Paul Grabein
Im Wechsel der Zeit
Paul Grabein

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XI.

Frau Lotte ging nach Hause, in scheinbarer Ruhe, aber es stürmte trotzdem in ihrem Innern. Die schneidende Kälte, mit der sie eben Simmert abgefertigt hatte, war nur das Werk zur Gewohnheit gewordener Selbstbeherrschung gewesen. Mit vollster Absicht hatte sie ihm die letzten Worte ins Gesicht geschleudert, in einer Anwandlung von Grausamkeit. Sie hatte ihn ganz demütigen wollen. Er sollte nicht wähnen, dass noch irgend ein Funke des einstigen Empfindens für ihn übrig geblieben sei; im Gegenteil, er sollte es wissen: Ausgelöscht war sein Andenken bei ihr, für alle Ewigkeit! –

Als Frau Lotte in ihr Haus trat, war sie noch so aufgeregt, dass es ihr nicht möglich war, ihr Lager aufzusuchen. So setzte sie sich denn ans offene Fenster des Wohnzimmers und starrte, den Kopf in die Hand gestützt, trotz der empfindlichen Winterkälte draussen in die dunkle Nacht hinaus.

Noch einmal durchlebte sie die Szene vorhin mit allen Stimmungen, die sie dabei empfunden hatte, und plötzlich tönte ihr wieder deutlich seine leise, weiche Stimme im Ohr. Wie einst klang sie noch, wenn er ihr früher zärtliche Worte zugeflüstert hatte. Ach, wie lange lag diese selige Jugendzeit hinter ihr, mit ihrer ersten, himmelaufjauchzenden, stürmischblinden Liebe, mit dem holden Traum einer nie entschwindenden Glückseligkeit, da sie noch nichts ahnte von all den trüben Enttäuschungen des Lebens und der Ehe! Gewiss, es war ja nur ein Wahn gewesen, aber damals für sie doch ein volles, greifbares Glück! Und diese berauschende Seligkeit – die hatte sie nie wieder kennen gelernt, auch dann mit Hellmrich nicht. Da hatte denn doch schon zu viel bitterer Ernst scharfe Furchen in ihre Seele gerissen. Ein Stück von ihrem Wesen, von ihrem innersten Sein, das kein anderer sonst kannte, gehörte also doch dem Mann da zu eigen, den sie nun mit kalter Verachtung hatte auf der Strasse stehen lassen, als hätte nie dieser Arm sie umfangen, diese Lippen –!

Plötzlich brach sie in ein Weinen aus, ihr Kopf sank auf die Arme, und so lag sie lange, lange. –

So fand sie Hellmrich, als er nach Hause kam. »Was ist denn, Lotte?« fragte er besorgt, und beugte sich über sie, zärtlich den Arm um ihre Schulter legend. Eine wirklich schwere Sorge ergriff ihn, als er sie so in nächtlicher Stille, in Schmerz aufgelöst, vor sich sah.

Da sprang sie unvermittelt empor und schlang leidenschaftlich die Arme um seinen Hals, sich heftig an ihn pressend. »Karl, sei gut zu mir, sehr gut, hörst du!« flehte sie dicht an seinem Ohr; eine geheime Angst zitterte in ihren Worten. »Ich sehne mich ja so nach Liebe.«

Hellmrich zog sie bewegt an sich. Ihr Wesen war ihm rätselhaft, aber gleichviel – er fühlte in diesem Augenblick wieder einmal, genau so wie früher in den ersten Zeiten ihres Glückes, eine wie grosse, tief ernste Liebe ihn zu dem zarten, hilfsbedürftigen Geschöpf hinzog, das sich ihm anvertraut hatte fürs Leben, und zärtlich fragte er:

»Meine gute Lotte, was ist dir denn? Zweifelst du an meiner Liebe?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Karl, aber deine Liebe ist so anders geworden; ach Gott, Karl, wir leben doch eigentlich wie ein Paar alte Leute und wir sind doch noch jung! Karl, sei jugendlicher, beweglicher, ich bitte dich, aber auch ein bisschen zärtlicher zu mir! Ich brauche es ja so, wie meine Lebensluft! Da will ich ja wieder so glücklich sein,« und sie presste sich von neuem leidenschaftlich an ihn.

Hellmrich schüttelte den Kopf, er verstand seine Frau nicht; aber gewiss war es wieder ein neuer Ausbruch ihrer nervösen Stimmung, diesmal nur in anderer Form. Es war wirklich Zeit, dass etwas dagegen geschah; wenn es doch nur nicht mehr so lange hin bis zum Frühling wäre! Und in herzlicher Sorge streichelte er, leise beschwichtigend auf sie einsprechend, über ihr Haar. Es lag etwas Väterliches in dieser Liebkosung. Das empfand auch das junge Weib, und mit einem Seufzer machte sie sich von ihm los. Sie zwang sich zu einem müden Lächeln:

»Verzeih', Karl, ich bin recht kindisch, nicht wahr? Meine dummen Nerven spielen mir aber jetzt auch zu häufig solche Streiche. Nun, es wird ja auch wieder einmal besser werden.«

Schliesslich gelang es ihr, sich selbst und auch Hellmrich wieder zu beruhigen, und sie suchten ihr Lager auf.

Frau Lotte hatte die Absicht gehabt, ihrem Mann sofort bei ihrem Heimkommen zu erzählen, was ihr begegnet war. Aber jetzt, nachdem er sie so aufgeregt gesehen hatte, hätte er gewiss alles falsch beurteilt, und es hätte bei seinem geheimen Ingrimm gegen Simmert gewiss wieder eine Szene gegeben. Er hätte ihr sicherlich Vorwürfe gemacht, dass es überhaupt zu Worten zwischen ihr und Simmert gekommen war, und sie hatte solche Furcht davor, ihn wieder aufgebracht gegen sich zu sehen, womöglich gar wieder so, wie neulich. Nein, nein, um Gotteswillen, nur das nicht, nur nicht wieder ihn so sehen! Sie zitterte davor in jeder Fiber ihrer Seele. Wenn es ihr auch jetzt noch einmal vielleicht gelingen würde, im Laufe der Zeit den schrecklichen Eindruck zu vergessen, den seine harte, ja nahezu brutale Art auf sie gemacht hatte – zum zweiten Male, das wusste sie so gewiss, konnte es nie wieder geschehen! Und sie wollte ihn ja innerlich nicht verlieren, sie wollte ja nicht, dass noch mehr abbröckelte von dem Bild, das sie von ihm in ihrem Herzen trug.

So hatte sie denn ihr Lager aufgesucht, ohne Hellmrich etwas von dieser Begegnung gesagt zu haben. Zum ersten Male war es, dass sie mit einem Geheimnis vor ihrem Mann sich niederlegte, und dieses Bewusstsein, dass sie ihm etwas verheimlichte, der da ahnungslos so nahe bei ihr ruhte, versetzte sie in einen schrecklichen Angstzustand. Sie kam sich schliesslich wie ein grosser Verbrecher vor, gegenüber dem arglos vertrauenden, ahnungslosen Mann, und ein heller Angstschweiss brach an ihr aus. In fieberhafter Hitze warf sie sich ruhelos auf ihrem Lager hin und her. Mehr als einmal war sie drauf und dran, ihren Gatten, dessen ruhige Atemzüge schon den Schlummer verrieten, wieder aufzuwecken, und ihm jetzt noch, um sich die Seele zu erleichtern, auf alle Gefahr hin ihr Geständnis zu machen. Aber immer wieder schreckte sie die Furcht vor einer Szene davor zurück. Sie brachte es doch nicht übers Herz, aber sie gelobte sich fest: Am nächsten Morgen, komme, was da wolle, da sollte es geschehen! So war sie wie ein Schulkind, das sich fürchtet, den Tadel den Eltern zu gestehen, den es in der Schule empfangen hat, und lieber – um nur diesen schrecklichen Moment, der schliesslich doch nicht abzuwenden ist, so lange wie möglich hinauszuschieben – seine Qual unnötig bis zum andern Morgen selbst verlängert.

 


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