Paul Grabein
Im Wechsel der Zeit
Paul Grabein

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XXI.

Mehrere Tage waren seit Lottes Flucht dahin gegangen, voll schweren, trüben Ernstes für Hellmrich. Tagsüber, wo ihn seine Arbeit beschäftigte, ging es noch zu ertragen. Aber dann, wenn er nachmittags nach Hause kam, in sein stilles, verödetes Haus! – Ja, gar sehr still war es darinnen geworden. Erst jetzt merkte er, wie, trotz allen Verdrusses, den ihm dieses Haus in letzter Zeit gebracht hatte, doch hier eine Quelle inneren Behagens geflossen, und wie Lotte die freundliche Seele dieses Hauses gewesen war. Sie fehlte jetzt allenthalben, am meisten natürlich den Kleinen in der Kinderstube. Mit denen hatte sie gelacht und gescherzt, um die hatte sie gesorgt von früh bis spät. Jetzt waren sie nun ohne die treu pflegende Hand ihrer Mutter.

Hellmrich hatte es schon gleich am ersten Tage empfunden, wie schwer und unersetzlich dieser Verlust war. Die Kleinen liefen so stumm, eingeschüchtert und traurig im Hause umher, fast war es, als ob sie ihn mit einem stillen Vorwurf ansahen. Und doch gab er sich alle Mühe, ihnen die Mutter zu ersetzen, so gut es ging. Sobald er nachmittags nach Hause kam, widmete er sich ihnen bis zum Schlafengehen. Er verzichtete ihnen zu Liebe auf das Ruhestündchen, das er sich sonst nach seiner anstrengenden Arbeit gegönnt hatte. Er sass nun stundenlang mit ihnen in der Kinderstube, er erzählte ihnen und versuchte es, nach ihrer Art mit ihnen zu spielen. Aber das verstand er doch gar zu wenig. Wie sollte er auch, der grosse, ernste Mann, den Ton treffen, den diese kleine Gesellschaft gewohnt war; und oft musste er es hören oder herausfühlen: Das hatte Mama viel besser verstanden!

Tiefe Bitterkeit wollte ihn wohl in solchen Augenblicken überkommen, dass er, der doch schuldlos war und den Kindern sein Bestes geben wollte, ihnen so gar nicht die Mutter ersetzen konnte. Ja, es schien geradezu, als ob er sie viel eher abstiess, anstatt sie an sich zu ziehen, als ob sie sich vor ihm fürchteten, vor seinem ernsten, fast immer düsteren Wesen. Es ging ihm das heftig nahe. Aber ehrlich und einsichtsvoll, wie er war, konnte er es schliesslich doch die armen Kleinen nicht entgelten lassen. Es war ja eben nur zu natürlich, dass er in der trostlosen Seelenverfassung, in der er sich befand, den Kindern nichts sein konnte.

Und dann die Schwierigkeit, dass die Kinder ihre gewohnte Pflege und Ordnung hatten! Jetzt merkte er erst, was auch Lotte hier geleistet hatte. Nur zu oft kam es vor, dass das Mädchen über anderen Dingen vergass, für die schon längst hungernden Mäulchen zu sorgen, oder dass die Kleidung der Kleinen in jammervoller Verfassung war. Noch schlimmer aber wurde es, als die kleine Ingeborg am dritten Tage nach Lottes Fortgang erkrankte. Es war ja zwar nach Meinung des Arztes nur ein ungefährlicher, schnell vorübergehender Anfall; aber doch ängstigte Hellmrich sich. Musste er doch seinem Dienst nachgehen und das arme Geschöpfchen allein der Obhut des Mädchens überlassen.

Mitten in diesen Sorgen überraschte Hellmrich ein Telegramm – von Lottes Mutter, aus einem Hotel Berlins, wo sie eben angekommen war. Sie wollte – mit Rücksicht auf Lottes Reisevorwand – sich nicht in seiner Wohnung sehen lassen und bat daher dringlichst um seinen Besuch bei ihr.

Hellmrich ging hin, voll widerstrebender Empfindungen. Wie sollte er unter diesen Umständen der Mutter seiner Frau gegenübertreten, die gewiss als Vermittlerin, vielleicht sogar als Anwalt Lottes kam? Aber er irrte sich. Frau Gerting zeigte das grösste Taktgefühl. Wohl zeigte sie ihre tiefe Erschütterung über den Konflikt der Gatten, aber sie vermied es, irgendwie ihre Meinung darüber zu sagen; das sei eine Angelegenheit, die Mann und Frau allein miteinander ausmachen müssten. Der Zweck ihres Herkommens war ein anderer. Und Hellmrich erfuhr nun, dass Lottes Kräfte wohl noch für die fluchtähnliche Reise zur Mutter gelangt hätten, dass sie dann aber völlig zusammengebrochen war. Eine heftige Nervenkrise hatte sie befallen, so dass sie der Arzt sofort ins Bett geschickt hatte.

Das seien schlimme Tage gewesen. Lotte hatte in schweren Fieberdelirien gelegen, aber nun sei jede Gefahr, Gottlob, wieder vorüber. Aber der Arzt erklärte, es könne zu einem gefährlichen Rückfalle kommen, wenn eines nicht geschähe: Die Kranke hätte nämlich in ihren Fieberphantasien in herzzerreissender Weise nach ihren Kindern verlangt und auch jetzt, bei klarer Besinnung, zerreisse sie der Schmerz, dass sie ihre geliebten Kleinen verlassen habe. Das könne ihr Mutterherz nicht länger ertragen. Nun fände sie aber nicht den Mut, den so schwer gekränkten Gatten um diese Gunst zu bitten, ihr die Kinder zu schicken, und in furchtbarem, aufreibendem Zwiespalt zermartere sie so ihre schon von Reuequalen zerfleischte Seele. Das habe sie, die Mutter, nicht mehr länger ertragen können, und so sei sie hergereist, Hellmrich inständig zu bitten, wenigstens fürs erste Lotte die Kleinen zu überlassen. Was ihre Tochter auch gefehlt habe, er möge menschlich sein und die Pein eines Mutterherzens lindern, das nach den Kindern schreie.

Hellmrich war tief ergriffen von dem, was er vernahm. Er hatte in diesen Tagen von Lotte nichts mehr gehört, ihr Abschiedsbrief war das letzte Lebenszeichen von ihr gewesen. Er hatte ihr seinerseits auch nur einmal – gleich am Tage darauf – geschrieben: Nach dem, was geschehen, habe sie allerdings den einzig gangbaren Weg gewählt indem sie sein Haus verlassen habe. Wie sich die Zukunft gestalten werde, könne er jetzt noch nicht übersehen. Sie würde seinen Bescheid darüber seiner Zeit erhalten. Vorläufig wolle er, vor der Welt, noch die Fiktion aufrecht erhalten, dass sie zu ihrer kranken Mutter gereist sei.

Aber dieser angekündigte Entschluss war in Hellmrich noch nicht zur Reife gekommen, trotz qualvoll durchgrübelter Nächte. Wohl hatte es im ersten Aufbranden seines Gefühls – als die verletzte Mannes- und Gattenehre nach Rache schrie – ihm geschienen, als wäre natürlich nur eines denkbar, dass er sich für immer trennte und schied von dieser Frau, die ihm im schlimmsten Trotz den Gehorsam verweigert und mit ihrer leidenschaftlichen Unbedachtsamkeit ihm den furchtbaren Schimpf zugezogen hatte. Aber dann, als sein heisser Grimm abgeflutet war, als er Vergeltung geübt hatte an dem Hauptschuldigen, da war auch sein Urteil über die Schuld seiner Frau milder geworden. Er verkannte nicht, dass sie in einer hochgradig gereizten Gemütsverfassung gefehlt hatte, und dass sie das Schlimme, das gekommen war, sicherlich nicht vorausgeahnt hatte. Es blieb im Grunde also bloss noch eine schwere Aufsässigkeit auf ihrem Schuldkonto übrig, und war das ein Grund, um sich von seiner Frau zu scheiden, die Kinder ihrer Mutter zu berauben?

Das Gericht hätte ja natürlich überhaupt hier nicht zu sprechen gehabt; es hätte sich ja nur um eine freiwillige Trennung handeln können – aber in den Folgen wäre es doch dasselbe gewesen. Hellmrich musste sich aber bald selbst gestehen, dass Lottes Vergehen kein solches war, dass er ihr das Recht auf ihren Platz in seinem Hause für alle Zukunft hätte absprechen können. Aber trotzdem! Er konnte es nicht übers Herz gewinnen, sich eine Versöhnung zu denken. Zu sehr hatte ihn Lottes Widersetzlichkeit im Innersten getroffen, dass sie mit vollem Vorsatz den Schritt getan, mit dem sie ihn, wie sie wohl wusste, ins Herz treffen musste. Und dann, selbst wenn er das hätte vergessen und vergeben wollen, so blieb der schlimmste Stachel doch immer noch in seiner Seele haften, die Erinnerung daran, dass ein frecher Bube sie angetastet hatte! Gerade weil er von Jugend auf so hoch und heilig vom Weib gedacht hatte, gerade darum erschien sie ihm jetzt wie eine Entweihte. Er würde auf ihrem Antlitz stets die Brandmale von Simmerts frevlerischen Küssen sehen. Nein, nie – das war vorbei für immer, dass er sie noch einmal an sein Herz nahm, wie einst!

Was aber sollte mit ihnen werden?! Um der Kinder willen mussten sie doch schliesslich wieder einmal zusammen leben – es musste selbstverständlich von ihm dieses Opfer gebracht werden –, aber wie furchtbar würde das sein, so neben einander herzugehen, ein ganzes Leben lang, nur äusserlich verbunden, aber innerlich durch eine tiefe Kluft geschieden! Würden das Missverhältnis der Eltern, die düsteren Schatten solcher Scheinehe nicht auch bald verfinsternd in die sonnigen Seelen der armen, unglücklichen Kinder fallen?! So mochte Hellmrich die Sache betrachten, wie er wollte, trübselig, hoffnungslos war stets der Anblick gewesen, der sich ihm geboten hatte.

Nun kam da jetzt Lottes Mutter mit ihrer Bitte, die ihn zwang, den ersten Schritt zur Änderung des bisherigen Zwischenzustandes zu tun. Konnte er diese Bitte abschlagen? Er hatte doch eben gerade jetzt so schmerzlich erkennen gelernt, dass die Kinder nicht länger ohne Schaden der Pflege und Aufsicht der Mutter entbehren durften. Es würde also ein schweres Unrecht, vielleicht sogar eine grosse Gefahr für die Kleinen bedeuten wenn er sich auf den Standpunkt stellen wollte, dass die Kinder zu ihm, dem im Recht befindlichen Gatten, gehörten, dass er sie daher Lotte mit vollem Fug und Recht vorenthalten müsse. Das Wohl der Kleinen verlangte doch schliesslich die oberste Rücksichtnahme. Und zudem, das konnte er nicht leugnen, ihre Pflicht als Mutter hatte Lotte nie versäumt. Und was sie schliesslich gefehlt – es mochte ihn getroffen haben, wie es wolle – es war doch kein Grund, weder rechtlich noch menschlich, ihr die Kinder vorzuenthalten, um so weniger, wo sie so schwer unter der Trennung von ihnen litt.

So gab denn schliesslich Hellmrich, wenn auch schweren Herzens, seine Einwilligung. Lottes Mutter solle die Kinder gleich selber mitnehmen, da Ingeborgs gebesserter Zustand ja einen Reiseaufschub nicht mehr erforderte. Tränenden Auges hatte ihm Frau Gerting gedankt, dieser hochherzige Entschluss werde feurige Kohlen auf ihrer Tochter Haupt sammeln, wenn es dessen überhaupt noch bedürfe.

So hatte sich Hellmrich, mit bitterem Weh im Herzen, auch von dem Letzten noch getrennt, das ihm in seinem Hause geblieben war.

 


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