Paul Grabein
Im Wechsel der Zeit
Paul Grabein

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XIV.

»Da, da – jetzt geht das Unheil los!« Mit ingrimmigem Auflachen warf Hellmrich die Zeitung, aus der er gelesen hatte, auf den Tisch. Frau Lotte sah auf. Sie sass schon mit einer Arbeit am Fenster, während ihr Gatte noch am Frühstückstisch sass und seine Zeitung las, wie er stets des Morgens, bevor er auf das Bureau ging, zu tun pflegte.

»Was ärgert dich denn so?« fragte sie, besorgt nach ihrem Mann sehend.

»Da, lies nur!« Hellmrich reichte ihr das Blatt hin. Sie blickte hinein. Die Zeitung enthielt im Feuilleton unter »Kunst und Wissenschaft« einen längeren Artikel, der durch auffälligen Sperrdruck noch besonders hervorgehoben war.

»Neues von Professor Berndts Krebsheilverfahren. Nachdem die letzten Versuche mit dem neuen, von dem Geheimen Regierungsrat Professor Dr. Berndt, dem Direktor unserer Hygienischen Versuchsanstalt, erfundenen Heilverfahren zur Bekämpfung der Krebskrankheit nunmehr zum Abschluss gebracht sind, hat Herr Geheimrat Berndt seine Zustimmung dazu gegeben, dass die Zeon-Strahlungstherapie bei Krebskranken zur Anwendung gebracht wird. Durch die Berndtsche Erfindung ist unsere Heilwissenschaft um eine glänzende Errungenschaft bereichert worden, die sich bald die gesamte Kulturwelt zunutze machen wird. Wie wir in der Lage sind mitzuteilen, haben sich bereits alle staatlichen Krankenhäuser und auch viele Privat-Heilanstalten auf die neue Heilmethode eingerichtet und werden nunmehr die Behandlung von Krebs nach der Berndtschen Methode vornehmen. Begreiflicherweise sieht man in den Kreisen der Patienten diesem grossen Augenblick schon seit langem mit grösster Ungeduld entgegen. Hängt doch für zahlreiche Unglückliche vielleicht Leben und Tod von der noch rechtzeitig beginnenden Behandlung nach der neuen Art ab. Wie uns aus dem grossen Allgemeinen Krankenhaus mitgeteilt wird, haben sich allein bei diesem schon mehr als hundert Patienten zur Behandlung gemeldet. Das Aufnahmebureau der Anstalt wird täglich von Kranken geradezu bestürmt, und herzzerreissende Szenen sollen sich abspielen, wenn den Leuten bedeutet wird, dass selbstverständlich nur eine kleine Zahl von Bewerbern zur Behandlung zugelassen werden kann, und dass bei dem Riesenandrang des Publikums die Aussicht auf eine Berücksichtigung des Gesuches daher vielleicht oft erst nach Jahr und Tag vorhanden ist. Dann ist es natürlich schon für manchen Schwerkranken längst zu spät. So sieht man denn hier manchen Unglücklichen mit seinen Angehörigen, die voll neu aufflammender Hoffnung von weit hergeeilt sind, mit verzweifelten Mienen, unter lautem Wehklagen wieder abziehen, um eine letzte Hoffnung ärmer. Und ähnlich, wie hier, geht es in fast allen Krankenhäusern und Heilanstalten unserer Stadt zu. Nun, wenn auch nicht all den Unglücklichen jetzt wird geholfen werden können, so doch sicherlich einem grossen Teil, und sie alle werden den genialen Entdecker des neuen Heilverfahrens als ihren Retter inbrünstig preisen und verehren.

Fürwahr, ein erhabenes Gefühl muss es sein, sich so als Wohltäter der Menschheit zu fühlen! Wie unendlich viel höher steht doch solch Verdienst, als alles das jener geschichtlichen Helden, die bloss mit Feuer und Schwert haben vernichten oder unter Verlust von Abertausenden von Menschenleben Neues haben aufbauen können, während hier eine Grosstat geschieht, die Tausende von kostbaren und unersetzlichen Menschenleben erhält. –

Geheimrat Professor Dr. Berndt hat gestern in eigner Person noch einmal die im grossen Allgemeinen Krankenhaus getroffenen Einrichtungen zur Ausübung seines Verfahrens – die übrigens in ihrer Art mustergültig genannt werden dürfen – besichtigt. In Begleitung seines Assistenten und Mitarbeiters Dr. Bindewaldt – der übrigens, was dem grossen Publikum noch wenig bekannt ist, in jahrelanger, treuer Arbeit dem grossen Gelehrten bei den mühevollen Versuchen zu seiner fulminanten Entdeckung zur Seite gestanden hat und jetzt sich auch um die praktische Anwendung des Verfahrens sehr verdient gemacht hat – weilte Herr Geheimrat Berndt wohl zwei Stunden lang in der Anstalt und unterzog den gesamten Heilapparat einer bis ins kleinste gehenden Besichtigung.

Wie sehr unser König den genialen Entdecker schätzt, und welch regstes Interesse der hohe Herr der gewaltigen Entdeckung entgegenträgt, ist ja bekannt. Auch jetzt hat der Monarch dieses Interesse betätigt, indem er Herrn Geheimrat Berndt zum persönlichen Vortrag über die Einrichtungen zur praktischen Anwendung des Krebsheilverfahrens zu sich berufen hat. (Vergl. den Hofbericht.)«

Frau Lotte liess das Blatt aus der Hand sinken: »Aber das ist ja unerhört!«

»Nicht wahr? Die unglücklichen Kranken werden ja förmlich mit Gewalt in ihr Verderben hineingehetzt.«

»Nicht das,« sagte Lotte, »aber diese widerwärtige Weihrauchsräucherei vor Berndt und – das allertollste – jetzt ist Bindewaldt auch schon der Mitarbeiter von Berndt geworden!«

Hellmrich lachte bitter auf: »Ja, ja, geschieht mir schon ganz recht! Warum habe ich auch so unverantwortlich leichtsinnig mein Glück verscherzt und meinem Herrn und Meister zu trotzen gewagt!«

Eifrig drang Lotte auf ihn ein: »Aber das wirst du dir doch nicht stillschweigend gefallen lassen! Selbstverständlich musst du eine Berichtigung von der Zeitung verlangen.«

»Ach, wozu?« sagte Hellmrich resigniert. »Was nützt mir das? Und im übrigen – ich danke dafür, jetzt meinen Namen irgend in Verbindung gebracht zu sehen mit einer Sache, die in allernächster Frist zum schönsten Skandal umschlagen wird.«

»Ganz egal,« widersprach ihm Lotte, »das liesse ich mir doch nicht bieten – einem andern die Früchte meiner Mühe und Arbeit ruhig zu überlassen!«

»Lass gut sein, Lotte,« sagte Hellmrich, zu ihr tretend, »die Leute, auf die mir es ankommt, lächeln ja doch bloss über diese Entgleisung des übereifrigen Reporters – und was der grosse Haufe denkt, nun, das lässt mich eben kalt. – Nein, meine Lotte, wahrhaftig, das ist das wenigste, das wollte ich gern überwinden, wenn nur das eine –« Er sprach den Satz nicht zu Ende, mit einem unterdrückten Seufzer brach er ab, und sich schnell niederbeugend, dass sie seine schmerzliche Miene nicht sehen sollte, drückte er ihr einen leichten Kuss aufs Haar: »Auf Wiedersehen, Lotte – leb' wohl!«

Schnell ging er aus dem Zimmer.

Mit feuchtschimmerndem Blick sah seine Frau ihm nach. Unendlich leid tat er ihr in diesem Augenblick, wie er so still hinausging mit seinem bitteren Weh im Herzen, das er so männlich tapfer vor ihr verbarg. Ja, ein Mann, wirklich ein ganzer Mann, das war er! Und wahrlich, ein grossdenkender Mensch dazu bei all der Schlichtheit, die sein Wesen auszeichnete. Hatte es sich nicht eben wieder glänzend gezeigt? Wie alles Kleinliche, Empfindliche ihm so fern lag, wie nur das grosse Mitleid mit der leidenden Menschheit ihn beherrschte! Und daneben der Gram, dass er, der den Weg zu einer wirklichen Grosstat reiner Wissenschaft wusste, ihn nicht gehen konnte! Statt dessen musste er still mit ansehen, wie die Welt dem anderen, dem Unwürdigen, Weihrauch streute, ihn wie einen Götzen auf den Altar erhob.

Noch nie war Lotte das alles so zum Bewusstsein gekommen, wie heute, noch nie hatte sie ein solches Mitleid, aus tiefster Liebe geboren, mit ihrem Mann gefühlt, wie in dieser Stunde. Und noch nie auch hatte sie so stark das Bewusstsein gequält, dass das eine einzige Mal, wo sich ihm ein Weg zu seinem grossen Ziel geöffnet hatte, sie selbst ihn davon hatte abdrängen müssen. O, was hätte sie darum gegeben, wenn sie ihm zu diesem Ziele hätte verhelfen können! Aber ach, es stand ja ausser ihrer Macht.

Da plötzlich, ganz unvermittelt, wie aus einem unbewussten, geheimen Ideengang heraus, schoss ihr ein Gedanke auf: Simmert! Es fielen ihr plötzlich seine letzten Worte von neulich ein: »Wenn Sie je einen Freund brauchen, wenn ich Ihnen jemals mit einer Tat meine Freundschaft beweisen und so meine Schuld sühnen könnte« – ja, er konnte es, wenn er nur wollte! Wenn er den Minister für das Projekt ihres Mannes interessierte, so würde diesem sicher geholfen werden! Und plötzlich kam es über sie wie ein Rausch, wie ein Freudentaumel. Voll schwellender Zuversicht, mit fieberhaft glänzenden Augen und heissen Wangen, eilte sie zum Schreibtisch und schrieb an Simmert, nur wenige Worte, aber diktiert von innerster Bewegung. – So! Mit zitternden Händen faltete sie den Brief zusammen. Wenn es Simmert in jener Stunde Ernst gewesen war, so konnte er sich ihr jetzt nicht versagen, dann musste, dann würde er helfen. O Gott, und sie wollte es ihm ja aus innerster Seele danken! Dann hatte er ja wahrhaftig alles wieder gut gemacht, was er je an ihr und Hellmrich gefehlt, dann wollte sie ihn als ihrer beider aufrichtigen Freund hochhalten vor aller Welt.

 


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