Paul Grabein
Im Wechsel der Zeit
Paul Grabein

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XIX.

Hellmrich ging in gehobener Stimmung nach Haus. Freilich zuletzt die Verstimmung Professor Hintzmanns! – aber das würde ja wieder verfliegen. Dagegen die anerkennenden Worte des Dekans über seine Arbeit, die Gewissheit, nun in allerkürzester Frist Dozent zu sein und so seinem Ziele näher zu kommen – das alles entriss ihn der Melancholie, die ihn so lange bedrückt hatte, und gab ihm einen neuen, frischen Mut. Er hatte überhaupt während der letzten Stunden, wo ihn das Schicksal des Berndtschen Hauses so ganz innerlich in Anspruch genommen hatte, sein eigenes häusliches Unglück vergessen. Wie er nun jetzt sich seinem Hause näherte, kam ihm das alles freilich wieder zum Bewusstsein; aber in seiner gehobenen, zuversichtlichen Stimmung erschien ihm die Sache längst nicht mehr so tragisch. Ja fast hätte er lächeln können über die Revolution seiner unvernünftigen kleinen Frau! Offenbar war doch alles nur ein neuerlicher Ausbruch der schon so lange in ihr herumspukenden Nervosität gewesen. Er hatte sie vielleicht auch ein wenig zu scharf angefasst, anstatt ihr ein bisschen gut zuzureden. Nun, er durfte ja hoffen: Der Trotz war jetzt sicher gebrochen. Gewiss fand er sie nun in Tränen aufgelöst, verzweifelt vor. Da wollte nun auch er nicht länger den Harten spielen; der Strafe hatte sie ja nun auch genug gehabt – die ganzen langen Nachmittagsstunden hindurch. Da wollte er sie jetzt mit seiner Milde und Verzeihung überraschen, sie beschämen. Er kannte sie ja; das würde nach seiner Strenge sie sicherlich tief rühren und den besten Eindruck auf sie machen. Nun und dann wollten sie Versöhnung feiern und ein neues Leben anfangen, nachdem nun die Luft zwischen ihnen durch ein tüchtiges Gewitter gereinigt war.

So war Hellmrich ordentlich froh zu Mute, als er bei sich eintrat. Schnell hängte er Hut und Mantel ab, allerdings ein wenig verwundert, dass die Entree noch dunkel war. Lotte hatte eben wohl in ihrer Schmerzversunkenheit vergessen, sich darum zu kümmern, und das Mädchen dachte natürlich an so etwas nicht. Nun, nur noch ein bisschen Geduld! Bald sollte es wieder hell und freundlich hier im Hause ausschauen.

Hellmrich trat ins Wohnzimmer, wo seine Frau um diese Zeit meist zu sitzen pflegte. Auch hier war es dunkel. Sonderbar! Sollte seine Frau im Salon sein? Er schritt durch sein gleichfalls nicht erleuchtetes Arbeitszimmer hinüber, aber auch hier kein Licht. Etwas betroffen öffnete er schliesslich noch die Tür zum dunklen Schlafzimmer und rief hinein. Keine Antwort – ein schweres, lastendes Schweigen!

Die ganze Wohnung war wie ausgestorben. Es fiel ihm plötzlich etwas so bang und schwer auf die Seele, wie die Ahnung von etwas Schlimmem, Furchtbarem. Aber im nächsten Augenblick schüttelte er noch einmal dieses Gefühl von sich ab: Lächerlich! Seine Frau würde gewiss in der Küche sein bei der Vorbereitung für das Abendbrot. Recht so! So war sie schon von selbst auf dem besten Wege, in tüchtiger Hausfrauenarbeit ihr Leid zu vergessen. Und sich gewaltsam in diesen Gedanken hineinredend, wollte er nach hinten gehen. Er musste dabei an der Kinderstube vorbei. Da war es ihm plötzlich, als höre er von dort ein leises Weinen herausschallen. Schnell öffnete er die Tür. Sollte sie sich etwa hier bei den Kindern ausweinen? »Lotte!« Leise rief er es hinein, um die Kinder nicht zu stören.

»Papa, ach Papa!« antwortete da unter leisem Schluchzen sein kleines Mädchen.

»Wie? Bist du das, Kind? Was ist denn mit dir?« Besorgt eilte er an das Bett des Töchterchens. »Bist du krank, mein Liebling? Wo ist denn Mama?«

Krampfhaft schluchzte die Kleine auf: »Ach, Mama ist fort!«

»Fort?!« Er erschrak selbst, als er das Wort jetzt fragend aussprach. Es nahm plötzlich eine so eigene Bedeutung für ihn an. »Wie denn, Ingeborg, ist Mama so spät noch fortgegangen?«

»Mama ist fortgereist – mit der Eisenbahn,« liess sich da plötzlich der älteste Knabe hören, drüben von der Wand her, der auch wach geworden war.

Hellmrich überfiel ein Zittern, so stark, dass er sich am Bettchen der Kleinen festhalten musste. Mein Gott! Was war das?!

»Fortgereist? Wohin denn?«

»Weiss nich',« erklärte der Kleine, sich schlaftrunken wieder zur Wand kehrend, und murmelte nochmals: »Mit der Eisenbahn.«

Mit bebenden Knieen eilte Hellmrich aus dem Zimmer der Kinder nach der Küche hin; das Mädchen musste ihm doch gewiss Näheres sagen können. Gott sei Dank, da sass ja Hermine. Aber wie sah sie aus? Ganz verweint sass sie über ihrer Arbeit.

»Hermine! Was ist das? Ich höre eben von den Kindern, meine Frau ist plötzlich verreist?« –

Hermine stand auf, und von neuem kamen ihr Tränen in die Stimme.

»Ach ja, Herr Doktor, es ist ja so furchtbar traurig! Kaum als der Herr Doktor fort waren, kam ein Herr, ein Verwandter von der gnädigen Frau, und teilte ihr schonend mit, dass die Mutter von der gnädigen Frau sterbenskrank sei, und gnädige Frau möchten doch sogleich nach Hause fahren, wenn sie sie noch einmal sehen wollte. Der Herr ist dann gleich wieder weggegangen. Aber dann ist gnädige Frau wie irre in der Wohnung herumgelaufen und hat ihre Sachen zusammengesucht. Ich habe ihr beim Kofferpacken helfen müssen. Nur schnell, schnell! hat sie immer gesagt, ich muss sofort weg! Sonst hat sie kein Wort gesagt. Geweint hat sie auch gar nicht, bloss mit solch starren Augen vor sich hingeblickt! Es war ganz schrecklich anzusehen. Ich habe manchmal gedacht, gnädige Frau hat den Verstand verloren, so hat sie sich um ihre Mutter gegrämt. Und dann, wie wir mit packen fertig waren, der Abschied von den Kindern! Da hat sie vor ihnen auf den Knieen gelegen und geschluchzt, dass es mir das Herz zerrissen hat – gerade als sollte sie sie niemals wiedersehen!«

»Und – und –« Hellmrich war es so trocken im Hals, dass er kaum die Worte hervorbringen konnte, »hat Ihnen denn meine Frau nichts für mich aufgetragen?«

»Ja, doch! Gnädige Frau hätten etwas für Herrn Doktor aufgeschrieben, im Salon auf ihren Schreibtisch hätte sie es hingelegt.«

Hellmrich hörte nicht mehr, was das Mädchen – froh, ihr Herz vor ihm ausschütten zu können – noch weiter berichten wollte. Er stürmte nach vorn in den Salon. In fliegender Eile entzündete er eine Gasflamme und eilte dann zu ihrem Schreibtisch. Richtig! Da lag ein Brief mit ihren Schriftzügen. Mit einem Ruck riss er ihn auf, aber kaum hatte er die ersten Worte überflogen, da zitterte ihm die Hand, die das Papier hielt, so stark, dass er nicht weiter lesen konnte, und sank dann schlaff herunter: Es war, wie er gefürchtet hatte! Die Krankheit der Mutter war nur ein Vorwand – der Leute wegen. Seine Frau war von ihm gegangen! Er klammerte sich mit der Linken an dem Tisch fest und hob abermals das Schreiben empor, um weiter zu lesen. Da – da, seine Augen wurden stier, Gott im Himmel! Las er denn recht?! »Ich kann nicht länger in Deinem Hause leben, ich bin deiner nicht mehr wert! Die Hand eines Elenden hat nach mir getastet. Simmert –«

Ein dumpfes Ächzen entrang sich seiner Brust. Er glaubte, das Herz würde ihm stille stehen in diesem Augenblick. Dann begann sich alles um ihn zu drehen. Mit der letzten Kraft schleppte er sich noch bis zu einem Fauteuil. Dort sank er zusammen. Der Brief entglitt seiner Hand, und den Kopf schlaff auf die Brust gesunken, sass er da, ein Mann, der eben den Vernichtungsstreich empfangen hat.

 


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