Paul Grabein
Im Wechsel der Zeit
Paul Grabein

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XVII.

Eine Weile hatte Frau Lotte fast besinnungslos vor Schmerz und ohnmächtigem Zorn, den ganzen Leib erschüttert von stossweisem Schluchzen, auf der Chaiselongue gelegen. Dann aber schoss aus dem Chaos der sie durchtobenden Empfindungen plötzlich mit einem Male ein Gedanke klar hervor, der mehr und mehr ihr ganzes Denken beherrschte und sich alsbald zu einem Entschluss verdichtete: Sie wollte ihrem Mann mit einer Tat zeigen, dass sie sich als gleichberechtigt fühlte. Hatte er eben ihres Bittens nicht geachtet, ihres Verbotes gespottet, so wollte sie jetzt das Gleiche tun, und, ganz in diesem Gedanken aufglühend, der sie aus ihrer Ohnmacht plötzlich wieder zu fieberhaft gesteigerter Tatkraft aufschnellen liess, eilte sie zu ihrem Schreibtisch. Schnell, flüchtig, aber mit ungewohnter Energie, die grossen Schriftzüge mit fast männlicher Kraft aufs Papier werfend, schrieb sie an Simmert:

»Sie werden sich mit Recht gewundert haben, dass ich nach Ihren freundlichen Bemühungen für meinen Mann noch kein Wort des Dankes von mir hören liess, und dass mein Mann Sie im Gegenteil durch sein Nichterscheinen beim Minister desavouiert hat. Es war mir bisher nicht möglich, es liegt mir nun aber sehr daran, Ihnen das alles zu erklären, denn ich mag nicht länger vor Ihnen in so merkwürdigem Lichte dastehen. Ich bitte Sie also, mich zu diesem Zwecke aufsuchen zu wollen – je eher, je besser.

Ihre

Charlotte Hellmrich.«

Diese Zeilen gab sie dem Mädchen zur sofortigen Besorgung mit der Rohrpost. Ganz von dem brennenden Verlangen verzehrt, ihrem Mann mit dieser herausfordernden Tat zu zeigen, dass er sie nicht ungestraft verachten und misshandeln dürfe, beseelte sie nun nur noch der eine einzige, glühende Wunsch, Simmert möchte gleich, noch an diesem Nachmittage kommen, damit sie womöglich Hellmrich gleich nach der Rückkehr von Frau Berndt mit diesem fait accompli ins Gesicht fahren konnte. Ha, wie ihn das treffen würde! Aber recht so! Er sollte es selber mit blutendem Herzen erfahren, wie es tut, wenn der andere kalt und brutal über innerste Wünsche hinwegschreitet.

Und Frau Lottes Wunsch ging in Erfüllung. Noch nicht zwei Stunden waren verflossen – Hellmrich war noch nicht zurück – da meldete ihr das Mädchen mit einer gewissen Überraschung einen Besuch, den Herrn Geheimen Regierungsrat Simmert, der die gnädige Frau zu sprechen wünsche. Frau Lotte ging, Simmert in dem einfachen, aber hübsch ausgestatteten Zimmer, das den Salon darstellte, zu empfangen.

Mit gespannter Erwartung war Simmert hier eingetreten. Als er vorhin zu Hause – so ganz unerwartet, zu seiner höchsten Überraschung – ihre Zeilen empfangen hatte, da hatte er sich nach allem sofort gesagt, dass hier etwas Besonderes vorgefallen sein musste, dass aller Wahrscheinlichkeit nach sogar ein ernster Konflikt zwischen Lotte und ihrem Gatten eingetreten war. Also, die denkbar günstigste Gelegenheit bot sich jetzt für ihn, mit kluger Ausnutzung der Situation sich Lotte intimer zu nähern. Es frohlockte innerlich in ihm, er hatte wirklich ein Mordsglück mit den Weibern! Wie ihm auch die wieder ins Netz getrieben wurde!

Nur fatal, dass er zu ihr ins Haus, in das Haus seines alten Widersachers kommen sollte, der seinerseits geflissentlich jeder Berührung mit ihm aus dem Wege ging. Es war ja doch eigentlich ganz unmöglich! Aber, was dann? Er konnte doch nicht Lotte zu sich bitten oder anderwärts hinbestellen! So musste er also auf diese grossartige, nie wiederkehrende Gelegenheit verzichten, und damit sicherlich auf ein Reüssieren bei Lotte überhaupt! Denn, wenn er sie gleich jetzt, wo sie zum erstenmal und offenbar in entscheidender Stunde nach ihm verlangte, im Stich liess, so verscherzte er sich sicher von vornherein ihr Vertrauen und ihre Sympathien! Teufel, wirklich eine niederträchtige Zwickmühle!

Lange hatte Simmert so geschwankt, ein paarmal hatte er schon am Schreibtisch gesessen und ihr abgeschrieben – er sei zu seinem allerschmerzlichsten Bedauern dienstlich verhindert – aber immer wieder hatte er hinterher den Bogen zerrissen. Denn immer lockender und verführerischer erschien ihm vor den Augen ihre süss-anmutige und doch so stolz-herbe Frauengestalt, nach der er sich so lange schon insgeheim verzehrte. Wahrhaftig, er empfand für Lotte eine so tolle, blinde Leidenschaft, wie er sie sich selber nicht mehr zugetraut hätte. Sicherlich gerade darum, weil sie sich ihm so ganz entzog, weil er so gar nicht weiter kam mit ihr. Hatte er sie doch überhaupt seit jener letzten Begegnung nicht mehr zu Gesicht bekommen – also Wochen lang! Er hatte zwar alles versucht, was er konnte, war auch ein paarmal morgens wieder in dem Kunstsalon gewesen, in der Hoffnung, sie dort zu treffen – aber alles vergebens!

So brannte denn sein leidenschaftliches Verlangen nach ihr ganz ungestillt in ihm, und nun, wo sich ihm die Gelegenheit zeigte, endlich, endlich ihr nahe zu kommen, da schlug die Flamme hell lodernd auf. Noch ein letztes Mal kämpfte seine Vernunft dagegen an, dann aber riss die aufflammende Leidenschaft alle Bedenken nieder. Er musste sie sehen, auf alle Fälle! – Er würde zu ihr gehen, allen Vernunftsgründen zum Trotz! Zudem beruhigte ihn der Gedanke, dass Lotte ihn schon nicht gerufen haben würde, wenn sie nicht ihrer Sache sicher wäre. Die Frauen sind ja in solchen Dingen immer fabelhaft klug! Na, und schliesslich, im äussersten Notfall gab ihm ja Lottes Brief, den er vorsichtig als Legitimation zu sich gesteckt hatte – die direkte Aufforderung, sie zu besuchen – ein vollkommenes Recht, sich in ihrem Hause sehen zu lassen.

Aber, wie gesagt, er fürchtete gar nicht, dass er in Schwierigkeiten kommen würde. Er hatte ein so siegesgewisses Gefühl: Heute war ein Tag des Glücks, was er heut' angriff, es musste zum Erfolg führen! Das Glück überschüttete ihn ja heut' förmlich mit seiner Gunst. Er gab heute abend sein grosses offizielles Diner, bei dem er den Minister zum erstenmal bei sich sehen sollte. Exzellenz hatte leider, einer Dienstreise wegen, vor ein paar Tagen noch absagen müssen. Darüber natürlich grosse Betrübnis bei ihm und seiner Frau. Der Glanz des ganzen Festes, zu dem er alle seine vornehmen Bekannten geladen hatte, war damit ja genommen. Heute morgen aber, in letzter Stunde, hatte ihm ein Diener des Ministers noch die überraschende, freudige Botschaft gebracht, dass Exzellenz die Reise verschoben hätten und gern noch kommen würden.

Das war doch wahrhaftig voller Sonnenschein des Glücks! Nicht allein des gesellschaftlichen Effekts wegen, auch noch in anderer Hinsicht. Sein hoher Chef bewies ihm durch diese liebenswürdige Anmeldung doch offenkundig sein grosses Wohlwollen, und das berechtigte ihn zu weitgehenden Hoffnungen. Simmert bemühte sich nämlich insgeheim schon seit längerer Zeit um die Beauftragung mit einer gewichtigen Aufgabe. Er wünschte, der Kommissar der Regierung bei der geplanten Weltausstellung in London zu werden. Der Inanspruchnahme seiner Beziehungen war es denn auch gelungen, schon so weit zu kommen, dass er mit noch einem Kollegen, der sich allerdings hervorragender Protektion erfreute, augenscheinlich in die engere Wahl beim Minister gekommen war. Nun sagte ihm ein freudiges Ahnen, dass die Entscheidung doch vielleicht auf ihn fallen könnte, jetzt, wo er nun doch dem Minister bei sich sehen und sich ihm als glänzender, vornehmer gesellschaftlicher Repräsentant in seinem Hause zeigen konnte.

In Wahrheit also ein Glückstag heute! Wonach sein Herz so heiss brannte, die hohe amtliche Auszeichnung, das leidenschaftlich begehrte Weib, – sie beide sollten ihm zufallen! So hatte denn Simmert alle ängstlichen Bedenken fallen lassen und, wie Cäsar auf sein Glück vertrauend, war er zu Frau Lotte geeilt. –

Nun stand er also in ihrem Salon. Schnell musterte er das Milieu des Raumes. So also sah es bei Hellmrichs aus; er rümpfte geringschätzig die Nase: Arme Lotte! Das grosse Los hatte sie wahrhaftig mit dieser Wahl nicht gezogen! Es war für ihn natürlich eine ausgemachte Sache, dass sie sich schon allein in solch einer spiessbürgerlichen Entourage nicht zufrieden fühlen konnte.

Eine Tür ging auf, und Lotte trat ein. Sehr bleich, aber mit einer verhaltenen leidenschaftlichen Erregung in ihrem Wesen, die sie Simmert noch viel begehrenswerter machte. Was mochte da in ihr stürmen und nach Erlösung verlangen?! Sie hatte ihr einfaches Hauskleid an, aber gerade durch dieses schlichte Gewand – das ihr übrigens ausgezeichnet stand – gewann sie in seinen Augen einen eigenen Reiz: es lag so etwas Hausfrauenhaftes, Keusches über ihr, das sein heisses Verlangen nach ihr nur noch wilder aufglühen liess. Aber in Simmerts Mienen verriet sich nichts von diesen aufflackernden Wünschen, sondern sehr respektvoll machte er ihr seine Verbeugung.

»Gnädige Frau haben befohlen, – ich beeilte mich.«

»Haben Sie herzlichen Dank für Ihr schnelles Kommen.« Mit krampfhaftem Druck presste Frau Lotte Simmerts Rechte, der ihre Hand zu einem leisen Kuss an seine Lippen führen wollte. Aber trotz aller ihrer Erregung schoss in Frau Lotte die Erinnerung an die Vergangenheit auf: An jene Schlittenfahrt, wo Simmert zum erstenmal mit brennend heissen Lippen ihre Hand geküsst! Und mit schnellem Ruck entriss sie ihm ihre Finger.

Simmert war stark enttäuscht, aber er verbarg es klug.

»Bitte!« Mit einer hastigen Bewegung wies sie ihm einen Platz auf einem Sessel an und nahm ziemlich weit von ihm, getrennt durch den Tisch, auf dem Sopha Platz. Sie sah ihn nicht an, während sie nun sprach, sondern wirbelte nervös mit ihren Fingern an den Schleifchen eines kleinen seidenen Oreillers, das sie vom Sopha aufgenommen hatte.

»Ich habe Sie hierher bitten lassen, weil es mir ein Bedürfnis war, Ihnen mein merkwürdiges Verhalten zu erklären. Was werden Sie sich nur gedacht haben! Erst setze ich alles in Bewegung, um durch Ihre Hilfe meinem Mann beim Minister Gehör zu verschaffen, und dann lässt er Sie im Stiche. Sie haben gewiss die allergrössten Unannehmlichkeiten bei Ihrem Chef davon gehabt.«

»Ich kann allerdings nicht leugnen, dass es mir höchst fatal war, ja, dass ich mich in aller Form vor Seiner Exzellenz blamiert habe. Aber Exzellenz waren, Gott sei Dank, so liebenswürdig, die Sache von der humoristischen Seite aufzunehmen und mich nur aufzuziehen mit meinem ›Protégé wider Willen‹, wie er zu scherzen beliebte.«

»Es ist mir entsetzlich peinlich, wenn ich nur schon daran denke! Bitte, bitte, entschuldigen Sie nur tausendmal, dass ich Sie in diese schreckliche Lage gebracht habe.« Frau Lotte sah ihn bittend mit ihren grossen Augen an. Ihre Blicke hatten heute so etwas Weiches, Verschleiertes, es glänzte immer wie Tränen darin. Simmert konnte kaum noch dem Verlangen widerstehen, sie an sich zu reissen, in toller, alles niederwerfender Leidenschaft. Doch Ruhe, Ruhe!

»Aber bitte, meine verehrte gnädige Frau,« und er rückte ein wenig näher an sie heran.

»Ich hatte ja natürlich nicht die mindeste Ahnung, dass das alles so kommen würde,« fuhr Frau Lotte fort, »ich hatte mich ja so sehr auf den Gedanken gefreut, meinem Mann helfen zu können,« und in der Erinnerung an die furchtbare Enttäuschung erzitterte ihre Stimme. »Aber dann« – sie brach ab, weil ein Schluchzen in ihre Kehle zu steigen begann.

Die Bewegung, die sie zu übermannen drohte, entging Simmert nicht. Sich vorbeugend, fragte er mit anscheinend innerster Anteilnahme:

»Aber dann hat Ihr Herr Gemahl von Ihrer – das heisst, von meiner Hilfe – nichts wissen wollen,« ergänzte er, »nicht wahr? Ich hatte es mir schon selbst gedacht.«

Frau Lotte neigte zustimmend das Haupt. »Ja, er hat die alten Dinge noch immer nicht vergessen, er will Ihnen nichts im Leben danken.«

Simmert gab sich den Anstrich ernstesten Bedauerns, und es klang wie echte Trauer aus seiner Stimme: »Ich bedaure das von Herzen, meine gnädige Frau, wenn man sich einstmals so nahe gestanden hat, wie Ihr Gatte und ich! – Ich hatte die törichten Studentengeschichten, die uns auseinander gebracht haben, jetzt wirklich vergessen wollen. Aber Ihr Gatte ist nach allem ja unversöhnlich gestimmt; er hat – Pardon, wenn ich mir die Frage erlaube – Ihnen wohl auch direkt untersagt, an mich zu schreiben?«

In Lottes bleiches Gesicht schoss eine flammende Röte bei dieser Frage, vor Scham, dass sie hier vor ihm sass, wie ein unreifes Schulmädchen, das sich, ohne zu mucksen, gängeln und strafen lässt. Und im gleichen Augenblick loderte da wieder der Grimm auf über die erlittene Unbill von vorhin. Jetzt war der Augenblick da, sich zu rächen, sich loszureissen von dieser unwürdigen Bevormundung und diesem hier zu zeigen, dass sie das Recht ihrer Persönlichkeit doch keineswegs aufgegeben hatte in ihrer Ehe. So sah sie Simmert mit brennenden Augen an.

»Ja, allerdings, ich gestehe es Ihnen offen: Es geschah auf meines Mannes Wunsch hin, dass ich Ihnen bisher nichts schrieb. Aber – ich habe mich inzwischen eines Besseren besonnen, wie Sie heute gesehen haben. Mag mein Mann Ihre Hilfe ablehnen – das ist seine Sache – aber es liegt für mich keine Veranlassung vor, Ihnen nicht zu danken für den von Ihnen gezeigten guten Willen, für Ihre aufrichtigen, freundschaftlichen Bemühungen. Und das möchte ich hiermit tun – darum habe ich Sie hergebeten.« Und mit einer instinktiven Bewegung streckte sie ihm hastig die Hand über den Tisch hin.

Simmert ergriff sie, die Berührung durchrieselte ihn mit leidenschaftlichem Entzücken, aber er hütete sich diesmal vor dem Versuch, einen Kuss auf ihre Finger zu drücken. Doch ein anhaltender warmer Druck sollte ihr sagen, wie tief er mit ihr empfand, und leise sprach er: »Ich verstehe alles – Sie arme, arme Frau!«

Der schmeichelnde Flüsterklang seiner Stimme, der sie mit einem Male in lang entschwundene Zeiten seligen, himmelan jauchzenden Jugendglückes zurückversetzte, und daneben der ihr eben wieder frisch ins Bewusstsein gerufene, trostlose Zustand ihrer Ehe, dieser furchtbare Kontrast – es war zu viel für ihre bis zum Zerreissen überspannten Nerven. Alles verzweifelte Ankämpfen war umsonst, plötzlich brach sie vor dem Besucher in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Sie presste das spitzenbesetzte Kisschen vor ihr Gesicht und suchte den Kopf in der Sofaecke zu verbergen.

Wie sie so dalag – ihr zarter, schlanker Leib erschüttert von der heftigen Bewegung, das duftige Haar verwirrt und die blendend weisse Haut im Nacken überrieselt von leisen Schauern –, es war ein Anblick, der Simmerts wild angestachelte Sinne fieberhaft erregte. Dazu das Bewusstsein, dass dieses so reizende Weib sich in dieser Stunde offenbar losgelöst hatte von ihrem Gatten – zum Teufel, was hinderte ihn eigentlich noch, diese verführerische und aussichtsvolle Situation auszunützen! Leise stand er auf und trat fast unhörbar zu ihr. Ein wenig zu ihr niedergebeugt, sich auf den Tisch neben ihr stützend, flüsterte er leise, aber leidenschaftlich: »Bitte, bitte, nicht weinen! Nicht weinen – es macht mich rasend! Ich kann es nicht ansehen – ich – ich beschwöre Sie, gnädige Frau!«

Sie hörte, ganz in ihren Schmerz versunken, nicht auf sein Flüstern, das zum Schluss fast schon zum leidenschaftlichen Stammeln geworden war. Das Gesicht in ihre Kissen vergraben, sah sie nicht, wie seine Hand auf dem Tisch bebte, wie seine Lippen zitterten, und das Auge des sich dichter und dichter über sie beugenden Mannes immer glühender aufflackerte. Seiner nicht achtend, sass sie da, halb hingeworfen, ein rührendes und zugleich verführerisches Bild völliger Hilflosigkeit und Auflösung. Er verschlang mit gierigem Blick ihre Erscheinung, aber plötzlich – als er ihren Busen stürmisch wogen sah, als eine unwillkürliche Bewegung des schlanken Leibes neue weiche Linien reizvoll zu Tage treten liess, da gingen die aufgepeitschten Sinne mit ihm durch. Mit einem dumpfen Laut entfesselten leidenschaftlichen Begehrens warf er sich vor sie hin und, ihren Arm mit beiden Händen umklammernd, bedeckte er ihre Hände vorm Gesicht, das Antlitz selbst, mit wilden, sengenden Küssen.

Ein schriller Aufschrei! In derselben Sekunde, wo sie seine Berührung fühlte, war Frau Lotte zur Besinnung gekommen, aus ihrer schmerzlichen Auflösung zum instinktiven Handeln zurückgekehrt. Weit aufgerissen die entsetzten Augen, stiess sie ihm die freie Hand ins Gesicht und die Rechte rang mit verzweifelter Kraft, los zu kommen aus seiner Umklammerung. »Elender, weg! Lassen Sie mich!« stiess sie keuchend vor Aufregung hervor, »oder ich rufe um Hilfe!«

Aber es bedurfte dessen nicht. In dem Augenblick, wo ihn die weiche Frauenhand ins Gesicht getroffen, war der Sinnenrausch in Simmert verflogen. Sofort gab er sie frei und sprang auf die Füsse; kreidebleich stand er vor ihr. Auch sie war aufgefahren und instinktiv zu dem Klingelknopf an der Wand, wenige Schritte davon, geeilt, um nötigenfalls sofort Hilfe haben zu können. Aber Simmert erhob abwehrend die Hand:

»Nicht nötig, ich gehe. – Verzeihen Sie mir, was ich tat, aber ich war nicht mehr Herr meiner selbst.« Er stiess es, halb knirschend, zwischen den Zähnen hervor. »Ich konnte Sie nicht so leiden sehen – ich – ich wollte –«

»Genug! Ich kenne Ihre Absichten, und nun – hinaus!« Sie wies zur Tür.

Simmert biss die Zähne aufeinander. Er hätte sich ohrfeigen können in diesem Augenblick. Narr, der er war, dass ihn seine Leidenschaft so weit hatte verblenden können! Von der Frau war nichts zu erwarten. Wahrhaftig – das Frauenzimmer liebte Hellmrich offenbar noch trotz aller Misshandlungen, die sie von ihm erlitten hatte. Na, das war ja ihre Sache – wenn sie eine solche Gans war! Aber dass er, der Frauenkenner, sich so hatte aufs Glatteis locken lassen – diese Blâme! Er stampfte, seiner nicht mehr mächtig in seinem hinabgewürgten Grimm, mit dem Fuss auf. Ein Glück wenigstens noch, dass sie nach dem Vorgefallenen ja schweigen musste, im Interesse ihres Rufs – aus Furcht vor ihrem Mann. Sonst hätte das noch einen schönen Spektakel geben – ihm womöglich gar seine ganze glänzende Karriere verpfuschen können! Verdammt! Bei dem blossen Gedanken daran packte ihn eine Wut – wahrhaftig, er hätte dieses kindische, unberechenbare Frauenzimmer da, das ihm diese Niederlage zugefügt, mit den Fäusten traktieren können!

So wutflammend sprühten seine Blicke zu ihr hinüber, dass sie sich vor ihm fürchtete; er sah aus, als wollte er sich wirklich im nächsten Augenblick auf sie stürzen. Schon wollte sie auf die Klingel drücken – da raffte er sich, ihre Bewegung bemerkend, zusammen und stürzte ohne ein weiteres Wort zur Tür. –

So, nun war sie allein, allein mit ihrer Schande! Ein Mann, ein fremder Mann hatte mit leidenschaftlicher Gier ihren Leib angetastet, der das Heiligtum ihres Gatten war! Nun war er entweiht, entweiht durch ihre eigene Schuld! Denn sie hatte ja diese ganze Situation geschaffen, es zu all dem kommen lassen in ihrem Trotz, in ihrer Auflehnung gegen ihres Mannes strenges Verbot. Ihr Mann! Barmherziger Gott! Wie sollte sie ihm noch einmal vor Augen treten? Nein, nein – nur das nicht! Lieber sterben – lieber fort aus dem Hause – ins Elend, in die Fremde!

Ja fort, fort aus seinem Hause, wo sie das Recht verwirkt hatte zu weilen, sie, die ungetreue Hüterin seiner Schwelle!

Und in fieberhafter Erregung trieb sie der Gedanke umher, der ihr noch als einziger Rettungsweg erschien. Aber nur schnell handeln, schnell! Jeden Augenblick konnte er zurückkehren und dann, dann –! Nein, Gott im Himmel, nur das nicht! Und sie stürzte aus dem Zimmer, instinktiv ihre Vorkehrungen zu treffen.

 


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