Paul Grabein
Im Wechsel der Zeit
Paul Grabein

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VII.

»Sehen Sie, da – dieses offenkundige Kokettieren! Doch geradezu unglaublich, wie diese Person sich benimmt!« Die alte Frau Professor Ditzmer musterte indigniert, aber angelegentlich durch ihre Schildpattlorgnette die elegante junge Frau, die nebenan in einem kleinen Raum zwischen mehreren jüngeren Herren sass und nachlässig ihre Zigarette mit ihnen rauchte.

»Und diese degagierten Bewegungen! Nein, ich bitte Sie – sehen Sie doch bloss, wie sie die Beine übereinanderschlägt! Da hört doch alles auf!« entrüstete sich eine andere Dame aus dem Kreise der Frauen, die in dem Boudoir der Frau Geheimrat Berndt versammelt sassen. Man war vor kurzem von Tisch aufgestanden, und nach guter, alter Sitte hatten sich – wie der alte Theologe Prätorius immer witzig zu sagen pflegte – die »Schafe fein säuberlich von den Böcken« geschieden, d. h. die Damen sassen nun für sich in den beiden Salons und im Boudoir der Hausfrau, während die Herren beim Glase Bier gleichfalls für sich blieben. Es war dies nun zwar keineswegs der Ton, den Frau Geheimrat Berndt selbst für gewöhnlich in ihrem Hause angab, aber die überwiegend grosse Mehrzahl der Damen, die sie heute bei sich sah – es war eine richtige »Professoren-Gesellschaft« – war es einmal so und nicht anders gewöhnt. So hatte sich denn diese Ordnung der Dinge ganz von selbst gemacht.

Eine Ausnahme von dieser Regel machte nur die eben kritisierte junge Frau da drinnen im Rauchzimmer, die allerdings dort förmlich Hof hielt, denn die jüngeren Herren waren einfach entzückt, in dieser Sphäre von pedantischer Bürgerlichkeit eine so reizende Kameradin gefunden zu haben, die sich in angenehmer Emanzipation über die veralteten und langweiligen Gesetze der professorenhaften Geselligkeit hinwegsetzte und ihren Neigungen die Zügel schiessen liess. Sie kümmerte sich in der Tat herzlich wenig um die giftigen Blicke und Bemerkungen, die da drinnen von den alten Damen über sie gemacht wurden, ja ein herausforderndes helles Lachen und ein übermütiger Blick liessen sogar wiederholt erkennen, dass sie in ihrem Selbstbewusstsein sich über alle Kritik lachend hinwegsetzte.

Auch Frau Hellmrich sass hier im Boudoir mit den andern Damen, aber sie fühlte sich recht wenig behaglich. Nur auf ausdrücklichen Wunsch ihres Gatten war sie überhaupt zu dieser Festlichkeit mitgegangen, die der Geheimrat anlässlich der ihm zu teil gewordenen Ehrung allen Beamten seines Instituts veranstaltet und zu der er auch noch eine Anzahl hervorragender Persönlichkeiten aus der Beamtenhierarchie und Gelehrtenwelt hinzugebeten hatte. Nach allem, was geschehen, war Hellmrich natürlich selber zunächst entschlossen gewesen, nicht zu diesem Fest zu gehen. Aber ein herzliches Schreiben von Frau Berndt, die ihn angelegentlichst gebeten hatte, ihr zu Liebe doch zu kommen, da sich an sein Fernbleiben gerade jetzt unfehlbar gleich der Klatsch anheften würde, hatte ihn schliesslich bewogen, doch hinzugehen.

Frau Lotte war in diesem Kreis ziemlich fremd. Wohl hatte sie mit ihrem Mann bei den verheirateten Kollegen der Hygienischen Versuchsanstalt seiner Zeit Besuche gemacht und war auch in einigen nicht zu vermeidenden Gesellschaften gewesen, die Hellmrich aus kollegialischem Interesse zu besuchen genötigt gewesen war. Aber sie war trotzdem den Frauen dieses Kreises im Grunde fremd geblieben und sie hatte so auch gar keine Anknüpfungspunkte für die Unterhaltung. Ausserdem war ihr auch hier der fast stets medisierende, spitze und geschraubte Ton höchst unsympathisch. Waren es doch nichts als ewige Eifersüchteleien auf den Rang und die Bedeutung ihrer Gatten oder gar boshafter Klatsch über Abwesende, was man hier beliebte. Das war aber alles nicht nach Frau Lottes Geschmack, und so sass sie auch jetzt ziemlich teilnahmlos und still in einer Ecke des Salons.

Indessen fuhr die junge kokette Frau im Nebengemach fort, Gegenstand der Unterhaltung zu sein. »Wenn man nicht wüsste, dass sie die Frau eines höheren Staatsbeamten ist, man müsste wirklich denken, sie wäre ›mauvais genre‹, nicht wahr, meine Beste?« wandte sich herablassend an Lotte, um die offenbar so verschüchtert dasitzende kleine Frau auch einmal ins Gespräch zu ziehen, eine neben dieser sitzende, ziemlich hochmütig aussehende Dame. Frau Lotte fuhr erschreckt aus ihren Gedanken empor; sie hatte gar nicht zugehört, sah nun aber doch schnell nach der Richtung der Blicke aller und bestätigte höflich: »Aber gewiss, ja, Frau Professor.«

Ein sehr indignierter Gesichtsausdruck wurde bei der Nachbarin sichtbar und bedeutete der erschreckenden Frau Lotte, dass sie gewiss irgend ein Unheil angerichtet habe. In der Tat wurde ihr auch gleich darauf die Lektion zu teil. »Ja, da sagte vorhin sogar die Geheime Oberregierungsrätin Stockmeister zu mir: ›Wissen Sie, liebe Frau Geheimrat‹ – der auffallende Accent, den die Sprecherin auf den Titel legte, belehrte Lotte sofort, welcher Unterlassungssünde sie sich schuldig gemacht hatte – ›man kann wirklich mit Frau Simmert nicht mehr verkehren; ich finde es nur verwunderlich, dass man den Mann nicht längst versetzt hat.‹ – Es ist ja aber auch geradezu ein Skandal, wie sie sich aufführt.«

Lotte horchte plötzlich auf. Hörte sie recht, die Frau dort – Simmerts Frau?! Nun betrachtete sie die Dame da drinnen plötzlich mit einem brennenden Interesse. Sie vergrub sich förmlich mit ihren Blicken in dem etwas blassen Antlitz der jungen Frau im Boudoir, die jetzt nachlässig in ihren Fauteuil zurückgelehnt den Rauch der Zigarette von sich blies. Unzweifelhaft war sie eine Erscheinung von höchst pikantem Reiz und sie war sich dessen bewusst, das merkte man deutlich an der Art, wie sie mit überlegener, fast spöttischer Ironie die sich förmlich in Huldigungen überstürzenden Herren abfertigte. Sie brauchte offenbar diese stets etwas gespannte Atmosphäre, um ihre Nerven in jener ständig prickelnden Sensation zu erhalten, die die Erschlaffung nicht aufkommen liess, die sonst eine unausbleibliche Folge ihres ruhelosen, ermüdenden gesellschaftlichen Lebens gewesen wäre. Aber die nonchalante Art, in der sie sich offenbar doch nur oberflächlich mit den Herren befasste, liessen Frau Lotte als eine vorurteilslose Beobachterin zugleich erkennen, dass sie im Grunde von diesem Flirten nicht im mindesten berührt wurde – das hiess, doch wohl mit einer Ausnahme.

Da drüben in der Ecke, ziemlich weit von ihr, sass ein einzelner Herr – »in splendid isolation!« wie die Frau Geheimrat neben ihr eben gerade moquant bemerkte. Salopp die Beine übergeschlagen, räkelte er sich in seinem Eckplatz, anscheinend teilnahmlos seine Zigarette rauchend. Eine ganz moderne Erscheinung! Ein schlanker, hochgewachsener Mensch mit blassem, fast gelblichem Teint und müden, blasierten Zügen, aber doch von unleugbarer Intelligenz. So wenig er sich auch den Anschein gab, sich um die Gruppe der Courmacher und die junge Frau selbst zu kümmern, so verriet doch gelegentlich ein kurzer, aber scharf beobachtender Blick, den er dorthin hinüberwarf, dass er mit gespannter Aufmerksamkeit alles aus der Entfernung verfolgte. Und da – jetzt hatte Frau Hellmrich deutlich bemerkt, wie die junge Frau da drüben über die Köpfe ihrer Verehrer hinweg, die sich offenbar über ein Bonmot von ihr plötzlich pflichtschuldigst in Heiterkeit und Komplimenten überboten, einen Augenblitz zu dem interessanten Einsiedler in der Ecke hinüberschoss, den dieser auffing. Ein Ineinandersaugen beider Augen – dann ein heisses Leuchten in den seinen, und Frau Lotte meinte förmlich zu sehen, wie das blaue Geäder an den Schläfen des Mannes hervortrat und ein leises Vibrieren durch seine Gestalt lief. Die junge Frau hielt seinen sengenden Blick aus, ja er zündete plötzlich auch in ihren Augen eine wild aufflackernde Flamme an. Und so lag in diesem stummen Spiel der Blicke ein Fragen, Forschen und stürmisches Fordern, das mehr als Worte zu erkennen gab, dass zwischen diesen beiden Menschen die Bande einer sündigen Leidenschaft sich zu spinnen begann.

Also das war die Frau, die den einstigen Verlobten von ihrer Seite gerissen hatte! Mit heftig wogender Brust sass Frau Lotte da und starrte die da drüben an, in hoher seelischer Erregung. Kein Gefühl der Rivalität, denn Simmert war ihr ja so verächtlich geworden, dass sie den Besitz seiner Person niemandem neidete! Vielmehr stieg in diesem Augenblick in ihrem Innern das Erinnern empor an all den furchtbaren Schmerz und die schwere öffentliche Kränkung, die damals die Aufhebung ihrer Verlobung durch Simmert ihr angetan hatte, und ein Gefühl leidenschaftlichen Hasses flammte gegen das Weib in ihr auf, das die Schuld an all dem in letzter Linie trug. Aber zugleich noch ein anderes – ein Gefühl der Genugtuung! Denn in diesem Augenblick, wo sie die Frau Simmerts zum erstenmal gesehen, hatte sie auch zugleich erkannt, dass ihn das Schicksal gestraft hatte für das, was er an ihr gesündigt: Diese Frau bereitete sicher ihrem Mann kein ruhiges Glück im Hause. Ja, im Gegenteil: Die beständige Furcht, sie auf Abwege geraten, seine Ehre angetastet zu sehen, mussten den Mann, falls er nicht blind war, ruhelos hin und her peitschen und ihm seine Ehe zur Hölle machen. Und doch konnte ihn alles Bemühen sicherlich nicht vor dem Schimpf retten; denn aus den Augen dieser Frau hatte da eben ein dämonisches Feuer geleuchtet, das begierig alles erfasste und niederbrannte, was sich ihrer Leidenschaft in den Weg stellen wollte.

Das also war Simmerts Frau! Aber plötzlich kam ihr der Gedanke: Dann musste ja auch er hier sein. Zwar hatte sie ja wohl früher schon von ihrem Gatten gehört, dass Simmert im Ressort des Ministeriums tätig war, das sich auch mit den Angelegenheiten der Versuchsanstalt beschäftigte. Aber trotzdem hatten weder Hellmrich noch sie ihn jemals bisher zu Gesicht bekommen. Wie sonderbar aber, dass sie ihn auch heute noch nicht gesehen hatte, denn es war doch wohl anzunehmen, dass seine Frau nur in seiner Gesellschaft in diesen Kreis gekommen war. Allerdings hatte in den Festräumen der grossen Villa des Geheimrats Berndt heute ein solches Gewühl geherrscht, es waren ja wohl hier an hundert Menschen beisammen – dass es schliesslich schon erklärlich war, dass sie Simmert bisher nicht bemerkt hatte. Das Bewusstsein aber nun, dass er doch hier war, brachte plötzlich eine starke Unruhe über Frau Lotte. Seit neun Jahren hatte sie ihn ja nicht mehr gesehen, seit jenen Tagen, wo sie noch, im mädchenhaften Wahn, in ihm den wahrhaft Geliebten erblickt hatte – und nun sollte sie ihm heute vielleicht gegenüberstehen! Ein leises Zittern befiel sie bei diesem Gedanken. Wie mochte er aussehen? Wie würde er sich ihr gegenüber benehmen? Und mit unruhig umherirrenden Augen spähte sie in die lange Flucht der Gemächer hinein, die sich zur anderen Seite öffnete. Es überkam sie plötzlich ein Gefühl grosser Angst, und sehnlichst wünschte sie sich ihren Gatten herbei, um sich schutzsuchend an seinen Arm hängen zu können.

Und ihre Ahnung erfüllte sich. Eine gewisse Zeit war vergangen, da trat plötzlich an der Seite des Geheimrats Berndt Simmert in das Rauchzimmer. Hier trennte er sich von seinem Begleiter und schritt lächelnd auf seine Frau zu; es schien ihn nicht weiter zu überraschen, sie derartig Hof halten zu sehen. Galant beugte er sich zu ihr nieder, indem er ihr offenbar einige freundliche Worte zuflüsterte. Die junge Frau antwortete dem Gatten mit einem stark gelangweilten Ausdruck, und während sie gleichgültig irgend etwas erwiderte, richtete sich ihr Auge, wie magnetisch angezogen, nach der Ecke, wo der einsame Beobachter sie jetzt mit glühenden Blicken betrachtete. Ein wilder Grimm schien diesen zu verzehren, da er den Gatten zu der Frau treten und in so nahe Berührung mit ihr kommen sah. Wie ein leises Bitten um Entschuldigung und ein schmeichelndes Besänftigen ging es aus den Blicken der jungen Frau zu ihm hinüber. Deutlich konnte Frau Lotte diesen Blick wahrnehmen, aber auch Simmert hatte ihn wohl bemerkt, denn sein schon vom Wein etwas erhitztes Antlitz wurde noch röter, während ein drohend auflodernder Blick zu dem Herrn in der Ecke hinüberschoss. Kein Zweifel, er ahnte bereits, dass ihm von jener Seite Gefahr drohte.

So also sah Frau Lotte ihn wieder, den Verräter! Und plötzlich kam es über sie: Gerade jetzt in dieser Minute, wo sie Zeugin des stummen Auftritts da drinnen gewesen war, sollte er sie bemerken, ihr Aug' in Auge gegenüberstehen! Und, dem unwiderstehlichen Zwang, der über sie gekommen, gehorchend, stand sie auf und ging auf die Gefahr, bei den Damen des Kreises anzustossen, mit dem Bemerken hinweg, sie wolle einmal nach ihrem Manne sehen.

Nun schritt sie da drinnen an Simmert vorüber. Er hatte das nahe Rauschen eines Frauengewandes gehört, und jetzt plötzlich richtete er den Blick voll auf die dicht an ihm vorübergehende Dame. Seine Augen weiteten sich, und wie ein Erschrecken zuckte es im Augenblick über seine Züge. Einen Moment starrte er Frau Lotte zweifelnd an: War sie es wirklich? Dann flog ein Ausdruck von Verlegenheit über sein Gesicht, und er machte ihr – einem dunklen Zwangsgefühl gehorchend – eine halbe Verbeugung. Er war offenbar im Zweifel, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte. Frau Lotte sah diese unentschlossene Bewegung und sah auch noch ferner, wie dieses Benehmen Simmerts dessen Frau aufgefallen war. Leise flüsternd wandte sie sich nun mit einer Frage an den Gatten und blickte neugierig nach der Fremden hinüber. Da warf Frau Lotte den Kopf zurück, mit hochmütiger, gleichgültiger Miene sah sie über Simmert hin, von seinem Gruss keine Notiz nehmend, und ging stolz an ihm vorüber. –

Hellmrich hatte unterdessen drinnen mit den Herren im Trinkzimmer gesessen. Es waren an seinem Tisch noch mehrere Kollegen, zumeist jüngere Herren, gleich ihm Mitglieder der Hygienischen Versuchsanstalt, oder Dozenten der Hochschule. Lebhaft flog hier das Wort hin und her. Der Gegenstand der Unterhaltung war zum grössten Teil der Hausherr selbst, der dort in der Ecke mit mehreren Herren vom Ministerium sass und sich in geflissentlich liebenswürdigster Weise der Unterhaltung dieser Gäste widmete. Hellmrich hatte sich etwas vor dem Augenblick gescheut, wo er seinem Chef hier als Gast im Hause gegenübertreten sollte. Aber in seiner weltmännischen Gewandtheit hatte der Geheimrat ihnen beiden diesen Augenblick sehr erleichtert. Als Hellmrich da vor ein paar Stunden mit seiner Frau in den Empfangssalon eingetreten war, wo Berndt mit seiner Gattin die eintretenden Gäste begrüsste, hatte dieser ihm so unbefangen und freundlich, mit verbindlichem Druck die Hand geschüttelt, wie jedem seiner Gäste, und dann hatte er den Hausherrn im Gewühl der Gesellschaft fast ganz aus dem Auge verloren, bis er nun jetzt hier durch die Unterhaltung gezwungen war, sich wieder mit seiner Person zu beschäftigen.

Man war an Hellmrichs Tisch gerade dabei, sich aufs höchste zu belustigen, indem Dr. Kerstmann im leisen Flüsterton, aber mit um so höherem Pathos, Ausschnitte aus den Zeitungen vorlas, die er in den letzten Tagen gesammelt hatte und die sämtlich den Ruhm des grossen Entdeckers Berndt in die Welt hinausposaunten. Die zu boshaften Witzeleien aufgelegten Herren sprachen von ihm überhaupt bloss noch als dem »grossen Licht« oder dem »Retter der Menschheit«, sofern sie nicht vorzogen, ihn kurzweg den »Oberstreber« zu nennen.

»Ja, wissen Sie denn aber auch schon, dass die Chose bereits finanziell ausgeschlachtet werden soll?« warf einer der Herren in die Unterhaltung.

»Aber nee!« – »Was Sie sagen!« – »Aber erzählen Sie doch!«

»Also hören Sie, meine Herren,« erwiderte der andere. »Man erzählte sich gestern bei uns im Labor, es soll sich bereits ein Konsortium gebildet haben, das Berndt gegen eine Riesensumme die Berechtigung abkaufen will, sein Heilverfahren in einer Anzahl von Sanatorien praktisch zu betreiben.«

»Ist's möglich? Also die Sache soll regelrecht gegründet werden?«

»Na, haben Sie etwa etwas anderes von Berndt erwartet?« fragte ironisch ein anderer. »Bei dem war doch vorauszusetzen, dass er aus seiner Entdeckung Kapital schlagen würde. Dagegen wäre ja auch an sich gar nichts einzuwenden, meine Herren! Warum, zum Donnerwetter, soll schliesslich ein jeder andere Mensch mit seinem Können Geld verdienen, bloss der Gelehrte nicht? Also dagegen will ich gar nichts sagen, aber das verdenke ich dem ›Retter der Menschheit‹, dass er für sich selber in so gemeiner Weise Reklame macht! Ich bin vorhin selbst Zeuge gewesen, wie sein Adlatus Bindewaldt ein paar Zeitungsmenschen, die Berndt eigens ad hoc hergeladen hat, im Kabinett draussen einen detaillierten Festbericht über den heutigen Abend abfassen half und sorgfältigst dafür sorgte, dass aller Kohl, der heute von Berndt und den andern grossen Tieren hier bei den Tafelreden produziert worden ist, auch Wort für Wort in die Zeitung kommt – damit nur ja jedermann von der welterschütternden Bedeutung der Berndtschen Entdeckung und Persönlichkeit durchdrungen wird. Pfui Deibel – das ist doch, weiss Gott, schon nicht mehr schön!«

Allgemeine Entrüstung brach am Tische los, und verächtliche Blicke flogen zu dem Gastgeber in der Ecke hinüber.

»Sehen Sie bloss, wie ekelhaft er sich an Strycker ranwirft!« Dr. Kerstmann meinte den allmächtigen Ministerial-Dezernenten, um dessen Gunst sich allerdings der Geheimrat den ganzen Abend in auffallender Weise bewarb. Man sah allgemein nach dem Tische hinüber und bestätigte mit mehr oder minder lauten sarkastischen Bemerkungen seine Wahrnehmung.

»Haben Sie übrigens das Neueste schon gehört, das sich Strycker neulich geleistet hat?«

»Nein, also schiessen Sie mal los!« und Kerstmann begann zu erzählen:

»Die theologische Fakultät hatte den alten Rixner – Sie wissen, das grosse Kirchenlicht der Positiven in Erlangen – für den kürzlich erledigten Lehrstuhl von Senfftner in Vorschlag gebracht. Na, ist gut; also Strycker lässt sich den Mann auch kommen, der dann eines schönen Tages, knickstieblig, wie er sich hat, mit einem vorsündflutlichen Frack und dito Zylinder im Vorzimmer bei ihm eintritt. Als der Allgewaltige das klapprige Männchen bei sich über die Schwelle treten lässt, sieht er es prüfend an und spricht dann gelassen das grosse Wort: »Donnerwetter, sie sind ja schon ein ganz alter Knopp!«

Allgemeines Gelächter: »Sakra! – Auch eine Art, sich mit einem altverdienten Mann bekannt zu machen! – Na, ich kann nur sagen, mir kann der ganze Strycker gestohlen bleiben.«

Ein älterer Professor war jetzt in die Nähe des Tisches von Geheimrat Berndt getreten und hatte auf dessen einladende Bewegung Miene gemacht, sich dort niederzulassen. Kaum war diese Bewegung an einem Nebentisch beobachtet worden, so sprangen von dort zwei oder drei jüngere Männer, offenbar Dozenten oder Assistenten, auf, um alsbald dem neu hinzugekommenen Herrn, eifrigst sich voreinander vordrängend, ihre Stühle anzubieten.

»Ist's denn die Möglichkeit? Die Kerls bringen sich ja förmlich um vor Biereifer! Natürlich, das Oberreptil, der Bauchrutscher par excellence, Bindewaldt, allen um eine Stuhllänge voran! Na, er wird sich ja wohl auch zuerst von uns allen die Professur errutschen.«

Mit grimmigem Humor sagte es der Privatdozent Erkner, der neben Hellmrich an der Tafel sass.

»Leicht ist es wahrhaftig heutzutage nicht hineinzukommen,« bestätigte Kerstmann. »Kennen Sie das neuste Bonmot vom alten Heller, das er neulich einem Bekannten gegenüber verzapft hat? Es ist wirklich klassisch – aber wahr! Ja, ja, – sagte er – mein Lieber, der Weg zur Professur ist eben heutzutage mit Gemeinheit gepflastert.«

Das Aperçu des alten Heller öffnete alsbald die Schleusen einer gewaltigen Beredsamkeit, in der die jüngeren Herren mehr oder minder ihrem Grimm über verfehlte oder erschwerte Aussichten in ihrer Karriere Luft machten. Hellmrich, der überhaupt nur schweigend dieses Geklatsch angehört hatte, hatte nun genug, als auch noch dieses Thema angeschnitten wurde. Er stand daher auf und wollte hinausgehen. Im Vorübergehen winkte ihn aber ein älterer Kollege der Anstalt, der bereits ausserordentlicher Professor an der Universität war, zu sich heran.

»Na, lieber Herr Kollege, wollen Sie nicht ein bisschen bei uns Platz nehmen? – Die Herren gestatten doch?« und er wandte sich fragend an die Professoren, mit denen er zusammensass. Die Herren, die meistens Hellmrich schon kannten, baten gleichfalls freundlich um seine Gesellschaft, und so liess sich denn Hellmrich nun hier in dem kleinen Kreise nieder, der ihm sympathischer war. Es waren alles ältere, gereifte Männer, zum Teil Universitätslehrer von namhaftem Ruf. Aber auch hier drehte sich, wie Hellmrich bald merkte, die Unterhaltung lebhaft um Geheimrat Berndt. Und wenn natürlich auch der Ton, in dem das Thema hier behandelt wurde, ein gemässigterer war, so spiegelte sich doch aus dem Gespräch dieselbe Gesinnung wieder, wie an dem anderen Tisch, den Hellmrich soeben verlassen hatte.

Es war eben behauptet worden, dass Berndt die Beliebtheit, die er bekanntermassen bei der höchsten Person selbst genoss, nicht zuletzt verschiedenen Dingen verdankte, die gar nichts mit seiner Gelehrten-Qualifikation zu tun hatten. Geheimrat Berndt war nämlich unter anderem auch Mitglied des Auto-Klubs, dessen Ehrenpräsident der König selber war. Das grosse Vermögen, das Berndt durch seine Frau erheiratet hatte, setzte ihn in die Lage, sich allerlei Kavaliersgewohnheiten zu leisten, und so hatte er sich denn schon seit längerer Zeit eifrig auf diesen fashionablen und allermodernsten Sport geworfen.

»Wissen Sie übrigens schon, meine Herren,« fragte einer der Herren, der in Hofgeschichten wegen seiner Verwandtschaft mit dem Königlichen Leibarzt für eine Autorität galt, – »ich habe es aus bester Quelle – der König will sich sein Experiment noch in eigener Person ansehen.«

»Ah!« Ein allgemeines Erstaunen lief durch die Reihen. »Nicht möglich! Was Sie sagen!«

»Ja, ja, meine Herren, Sie sehen, wie man es anfangen muss, wenn man heutzutage wohl gelitten sein will. Ich glaube, wir allesamt, die wir hier sitzen, haben es daher dringend nötig, uns allmählich etwas zu mausern. Mit der reinen Wissenschaft ist es längst nicht mehr getan!« Mit grosser Bitterkeit sagte es Professor Ditzmann. Der namhafte Philosoph war allerdings dafür bekannt, dass er stark verbittert war über die nach seiner Meinung ungemessene Wertschätzung, die man neuerdings von höchster Stelle aus den Fächern mehr technischer Wissenschaften zuwandte. Und so fügte er denn auch jetzt noch, sein Steckenpferd tummelnd, hinzu: »Wollten wir nur alle noch auf unsere alten Tage anfangen, Maschinenbaukunst und Elektrotechnik zu studieren, so würden wir am Ende auch noch eine gewisse Daseinsberechtigung erlangen!«

Nun fühlte sich aber doch einer der Herren von der Versuchsanstalt, der wohl eine gewisse Spitze aus den Auslassungen Ditzmanns gegen die praktischen Zwecke seiner Anstalt herausfühlen mochte, bewogen, in die Debatte einzugreifen.

»Meine Herren, ich bin gewiss der letzte, der einer wissenschaftlichen Disziplin einen Vorrang proklamieren möchte. Wir alle – welcher Fakultät wir auch angehören mögen – dienen ja doch in gleicher Weise der Wissenschaft! Aber, wenn sie bedenken, mit welcher hochmütigen Geringschätzung jahrzehntelang hindurch alle die Fächer der modernen, speziell der technischen Wissenschaften von den altanerkannten Disziplinen behandelt worden sind, so kann man doch nur sagen, es liegt eine gewisse ausgleichende Gerechtigkeit darin, dass nun auch einmal der Technik gegeben wird, was der Technik ist.«

»Ich muss gestehen«, fiel einer der andern Herren ein, »dass – wenn ich auch in mancher Beziehung dem Kollegen Ditzmann nur recht geben kann – es einen immerhin doch freuen muss, wenn von höchster Stelle ein solches Wort der Anerkennung für unsere nationale Wissenschaft fällt, wie erst wieder neulich, als der König sagte: »Die Kriege der Zukunft werden von Gelehrten entschieden werden!« Und ich meine, ob nun dieses Lob der oder jener Fakultät mehr gilt, wir können doch allesamt stolz darauf sein, dass unsere Gelehrten-Arbeit von der berufensten Stelle des Vaterlandes so hoch geschätzt wird!«

Das Gespräch erfuhr plötzlich eine Ablenkung; denn man sah, wie Berndt scherzend und in heiterster Laune eben mit dem Geheimen Regierungsrat Simmert vorüberging, in dessen Arm er liebenswürdig seine Rechte gelegt hatte.

»Diese Freundschaft mit Stryckers ›Adjutanten‹ ist doch geradezu rührend!« scherzte Professor Hennemann. »Nun, ich denke, meine Herren, wir können das Kriegsbeil begraben und uns alle beruhigen mit der tröstlichen Gewissheit, dass, ob nun Techniker oder Nicht-Techniker, wir allesamt die Waffen vor dem Verwaltungsbeamten zu strecken haben: Der Assessor bleibt doch schliesslich der höchste Trumpf! Und das ist ja auch doch nur gut so, damit an der heiligen Ordnung der Welt nicht gerüttelt wird!« Ein allgemeines Lachen beantwortete den komischen Stossseufzer des Kollegen Hennemann. –

Hellmrich erhob sich schliesslich, um sich nach seiner Gattin umzusehen. Wie er, sie suchend, durch die Festräume schritt – es war schon ziemlich spät geworden, und der allgemeine Aufbruch begann – traf er im grossen Empfangsraum auf Geheimrat Berndt und seine Gattin, die mit den liebenswürdigsten Ausdrücken des Bedauerns sich von den scheidenden Gästen verabschiedeten. Jeder bemühte sich mit verbindlichster Miene angelegentlichst seinen »herzlichsten Dank für den reizenden Abend« auszusprechen und zugleich noch einmal seine »allerherzlichsten Glückwünsche zu dem grossen Erfolg« anzubringen. So war eine förmliche Defiliercour vor Berndt entstanden, und man sah seinem Antlitz auch die stolze Freude an, sich an diesem Triumph weiden zu können. Dicht neben ihm stand seine Frau, aber hinter ihrer äusseren liebenswürdigen, heiteren Miene verbarg sich eine nur mühsam erzwungene Fassung. Hellmrich meinte es zu sehen, wie schmerzlich die arme Frau unter jeder dieser Lobhudeleien für ihren Gatten, die vielfach auch an ihre Adresse gerichtet wurden, förmlich zusammenzuckte; wie sie sich aufreckte, als wolle sie dieses ihrem innersten Wesen verhasste Blendwerk abschütteln und für ihre Person wenigstens jeden Anteil an diesem Triumph weit von sich abweisen.

Hellmrich blieb unwillkürlich einige Momente stehen und schaute mit tiefster Teilnahme zu ihr hinüber. Beide Gatten so nahe beieinander und, vor den Augen der Welt, auf dem glänzenden Höhepunkte ihres Lebens eng vereint, und doch in ihrem Innersten so weit entfernt voneinander – getrennt für alle Zeiten! Es mochte sein, dass sein beobachtender Blick von Frau Berndt wahrgenommen worden war, denn plötzlich richtete sie die Augen zu ihm hin, und ihre Blicke trafen sich in einem schmerzlich-stillen Sichverstehen. Da fielen Hellmrich die Worte ihres Briefes ein, den er vor wenigen Tagen von ihr empfangen hatte: »Sie werden sich vielleicht wundern, mein lieber Freund, mich nach alle dem noch weiter an seiner Seite zu sehen. Aber nach schwerem Kampf mit mir selbst habe ich mich zum Ausharren entschlossen. Es gibt ja schon genug Schmutz und Skandal auf der Welt; man soll ihn nicht ohne – äusserste Not vermehren. Ich bleibe also äusserlich bei ihm; doch man kann ja auch trotzdem geschieden sein, tiefer als durch jeden Richterspruch.«

Wahrlich, eine grossgesinnte Frau!

 


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