Paul Grabein
Im Wechsel der Zeit
Paul Grabein

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XXII.

Es war in den Nachmittagsstunden eines wunderbar milden Märztages. Durch das geöffnete Fenster drang in Hellmrichs Studierstube der goldene, warme Schein der zur Rüste gehenden Sonne und eine weiche, linde Luft, die selbst in die dumpfen Grossstadtstuben eine leise Ahnung von dem grossen, hoffnungsseligen Auferstehen draussen in Wald und Feld hineintrug. Auch Hellmrich an seinem Arbeitstisch umschmeichelte dieser würzige, linde Frühlingshauch. Er lehnte sich in den Stuhl zurück und schaute hinaus in den flimmernden Sonnenschein, der sich in seine Stube stahl, wie um ihn herauszulocken aus dem engen, trüben Kreis seines Lebens hier. Ja, wahrlich, ein freudeloses, trauriges Leben! Seitdem auch seine Kinder fort waren, war er ja ganz allein in den einsamen Räumen mit ihrem drückenden Schweigen, wo einst fröhliches, helles Lachen gehallt, und die fleissigen Hände der Hausfrau Ordnung schaffend gewaltet hatten, jetzt aber in allen Ecken und Fächern der Staub sich ungestört ablagerte.

Wer ihm das geweissagt hätte, dass er einmal so verlassen, so trübselig hausen werde! Und sein Geist flog rückwärts in längst entschwundene bessere Zeiten – in jene ewig heiteren Studentenjahre im lieben Jena, in jene selige, glücksvolle Zeit, wo er im thüringer Waldesgrün gewandelt, am Arm die nach langem, schmerzvollem Kampfe errungene Geliebte. Lotte, Lotte! Dass sie ihm das antun musste – sie, der sein Herz gehört hatte vom ersten Tage an, da er sie gesehen – dass das Leben so grausam und kalt blühende Hoffnungen zertrat, die ihm einst im Herzen so vertrauensvoll aufgeschossen waren. Was war es für ein traurig Ding um dieses armselige Menschenleben! Eine Kette von bitteren Enttäuschungen und Resignationen dieses ganze Dasein! Was blieb schliesslich wohl noch übrig von all' den überreichen Knospen, mit denen sich einst das junge Menschenpflänzchen so daseinsfroh zum Licht gedrängt?

Eine weiche, wehmutsvolle Stimmung schlich sich immer mehr in Hellmrichs Brust, und plötzlich schloss er ein Fach seines Schreibtisches auf und holte eine Photographie heraus, die er dort verschlossen hatte: Lottes Bild! Er hatte es noch am Abend jener Katastrophe verborgen; es sollte ihn nicht mehr gemahnen an das Furchtbare und ihm nicht die blutende Wunde immer von neuem wieder aufreissen. Nun aber nahm er zum ersten Male seit jener Stunde das Bild wieder hervor. Es war jene Photographie, im einfachen, von ihr selbst geflochtenen Stroh-Rahmen mit einem Sträusschen Heidekraut, das sie ihm an jenem Tage ihrer Verlobung gepflückt hatte, und es zeigte ihre Züge in der ganzen süssen, anmutigen Mädchenlieblichkeit, wie sie ihr damals zu eigen gewesen war. Mit umflortem Blick starrte Hellmrich auf das schon verblasste Bild und die verdorrten Blümchen. Dass das alles so vergänglich war! Was war aus der Lotte jener Tage geworden: Eine nervöse, überreizte, sich und andere quälende Frau, von der die anschmiegende Weichheit so ganz gewichen war, verdrängt von einem unklaren, heftigen Drange nach Selbständigkeit. Warum – warum war das alles wohl gekommen? Und Hellmrich begann nachzugrübeln über die Ursachen dieser Veränderung.

Allmählich schien ihm Klarheit zu kommen. Ja, ja, es war schliesslich wohl kein Wunder: Die schweren Opfer an körperlicher und seelischer Spannkraft, die sie ihren Kindern gebracht, so bald hintereinander, die ewigen, zerreibenden Sorgen um die Erziehung und Pflege der Kleinen, die Mühen mit dem Haushalt – das alles war wohl über ihre Kräfte gegangen und hatte so einen Zustand nervöser Überreiztheit und innerer Unbefriedigung in ihr gross gezogen, der doch schliesslich an allem schuld war. Aber, mein Gott, es war doch nur das Los der meisten Frauen, das ihr zugefallen war. Gewiss, die Ehe war nicht entfernt der Rosengarten, als der sie dem sehnsuchtsvollen, Glück erwartenden Sinn der Verliebten erscheint. Sie war vielmehr ein bitter ernstes Ding, das Opfer über Opfer forderte, ganz besonders von Seiten der armen, durch die Natur schon so belasteten Frauen; aber es traf doch schliesslich auch alle andern! Warum musste Lotte gerade eine von den wenigen sein, die offenbar der natürlichen Aufgabe der Frau nicht gewachsen waren?

Eine starke Bitterkeit gegen das Schicksal quoll in Hellmrich auf. Sein Groll wandte sich von Lotte ab gegen die dunkle, unsichtbare Macht, die die Menschen schafft, wie sie sind, die sie zufolge ihrer natürlichen Anlagen hineinzwingt in Schuld und Fehle. Ja, er fühlte heute ein so unendliches Mitleid mit seiner armen Frau – er empfand so deutlich, wie noch nie, dass er sie im Grund seiner Seele noch tief und innig liebte. Es erhob sich in ihm sogar eine leis drängende Stimme, die ihm zurief, zu ihr zu eilen und ihr seine Vergebung, seinen Trost zu bringen. Aber es ging ja nicht! Auf der andern Seite stand mit eherner Miene seine Ehre, die schwergekränkte, und heischte mit strengem Munde, dass er nicht in gutmütiger Schwäche abwich von der Richtschnur, die ihm stets sein Leben lang die massgebende gewesen war, von dem obersten Gesetz im Leben eines rechten Mannes! Und mit einem schweren Seufzer tat Hellmrich das Bild wieder in sein Verwahrsam.

Es war inzwischen dämmerig geworden in dem Gemach, und Hellmrich stand auf, sich Licht zu machen, um seine Arbeiten wieder fortzusetzen. Da scholl plötzlich durch die stillen Räume seiner Wohnung hell und scharf der Ton der Flurklingel. Er war in seiner Einsamkeit so wenig gewöhnt, gestört zu werden, dass ihn dieses Klingeln ordentlich aufschreckte. Wer mochte zu ihm wollen? Ein Gedanke machte plötzlich sein Herz schneller schlagen: Wenn es – Lotte wäre, die von Reue getrieben und gerührt davon, dass er ihr die Kinder geschickt, in ihrer impulsiven Art sofort herbeigeeilt war, um seine Verzeihung zu erbitten! Wie sollte er sich ihr dann zeigen?

Mit bewegtem Herzen eilte er rasch auf den Flur hinaus. Nun öffnete er die Tür, aber eine starke Enttäuschung war's: Da stand keine Lotte, die bebend sich an seine Brust flüchten wollte, sondern ein Mann – ein Fremder, dessen Gesichtszüge er in dem ungewissen Dämmerlicht des schon ziemlich dunklen Treppenflurs nicht zu erkennen vermochte.

Auch der Fremde schien im Zweifel, ob er recht wäre; er hatte wohl nicht mehr genau das Namensschild neben dem Klingelzug erkennen können und ebenso wenig vermochte er den ihm Öffnenden im völligen Dunkel des Korridors zu erkennen.

»Pardon,« sagte er daher, seinen Hut ziehend, »bin ich hier recht bei Herrn Doktor Hellmrich?«

Hellmrich horchte erstaunt auf, gleich beim ersten Wort. Der Klang dieser Stimme war ihm so vertraut, und doch kannte er den Fremden nicht. Schnell erwiderte er: »Gewiss, Sie sind ganz recht hier. Aber mit wem habe ich denn die Ehre?«

»Herr Gott, alter Verstand, du bist es ja selbst! Kennst du mich denn nicht mehr? – Rittner?« – Und der Fremde trat in starker Bewegung über die Schwelle.

Heinz Rittner! Aber natürlich! Seine Stimme war es ja. Aber war es denn nur möglich? Stand vor ihm wirklich der einstige Couleurbruder, der vor Jahren über das grosse Wasser gegangen und seitdem verschollen war? Doch es war ja kein Zweifel mehr möglich, und in warm aufquellender Herzensfreude zog Hellmrich den Heimgekehrten in seine Arme. »Mein guter, alter Heinz!« Das war doch einmal eine Freude – das tat gut nach so vielem Bitteren, das die letzte Zeit gebracht hatte.

Aber dann machte Hellmrich schnell Licht. »Du musst entschuldigen, es sieht bei mir hier wie in einer Spelunke aus – eine richtige Junggesellenwirtschaft!«

»Ich denke, du bist verheiratet, mit Charlotte Gerting aus Jena,« bemerkte Rittner etwas unsicher. »So hörte ich wenigstens in Hamburg, wo ich jetzt zufällig einen alten Jenenser Bekannten traf.«

»Ganz recht!« bestätigte Hellmrich, aber es klang Rittner wie eine gewisse Verlegenheit aus seiner Stimme, »ich bin auch nur zur Zeit Junggeselle oder richtiger Strohwitwer. Meine Frau ist nämlich mit den Kindern auf Besuch bei ihrer Mutter.«

»Ach so,« machte Rittner, und er folgte dem Jugendfreund in dessen Studierzimmer, wo dieser gleichfalls schnell das Gas ansteckte.

»So, aber nun leg' ab und mach' es dir gemütlich – so gut, wie das eben hier möglich ist, in dieser verwahrlosten Häuslichkeit. Es ist mir wirklich äusserst peinlich, dass du mein Haus in diesem Zustand kennen lernst. Es sieht aber nicht immer so bei uns aus – das kannst du mir schon glauben!« scherzte Hellmrich. während er dem Besuch Mantel und Hut abnahm. Aber aus den scherzhaften, etwas hastig vorgebrachten Worten klang doch eine verborgene Bitterkeit heraus, die dem Ohr des anderen nicht entging. Prüfend sah Rittner mit einem stillen Blick zu Hellmrich hinüber, während sich dieser mit seinen Sachen bemühte. Was mochte der gute Hellmrich denn nur haben? Es war ja so etwas Bedrücktes in ihm, trotz aller herzlichen Freude über das Wiedersehen.

Nun war Hellmrich wieder zurückgekehrt und stellte sich vor den Freund hin. »Na, nun lass dich aber mal ansehen, mein Alter!« Er überflog das von der Tropensonne tief gebräunte Gesicht, ein schmales Gesicht mit dunklem Spitzbart, aus dessen grossen Blicken und ernsten Zügen eine starke Energie und ruhige Sicherheit sprachen. Ein modischer, sehr gut sitzender Anzug von englischem Schnitt hob noch den eindrucksvollen Eindruck seiner Erscheinung. »Donnerwetter, Heinz, hast du dich verändert!« staunte Hellmrich. »Vom alten Toni aus Jena ist nicht mehr viel übrig geblieben – nur das da!« und scherzend tippte Hellmrich auf die tiefe Narbe, die einst eine Jenenser Tiefquart in die Wange Rittners gerissen und die, obwohl vom Bart jetzt überwuchert, doch noch immer deutlich sichtbar war.

Rittner lächelte. »Magst recht haben, alter Verstand! Na, aber ich denke, es ist nicht weiter schade darum! Aber hör' mal, auch du hast dich verändert, mein Junge.«

»Ich – ich dächte doch nur wenig,« meinte Hellmrich, »höchstens der Vollbart.«

»Ja, im Äusseren weniger, aber so in deinem Wesen,« und Rittners Blicke musterten scharf den Freund.

Hellmrich wurde ordentlich verlegen. Diese Blicke drangen so tief, als ob sie ahnten, was da drin in seinem Herzen verborgen war.

»So, findest du?« erwiderte er ausweichend, mit einem Versuch, zu scherzen. »Nun, man ist doch schliesslich nicht ganz umsonst an die zehn Jahr älter und dreifacher Familienvater geworden. Na, aber nun sag' doch vor allen Dingen einmal, wie kommst du denn hier wieder her! Wirst du nun für immer hier bleiben?«

»Das kann ich jetzt noch nicht sagen, aber es ist leicht möglich,« versetzte Rittner. »Ich bin hier im Auftrage meiner Gesellschaft – ich bin nämlich wohlbestallter Direktor einer Plantagen-Gesellschaft in Togoland und herübergekommen, um Verhandlungen mit der Kolonial-Gesellschaft zu führen. Wir planen eine bedeutende Erweiterung unserer Unternehmungen. Wenn alles gelingt, so ist es wohl möglich, dass ich als ständiger Repräsentant der Gesellschaft in Deutschland bleibe.«

»Was du sagst!« Hocherfreut sprang Hellmrich auf. »Solch grossartige Karriere? Da gratuliere ich dir von ganzem Herzen, mein alter, lieber Heinz,« und er drückte die Rechte des Freundes mit beiden Händen. »Das musst du mir alles haarklein erzählen, wie du zu der famosen Stellung gekommen bist. Aber,« er sah sich plötzlich angewidert im Zimmer um, »hier ist wirklich nicht der Ort zu einer gemütlichen Unterhaltung. Ich habe auch rein nichts im Hause, was ich dir vorsetzen könnte – du musst mir schon gestatten, dass ich dich ausser dem Hause bewirte.«

Auch Rittner stand auf. »Nein, mein alter Junge, das wirst du mir diesmal hübsch überlassen. Du entsinnst dich wohl noch, wer das letzte Mal, als wir zusammen waren, die Kosten bestritten.« Seine Miene wurde plötzlich sehr ernst; aber zugleich leuchtete ein heisser Strahl der Dankbarkeit aus den dunklen Augen Rittners. »Ich habe das nicht vergessen, auch wenn ich nichts mehr von mir hören liess. Es ist noch allerlei zwischen uns abzuwickeln. Na, das nachher! Aber jetzt bitte: Mach' mir die Freude, sei einmal mein Gast! Komm mit in mein Hotel!«

Hellmrich gab gern nach, und so schritten sie denn bald zusammen die Treppe hinab.

 


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