

»Sprich nur, mein Herz,« ermutigte sie Hellmrich.

»Karl, ich habe eingesehen, wie hässlich mein Benehmen gegen Frau Berndt war – lass es mich wieder gut machen. Nimm mich mit zu ihr!«

Hellmrich drückte sie zärtlich an sich. »Meine gute Lotte! Ich danke dir von ganzem Herzen für diesen Entschluss. Ja, wir wollen zu der armen Frau gehen, die nun ja ganz einsam und verlassen ist, Denn Berndt ist sozusagen strafverschickt worden – auf ein paar Jahre in unsere Kolonien.«

»O Gott, die Ärmste!« In aufrichtigem Mitleid rief es Frau Lotte.

»Nicht wahr – wir wollen ihr nun zur Seite stehen, beide – in herzlicher Freundschaft!«

»Ja, mein Karl!« Ein fester Händedruck bekräftigte Frau Lottens Entschluss. Dann aber sah sie zagend zu ihm auf. »Nun aber das andere, Liebster! Dein vergebliches geheimstes Wünschen und Streben – wird das nicht nach wie vor bedrückend auf dir lasten?«

»Keine Sorge, meine Lotte!« Und leuchtenden Blicks strahlten sie seine Augen an. »Ich habe eine grosse, frohe Neuigkeit für dich. Als Angebinde zur Rückkehr in unser Haus!«

»Karl, was denn nur?« In höchster, freudiger Spannung fuhr Lotte auf.

»Du weisst doch, dass ich damals den alten Heller um seine Hilfe gebeten hatte? Aber er konnte mich auch nur vertrösten.«

»Ja, ja,« erinnerte sich Lotte. »Nun, und jetzt?«

»Der gute, prächtige Alte hat mich doch nicht vergessen, wie ich schon glaubte. Nachdem ich nun als Dozent in den akademischen Lehrkörper eingetreten bin, hat er sich sofort in wärmster Weise bei der Akademie der Wissenschaften für mich verwendet. Und seiner hochangesehenen Fürsprache habe ich es zu danken, – höre doch nur! – dass mir die Akademie, jetzt in ihrer letzten Sitzung, eine Beihilfe von sechstausend Mark zur Fortsetzung meiner Versuche bewilligt hat!«

»Aber, Karl, du – ist's denn möglich? Solch' Glück? Eine solche Auszeichnung! – O, mein kluger, kluger Mann, was bin ich stolz auf dich!« jubelte Lotte auf und hing sich fest an seinen Hals.

»Ja, es ist allerdings eine Auszeichnung,« bestätigte Hellmrich, und auch in seinen Augen leuchtete nun ein berechtigter Stolz auf. »Solch eine Anerkennung nach all den Bitternissen – das tut wirklich gut, spornt an zu weiterem Streben!«

»Aber, wird denn das ausreichen? Sechstausend Mark? Du musst dir doch viele kostspielige Apparate anschaffen?« forschte Lotte etwas besorgt weiter.

»Nun, für's erste wird's schon langen, und um das weitere sorge ich mich nicht,« rief er fröhlich. »Die Tatsache, dass mir die Akademie diese Beihilfe für Forschungszwecke verliehen hat, wird wohl noch in anderer Beziehung ihre Früchte tragen – mir manchen Hörer zuführen und damit auch die nötigen Mittel. Nein – nun bin ich nicht mehr bange, meine Lotte – jetzt liegt die Bahn frei. Und, pass' auf – ich fühl's im Innersten, mit so felsenfester Gewissheit: Ich bin auf richt'gem Wege, ich komm' ans Ziel!« Seine Augen leuchteten auf in stolzer Siegesgewissheit.

»Und das alles aus eigener Kraft! O Karl, was kannst du stolz sein! – Ist dir denn nicht ganz selig zumute?«

Hellmrich lächelte die bewundernd zu ihm aufschauende Frau mit seinen guten Augen an und plötzlich zog er sie an sich – mit einer kraftvollen, jugendlichen Bewegung.

»Ja, Lotte,« gestand er, »ich fühle mich allerdings so froh, so glücklich, so stark, wie noch nie in meinem Leben! Aber das Höchste für mich ist doch, dass ich euch alle wieder da habe, dass ich dich wieder ganz mein eigen nenne. Das« – und seine Stimme wurde ernst und leiser – »das hätte mir ja kein Erfolg, und wäre es selbst eine Grosstat der Wissenschaft gewesen, jemals ersetzen können!«

Lotte erbebte, aber diesmal im seligen Schauer einer tiefen, voll und treu erwiderten Liebe.

»Karl,« flüsterte sie, »dieses Wort – das vergess' ich dir nie, nie in meinem ganzen Leben! In dieser Stunde hast du mir eine Krone aufs Haupt gesetzt, und ich werde sie mit heimlichem, höchstem Stolz tragen – immerdar!«

»Auch wenn sie einmal drückt und schmerzt?« Lächelnd, aber doch ernst zugleich fragte es Hellmrich.

»Auch dann, du Lieber!« antwortete die Frau mit leuchtendem Blick, aus dem ein grosses, starkes Wollen sprach. Und ihre Hände fassten sich zu einem stummen Gelübde.

 

Ende.

 


 << zurück