Paul Grabein
Im Wechsel der Zeit
Paul Grabein

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XVIII.

»Also doch noch! Aber ich wusste es ja, dass Sie mich nicht im Stiche lassen würden!« Mit stummem, innigem Dank drückte Frau Geheimrat Berndt Hellmrich die Hand, der eben in ihren Salon getreten war.

»Ich erhielt jetzt erst Ihren Brief, meine verehrte Freundin, sonst wäre ich schon längst herbeigeeilt. Wenn ich Ihnen nur aber wirklich helfen könnte; ich ahne ja, weshalb Sie mich rufen liessen.«

»Sie ahnen das Schreckliche – aber doch wohl nicht in seinem ganzen Umfange. Hier – lesen Sie, um es voll zu ermessen.« Aufgeregt reichte die sonst so ruhige Frau Hellmrich eine Zeitung hin, auf einen längeren Artikel gleich an der Spitze des Blattes deutend, der rot angestrichen war. Es war das bekannte führende Sozialistenorgan »Der Volksfreund«, und in fettem Druck leuchtete dem Leser schon von weitem die Überschrift des Artikels entgegen:

»Menschen als Versuchstiere!«

Aha! Hellmrich ahnte sofort den Zusammenhang, und wie er nun den Artikel überflog, bestätigte sich ihm seine Vermutung. Das Blatt wandte sich in heftigster Form gegen die Anwendung des Zeon-Heilverfahrens bei poliklinischen Patienten in den staatlichen und städtischen Krankenhäusern. Es führte eine Anzahl von Fällen an, wo infolge dieser Behandlung Patienten sehr schwer geschädigt worden waren. Die Bestrahlung hatte mit den erkrankten auch gesunde Gewebeteile zerstört und starke Entzündungen hervorgerufen, die in einem Falle sogar den Tod des Kranken herbeigeführt haben sollten. Das Blatt griff nun in seiner bekannten leidenschaftlichen Weise alle ihm beteiligt scheinenden Persönlichkeiten und Behörden an, in erster Linie natürlich den Erfinder des angeblichen »Heilverfahrens«, den Geheimrat Berndt, den es als einen gewissenlosen Charlatan schlimmster Art hinstellte; demnächst die ärztlichen Leiter der betreffenden Krankenhäuser und schliesslich sogar die Regierung und den König selber, die für dieses famose »Heilverfahren« in tollster Weise das Tamtam geschlagen hätten und die alle daher jetzt mit verantwortlich wären für den Schaden, den sie hätten anrichten helfen. Ganz besonders wurden aber auch die Fakultät und der Senat der Universität angegriffen. Wozu seien denn diese Körperschaften da, wenn sie nicht kraft ihrer Autorität solchem Charlatantreiben von vornherein warnend gegenüberträten? Oder sollten die erleuchteten Männer sämtlich selber sich von dem Kunststückchen des Herrn Geheimrats haben blenden lassen? Na, dann schönen Dank für unsere viel gepriesene Wissenschaft und Gelehrtenwelt! Aber so viel Dummheit könnten diesen Leuchten der Wissenschaft doch wohl selbst ihre schlimmsten Gegner nicht zutrauen! Die Sache läge vielmehr doch wohl anders: Diese hochgelahrten Herren seien die Mitschuldigen des gewissenlosen »Menschenschlächters« Berndt! Sie hätten ruhig, ohne mit der Wimper zu zucken, zugelassen, wie dieses sein sogenanntes »Heilverfahren«, das noch nirgends richtig und gewissenhaft erprobt worden war, sofort Hals über Kopf in die Praxis eingeführt worden sei, dass man arme, unglückliche Menschen, die sich vertrauensvoll in die Pflege öffentlicher Krankenhäuser begeben hätten, wie Versuchskaninchen, als Objekte für zweifelhafte, höchst gefährliche Experimente verwendete, deren Gefährlichkeit den Herren doch samt und sonders sehr wohl bekannt gewesen war. Aber ob da ein paar Dutzend arme Proletarier ins Kraut bissen, danach krähte ja kein Hahn! Und das Schändlichste bei der Geschichte sei, dass dieser mit Orden und Titeln ausgezeichnete Herr Geheimrat, dieser moderne Doktor Eisenbart, einen höchst einträglichen Schacher betreibe mit diesem allerdings sehr radikalen »Heilverfahren«, das die armen Patienten eben für immer von allen Leiden befreie! Er habe sich dieses Verfahren gesetzlich schützen lassen und verkaufe das Recht der Anwendung nur gegen eine unverschämt hohe Abgabe. Wenn es nicht buchstäblich wahr wäre, so sollte man das nicht für möglich halten. Gegen jeden kleinen armseligen Kurpfuscher, der einmal für ein paar Pfennige einen harmlosen, aber wirkungslosen Heilsaft verkaufe, schreite der Staatsanwalt mit grimmiger Amtsmiene ein, aber diesen grossen Gauner lasse man nach altem Brauch frei umherlaufen. Lebe man denn überhaupt noch in einem Rechtsstaat? Nun, es müsse sich ja jetzt zeigen! Nach dieser Veröffentlichung könnten die Behörden nicht mehr einwenden, dass diese Dinge nicht zu ihrer Kenntnis gekommen wären. Nun werde man ja sehen, ob die berufenen Hüter der Ordnung hiergegen einschreiten würden. »Wir wollen's abwarten – aber wir glauben's nicht!« So schloss der Artikel.

Langsam legte Hellmrich die Zeitung vor sich auf den Tisch, aber er sagte nichts. Frau Berndt hatte, während er las, mit den Blicken an seinen Mienen gehangen und beobachtete auch jetzt seine Gebärden.

»Ich verstehe Ihr Schweigen,« sagte sie endlich ernst, mit einem leisen Anflug von Bitterkeit. »Sie meinen, dass die Leute da sich zwar im Ton vergriffen haben, aber in der Sache doch Recht haben – wenigstens was meinen Mann anlangt.«

»O!« Hellmrich machte eine beschwichtigende Bewegung, aber sie liess ihn nicht zum Worte kommen.

»Geben Sie sich keine Mühe, lieber Freund, mir das mit milderen Worten zu sagen. Ich weiss es ja nur zu gewiss, wie Sie darüber denken – wie Sie darüber denken müssen. Sie haben ja meinem Mann das wörtlich vorausgesagt, was nun gekommen ist. Nun ist die Stunde gekommen. Jetzt stehen Sie gerechtfertigt da, und er liegt am Boden – gerichtet und vernichtet! Und der Skandal bricht in unser Haus ein.«

»Meine liebe Freundin, Sie tun mir Unrecht mit Ihrer Bitterkeit,« entgegnete Hellmrich ernst. »Kennen Sie mich so wenig, dass Sie mir in dieser Stunde eine niedrige Schadenfreude zutrauen? Gewiss, ich bin notgedrungen in Gegnerschaft zu Ihrem Gatten geraten, aber das hindert doch nicht, dass nun, wo das Verhängnis über ihn hereinbricht, aufrichtige Trauer mich beseelt. Ich beklage es tief, dass er nun, wenn auch durch eigene Schuld, die Beute von solchem Pressgesindel wird« – er deutete verächtlich nach dem Blatte hin – »aber noch vielmehr, dass mit ihm, dem immerhin doch Schuldigen, auch Sie, die Unschuldige, leiden müssen – dass der Name, den auch Sie tragen, nun durch die Öffentlichkeit gezerrt und mit Schmutz beworfen werden wird.«

»Hören Sie auf! Bringen Sie mich nicht vollends um mein bisschen Besinnung!« In einer Erregung, wie er sie nie an der stets so feinen, ruhigen Frau gesehen hatte, sprang sie von ihrem Sitze auf und strich sich über die Stirn, um ihrer selbst wieder Herr zu werden. »Alles will ich ertragen, aber nur das nicht! Nicht den öffentlichen Skandal! Das kann ich nicht, wenn ich nur schon daran denke!« Sie schüttelte sich, wie von heftigem physischen Abscheu gepackt. »Ich will darben und hungern, arbeiten wie ein Tier – alles will ich tragen, ohne mit der Wimper zu zucken, aber nur solchen Schimpf nicht! Nicht an den Pranger gestellt werden, dass jedermann mit dem Finger hämisch nach uns zeigt, mit Schmutz nach uns wirft. Gott im Himmel, das kann ich nicht! Lieber lass mich doch sterben!«

Ihre letzten Worte erstickten in krampfhaftem Schluchzen, und sie stürzte plötzlich auf einen Sessel nieder, ihr Gesicht in den Händen vergrabend.

Hellmrich war tief erschüttert von diesem leidenschaftlichen Ausbruch eines hochgesteigerten Ehrgefühls, gerade weil er dieser sonst so kühlen Natur nie ein solch tiefgehendes Empfinden zugetraut hatte. Aber freilich, der Streich, der sie bedrohte, er sollte sie ja an der Wurzel ihres Wesens treffen, in dem Stolz auf ihren guten, makellosen Namen, den sie von ihren Kindertagen an als den höchsten Schatz zu hüten gewöhnt war.

Von tiefem Mitgefühl beseelt, trat Hellmrich zu ihr, aber was sollte er sagen? Den drohenden Schlag abzuwenden, stand ja nicht in seiner Macht. Er konnte sie höchstens trösten und stark machen, dass sie nicht unter ihm haltlos zusammenbrach, sondern ihn mit Fassung und Würde ertrug. So wollte er denn auf sie einsprechen, aber noch war ihre leidenschaftlich erregte Seele nicht imstande, ruhiger Zusprache Gehör zu schenken, noch klammerte sie sich mit dem Trieb der Selbsterhaltung an eine letzte schwache Hoffnung, dass es doch vielleicht noch möglich sei, den Kelch an sich vorübergehen zu lassen. Plötzlich, das Taschentuch von den Augen nehmend, richtete sie sich in einem neu erwachenden Hoffen auf: »Aber es braucht ja vielleicht doch nicht zu sein. Was dieses notorische Hetzblatt da schreibt, macht doch noch nicht die Meinung der Welt aus! Nicht wahr? Bitte, bestärken Sie mich doch darin! Vielleicht kann man das Äusserste wenigstens noch abwenden.« Sie tupfte sich in nervöser Hast die betränten Augen ab und fuhr fort:

»Ich habe heute Morgen, nachdem mir mein Mann das Blatt zu lesen gegeben hatte – das man ihm so rot angestrichen, wie Sie da sehen, ins Haus geschickt hat, – nachdem ich mich von dem ersten furchtbaren Schrecken erholt hatte, sofort angefangen, zu überlegen: Was kann jetzt noch geschehen, um wenigstens den Namen meines Mannes vor der Öffentlichkeit zu retten. Sie wissen ja: Seit jener Stunde sind wir innerlich geschiedene Leute gewesen. Aber nahezu das Einzige, was uns noch gemeinsam ist, das ist doch gerade der Name. Sie werden verstehen, wenn ich darum kämpfe mit dem Rest meiner Kraft. Und so habe ich auch denn heute vergessen, was mein Mann mir angetan, dass er die Schuld trägt an dem, was mich jetzt zu Boden zu werfen droht. So lange es noch möglich ist, zu kämpfen, müssen wir eben als gemeinsam Bedrohte Schulter an Schulter stehen. Ich habe mir den Kopf für ihn zerbrochen, aber meine Gedanken waren wie gelähmt, ich fand keinen rettenden Ausweg. Mein Mann dagegen – ich kann es nicht fassen, wie er es fertig bringt – zeigte eine Ruhe, die mir geradezu unheimlich war. Und er legte mir auch schliesslich die Sache ganz klar: Es käme alles für ihn darauf an, ob die Regierung ihn halte oder nicht. Im letzteren Falle wäre natürlich alles verloren, und es bliebe für ihn nichts übrig, als ins Ausland zu gehen. Halte ihn aber die Regierung, so lache er den Kläffern ins Gesicht, die ihn anfielen, und wenn es von allen Seiten wäre. Er hoffe aber mit gutem Grund, dass es so kommen werde. Er baue an sich schon auf seine guten Beziehungen; aber dann – und das sei die Hauptsache – die Herren Sozialdemokraten hätten es in ihrem Übereifer so ungeschickt, wie möglich, angefangen, ihm den Hals zu brechen. Da sie mit ihm zugleich die Regierung und sogar die Allerhöchste Person in so massloser Weise angegriffen hätten, so könnte ihn ja infolgedessen die Regierung eigentlich gar nicht fallen lassen – sie würde damit doch den Landesherrn selbst desavouieren und die Beschuldigungen des Hetzblattes gegen ihn quasi als berechtigt anerkennen.«

Hellmrich entfuhr unwillkürlich ein Laut des Staunens. Was war das für ein Mann! Dieses kaltblütige Raisonnement in einer Stunde, wo jedem anderen vielleicht Reue und Verzweiflung die Besinnung zu rauben gedroht hätten! Aber bei Gott, er kombinierte sicherlich richtig. Er kannte ja die Leute, mit denen er rechnete, zur Genüge – wohl besser als er und andere naive Seelen, die da wähnten, es müsse das, was recht und unrecht ist, auch immer öffentlich anerkannt werden.

Frau Berndt aber fuhr fort: »Vor allem aber, erklärte er, sei es nötig, dass er das Prävenire spiele; er dürfe sich nicht etwa erst zitieren lassen. Er ist darum gleich heute Morgen auf das Ministerium gefahren, um den Minister selbst zu sprechen und mit ihm zu beratschlagen, was er zur Wahrung seiner Berufsehre angesichts dieses unerhörten Angriffs des sozialdemokratischen Blattes tun sollte. Er hat nun allerdings den Minister selbst nicht angetroffen, aber er hat doch wenigstens sofort Direktor Strycker alles klar gelegt. Dieser konnte und wollte allerdings in einer so peniblen Sache ohne den Chef nicht selbst entscheiden und bat daher meinen Mann, noch einmal heute nachmittag wieder zu kommen. Und eben ist er nun wieder hingefahren –, gerade jetzt in dieser Stunde fallen die Würfel über unser Schicksal.«

Erschöpft von den Erinnerungen an all die Aufregungen dieses Tages sank Frau Berndt in ihren Sessel zurück. Hellmrich schwieg eine Weile, das überdenkend, was sie ihm eben erzählt hatte, dann fragte er:

»Und hat Strycker ihm denn noch gar nichts angedeutet über die voraussichtliche Haltung der Regierung oder über die Schritte, die zu tun wohl nötig sein würden? Er ist doch, wie es allgemein heisst, der eigentliche Macher im Ministerium.«

»Er hat sich offenbar nur sehr vorsichtig ausgelassen,« erwiderte Frau Berndt. »Er hat zwar meinen Mann seines persönlichen Wohlwollens versichert und seiner Entrüstung über den Schmähartikel Ausdruck gegeben; aber das alles doch ganz unverbindlich. Nur eins hat er bereits angedeutet, und das, sagte mir auch mein Mann, wäre ja natürlich unerlässlich: Es müsste in irgend einer Form von autoritativer Seite in der Öffentlichkeit dem Angriff des Blattes entgegengetreten werden. Da kommt es nun, wie er mir klar machte, auf einen Hauptpunkt an, und deswegen habe ich Sie besonders hergebeten, mein lieber Freund!«

»Nun, und was ist dies?« forschte Hellmrich ernst.

»Sehen Sie! In dieser Abwehr des Angriffs soll natürlich besonders betont werden, dass mein Mann keinesfalls in böswilliger, unmenschlicher Absicht die Kranken nur zu Experimenten benutzt hätte, dass er vielmehr doch hätte hoffen dürfen, der Menschheit einen grossen Dienst zu erweisen. Und dabei gerade kommt es auf Sie an!«

»Auf mich?« warf Hellmrich überrascht hin.

»Ja, auf Sie, mein lieber, einziger Freund! Sie haben es in der Hand – nicht meinem Mann, das mute ich nach allem Ihnen nicht zu – aber mir einen grossen Dienst zu erweisen, den ich Ihnen nie vergessen werde. Darf ich – darf ich auf Sie bauen?«

»Aber bitte, sprechen Sie doch nur!« drängte er.

»Man könnte erfahren – diese Leute bringen ja alles heraus – dass Sie damals mit meinem Mann gearbeitet haben. Man könnte an Sie herantreten und Sie ausfragen nach der Vorgeschichte der Entdeckung. Und wenn man da erführe, dass Sie meinen Mann damals schon direkt gewarnt und ihn auf die Folgen, die nun eingetreten sind, hingewiesen haben, das würde ihn allerdings, wenn es in die Öffentlichkeit käme, vernichten, dann könnte ihn selbst die Regierung beim besten Willen nicht mehr schützen, dann sind ihm Verachtung und Schande sicher – ihm und mir!«

Verzweifelt streckte sie ihm die Hände entgegen, und ihre Augen flehten ihn in banger Erwartung an. Hellmrich trat zu ihr.

»Seien Sie unbesorgt, meine verehrte, liebe Frau Berndt, ich werde niemals über diese Dinge sprechen, geschweige denn mich aushorchen lassen – verlassen Sie sich darauf!« Und er hielt ihr bekräftigend seine Rechte hin. Sie ergriff sie mit ihren heissen fiebernden Händen: »Dank – tausend Dank! Sie retten mir vielleicht das Leben damit. Denn ich ertrüge die Schande ja nicht, unseren Namen in aller Welt geächtet zu sehen. Aber – wenn man Sie nun von anderer Seite aus anginge – vielleicht von amtlicher Stelle?« Und in neuer Angst hefteten sich ihre Augen auf ihn, während ihre Hände in stummem Flehen seine Rechte pressten.

»Wie das?« fragte Hellmrich.

»Nun, es könnte doch sein, dass vielleicht auch seitens der Universitätsbehörde gegen meinen Mann vorgegangen werden sollte. Sie wissen ja, er hat so viele Feinde da! Ja, ich fürchte beinahe, es ist schon so etwas im Gange. Da« – sie reichte ihm aus der silbernen Schale vor sich auf dem Tisch eine Visitenkarte herüber – »dieser Herr ist vorhin hier gewesen, wie mein Mann eben weg war, und erklärte, ihn in dringender Angelegenheit sprechen zu müssen. Er werde sich daher erlauben, nach einer Weile noch einmal wieder anzufragen.«

Hellmrich las »Professor Hintzmann«. Es war der Name des Dekans der philosophischen Fakultät, der der Geheimrat als Professor auch zugehörte. Hellmrich kannte den Professor Hintzmann persönlich – hatte er doch ihm seiner Zeit auch seine Habilitationsschrift eingereicht – und er wusste, es war in der Tat einer der schärfsten Gegner Berndts. Da mochte freilich Frau Berndt mit ihrer Vermutung recht haben, und Hellmrich gab dem auch Ausdruck.

»Sehen Sie! Dieser Mensch hatte schon so etwas im Gesicht, dass mir gleich ahnte, dass ihn nichts Gutes zu uns führte.« Und von neuem regte sie sich heftig auf. »Und was werden Sie tun, wenn man Sie nun von dieser Seite interpelliert?«

Hellmrich antwortete nicht sogleich; dann aber erwiderte er fest: »Ängstigen Sie sich nicht, meine liebe Frau Berndt! In amtlicher Eigenschaft könnte mich Herr Professor Hintzmann überhaupt nicht verhören, denn ich gehöre ja noch nicht einmal als Dozent dem Lehrkörper der Universität an. Er könnte mich also höchstens rein privatim um Mitteilungen ersuchen, und da werde ich mich einfach höflich ablehnend verhalten.«

»O – Sie edler, grosser Mensch!« Im Aufwallen heisser Dankbarkeit wollte die erregte Frau Hellmrichs Rechte an ihre Lippen ziehen. Dieser aber entzog ihr ganz bestürzt seine Hand. »Aber nicht doch, meine liebe, verehrte Freundin! – Und nun lassen Sie Ihre armen Nerven endlich zur Ruhe kommen.«

In diesem Augenblick klopfte es an die Tür. Frau Berndt fuhr ordentlich erschrocken empor. Die Zofe kam und meldete, dass der Herr wieder da sei, der vorhin schon einmal nach dem Herrn Geheimrat gefragt habe.

Frau Berndt warf einen hilfesuchenden Blick zu Hellmrich hinüber. Was sollte sie tun? Sie mochte den Professor nicht zum zweitenmal fortschicken. Sie konnte ihn aber auch nicht empfangen – das wäre über ihre Kraft gegangen. Hellmrich verstand ihre Blicke, und leise wandte er sich zu ihr: »Ich werde mich mit ihm hier unterhalten – ziehen Sie sich ruhig zurück!«

Sie dankte ihm mit einem stummen Blick und wandte sich an die Zofe: »Führen Sie den Herrn Professor herein! Ich lasse bitten, noch ein Weilchen hier warten zu wollen – der Herr Geheimrat muss ja jeden Augenblick zurückkommen.« Mit einem nochmaligen beredten Händedruck, in dem all ihr Dank zum Ausdruck kam, presste sie Hellmrich die Rechte und eilte dann aus dem Salon.

Die Tür ging auf, und Professor Hintzmann erschien auf der Schwelle. Ein kleiner, schon älterer Herr in buschigem, grauem Haar und Vollbart, eine Brille vor dem Gesicht, trat er in etwas vorgebeugter Haltung ein, vorsichtig vorwärts schreitend, denn er war ziemlich kurzsichtig. Er glaubte wohl zunächst allein in dem Raum zu sein und sah sich nach einer Sitzgelegenheit um, als er plötzlich, schon dicht vor Hellmrich stehend, diesen erst bemerkte. Mit einer Verbeugung stellte er sich dem andern Besucher vor, auch Hellmrich nannte seinen Namen.

»Ah!« – Der Professor horchte auf, ersichtlich erfreut: Hellmrichs Name war ihm als langjähriger Mitarbeiter Berndts ja bekannt und gerade jetzt, wo er als Dekan Hellmrichs Habilitationssache zu bearbeiten hatte, ganz besonders geläufig geworden.

»Ah, sieh da! Freut mich sehr, Sie hier zu treffen,« begrüsste er Hellmrich freundschaftlich. »Da kann ich Ihnen ja jetzt schon immer mitteilen, dass Ihr Zulassungsgesuch schon so gut wie entschieden ist. Ihre Arbeit hat ganz ausserordentlich gefallen, mein lieber Herr Doktor, nicht bloss mir, sondern auch allen Kollegen, von denen ich schon das Gutachten erhalten habe – und sie ist, wie gesagt, fast schon die Reihe 'rum. Eine sehr fleissige, tüchtige Arbeit – na, kurzum, ich gratuliere Ihnen herzlichst, mein lieber Doktor. Auf baldige, gute Kollegenschaft!«

Er drückte Hellmrich herzhaft die Hand, der vor freudigster Überraschung nur ein paar kurze Worte herausbrachte. Aber der gesprächige alte Herr liess ihm auch gar nicht Zeit zu einer längeren Erwiderung, lag ihm doch daran, dieses glückliche Zusammentreffen mit Hellmrich nach einer ganz andern Richtung auszunutzen.

»Na, was führt Sie denn übrigens her?« forschte er. »Sie warten doch wohl auch auf Herrn Geheimrat Berndt! – Wo steckt er denn?«

»Soviel ich weiss, ist Herr Geheimrat auf dem Ministerium.«

»So, auf dem Ministerium? Hm, hm! – Na, sagen Sie mal – was sagen Sie denn zu der Geschichte?«

Hellmrich antwortete ausweichend. »Sie meinen die Sache mit dem ›Volksfreund‹, Herr Professor? Allerdings, eine böse Geschichte!«

»Ein Skandal – ein Skandal erster Klasse! Die Fakultät – die ganze Universität ist ja aufs schlimmste kompromittiert!« Ganz heftig brach der alte Herr los, nicht bedenkend, wo er sich befand, und dass er zu einem jungen Mann sprach, der noch nicht einmal zum akademischen Bau gehörte.

»Aber, hören Sie, lieber Herr Doktor, es ist mir sehr lieb, wirklich ganz ausserordentlich lieb, dass ich Sie hier zufällig treffe. Ich spare mir dadurch einen Gang, den ich sonst wohl über kurz oder lang zu Ihnen hätte tun müssen. Also, ich will ganz offen zu Ihnen sprechen, allerdings muss ich zunächst noch auf Ihre absolute Diskretion bauen können« – Hellmrich machte eine zusichernde Gebärde – »also hören Sie: Wir schüttelten in der Fakultät schon längst die Köpfe über das ganze Wesen, diese unwürdige Reklame, die mit dem Berndtschen Heilverfahren getrieben wurde. Wir waren uns unter der Hand in der Mehrzahl eigentlich schon längst einig darüber, dass die Fakultät sich doch unbedingt einmal mit dieser Sache befassen müsse, die geeignet schien, das wissenschaftliche Ansehen eines unserer Mitglieder schwer zu untergraben. Ja, die Sache ist sogar auch schon einmal für eine Sitzung anberaumt gewesen, aber es kam nicht zur Besprechung, weil Herr Berndt nicht erschienen war, und man nicht hinter seinem Rücken verhandeln wollte. Und nun kommt heute diese Geschichte! Hören Sie, das schlägt ja dem Fass den Boden ein! Das ist ja eine Blâme für uns alle – wir werden ja allesamt vor der Öffentlichkeit als Charlatane oder Mitschuldige hingestellt, das kann man einfach nicht mehr auf sich sitzen lassen! Ich habe daher die Angelegenheit sofort noch auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung gesetzt – sie findet schon in wenigen Tagen statt – und ich bin nun hier, um Herrn Professor Berndt persönlich dazu zu laden. – Ich muss Ihnen das alles sagen, verehrter Herr, damit Sie es verstehen, wenn ich jetzt mit einer Bitte an Sie herantrete – aber, wie gesagt, noch einmal, im strengsten Vertrauen! Und wollen Sie, bitte, das, was ich Ihnen sage, rein persönlich auffassen. Ich weiss, dass Sie langjähriger Assistent und Mitarbeiter von Herrn Professor Berndt gewesen sind. Sie werden also ohne Zweifel über seine eigenste Auffassung von seiner Erfindung und ihrer praktischen Brauchbarkeit unterrichtet sein. Ich möchte Sie daher zu meiner persönlichen Information, in Anbetracht der hohen Wichtigkeit der Sache – es handelt sich ja hier doch um eine Angelegenheit, die uns allen hoch ernst sein muss, die wir in wissenschaftlicher Arbeit zusammenstehen – ich möchte Sie daher bitten, sich vertrauensvoll zu mir auszusprechen. Mir liegt begreiflicherweise daran, ganz klar in dieser Sache zu sehen, um den richtigen Weg einzuschlagen. Sie würden daher mich und alle Herren der Fakultät mit Ihren Mitteilungen zu allergrösstem Dank verpflichten.«

Einen Augenblick schwieg Hellmrich. Wohl sagte er sich, dass sich ihm hier eine selten günstige Gelegenheit bot, sich eine Reihe einflussreicher Gönner zu schaffen, die ihm bei seiner Dozentenkarriere recht wohl hätten zu statten kommen können; aber er dachte auch an sein Versprechen, das er eben Frau Professor Berndt gegeben, und es widerstand ihm auch zugleich an sich, dem Ansinnen zu willfahren, das da eben an ihn gestellt wurde. Also antwortete er denn:

»Verzeihen Sie, Herr Professor, wenn ich Ihrem Ersuchen leider nicht entsprechen kann. Als ehemaligem Schüler und Assistenten des Herrn Geheimrats Berndt widerstrebt es mir im Innersten, gewissermassen als Zeuge aufzutreten in einer Klagesache, die sich gegen meinen einstigen Lehrer und noch jetzigen Chef richtet. Ich bitte, hochverehrter Herr Professor, mir meine Weigerung nicht übelnehmen zu wollen, nach Darlegung dieser meiner Gründe, die Sie gewiss doch selber anerkennen werden.«

»So, so – nun, wenn Sie nicht wollen, natürlich nicht! – Die Gründe, die Sie eben anführen, machen Ihnen natürlich ja alle Ehre.« Aber aus dieser widerwilligen Anerkennung seiner Motive klang doch eine starke Verschnupftheit Professor Hintzmanns darüber, dass sein Ansuchen so kurzer Hand abgeschlagen worden war. Dazu kam noch der Ärger darüber, sich nun ganz unnötigerweise in einer so ungewöhnlichen Weise diesem jungen Menschen gegenüber vertraulich ausgelassen zu haben.

Eine ziemlich bedrückende Pause trat ein. Der Professor redete nichts mehr, sondern erhob sich schliesslich und ging ein paarmal im Salon auf und nieder, um sich dann an einem Tischchen am Fenster niederzulassen, wo er in einem dort aufliegenden Album zu blättern begann. Hellmrich blieb auf seinem Platze sitzen. Die Situation war auch für ihn im höchsten Grade peinlich, und schon dachte er daran, sich mit der Bemerkung, dass es seine Zeit doch nicht erlaube, noch länger auf den Geheimrat zu warten, zu entfernen, als er plötzlich draussen Türenschlagen und Stimmen vernahm –, und nach einigen Minuten trat Geheimrat Berndt über die Schwelle, äusserlich wie immer: Hochaufgerichtet, mit hochmütig-kalter Miene, und doch zitterte ihm im Innersten noch heftig die Erregung nach über die Szene, die er da eben im Ministerium gehabt hatte.

Strycker, der Ministerialdirektor, hatte ihn wieder empfangen – schon das war eine grosse Enttäuschung gewesen, er hatte auf den Minister selber gerechnet – aber wie anders als am Vormittag! Er sprach jetzt ja zu dem Geheimrat im Namen seines Chefs, und der hatte sich mit gutem Grund nicht selber sprechen lassen; denn was Strycker ihm da sagte, mit unverhohlener, schärfster Indignation – er war ja bekannt wegen seiner Unverblümtheit, wenn es mal darauf ankam! – das hatte Berndt sich allerdings nicht träumen lassen. Man gab ihm klar zu verstehen, dass man an höchster Stelle aufs allerpeinlichste von dieser Affaire berührt sei. Im Vertrauen auf die Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit der Berndtschen Forschung, hätte man dieser rückhaltslos Förderung angedeihen lassen. Aber dieses allerhöchste Vertrauen wäre schlecht belohnt worden! Berndt könne nach allem Geschehenen nicht darüber im Zweifel sein, dass man an höchster Stelle mit schärfster Missbilligung über sein übereiltes Vorgehen urteile. Ja, es sei dort sogar der ausdrückliche Wunsch geäussert worden, dies klar zum Ausdruck zu bringen. Auf die Vorstellungen von ministerieller Seite hin sei zwar aus politischen Erwägungen auf einen solchen eklatanten Akt der Ungnade gegen Berndt schliesslich verzichtet worden, ja es sei zunächst sogar aus naheliegenden Gründen eine offiziöse Abwehr der sozialdemokratischen Angriffe genehmigt worden, aber das dürfe Berndt über die durch ihn selbst geschaffene leidige Position nicht hinwegtäuschen. Er müsse, im Interesse des Ansehens seiner Anstalt und der Regierung, jedenfalls auf mehrere Jahre aus der Öffentlichkeit verschwinden. Den unauffälligen Anlass dazu würde ein Auftrag der Regierung geben, der ihn auf längere Zeit zu hygienischen Studien in die afrikanischen Kolonien entsenden werde. Der Herr Geheimrat möge bereits immer seine Vorbereitungen hierfür treffen, denn der Ruf hierzu werde bereits in kürzester Frist an ihn ergehen.

Diese unumwundene Eröffnung hatte Berndt aus allen seinen dreisten Erwartungen gestürzt! Man hatte ihm nicht einmal Gelegenheit zu einer Verteidigung gegeben. Mit einem sehr formellen, frostigen Abschied war er alsbald von dem gestrengen Exekutor des allerhöchsten Willens entlassen worden, nachdem nur noch der Wortlaut jener offiziösen Erklärung in seiner Gegenwart aufgesetzt worden war. So kehrte er denn jetzt heim, als ein in Ungnade Gefallener. Seine hochfliegenden Hoffnungen lagen gebrochen am Boden.

Aber um so hochmütiger erhob Berndt jetzt nur noch das Haupt, als er in sein Haus trat, wo schon ein neuer Feind auf ihn lauerte, begierig, über ihn herzufallen. Der sollte den Triumph nicht haben, ihn niedergeschmettert zu sehen! Lächelnd schritt er also über die Schwelle.

Die Begegnung mit Berndt hier in seinem Hause war Hellmrich im höchsten Grade peinlich. Er hatte mit seinem Chef seit jener Gesellschaft nur noch dienstlich verkehrt und hätte es daher gern vermieden, ihm – und gerade noch heute! – gegenüber zu treten. Was nun? Berndt indessen trat äusserlich ganz unbefangen, ja mit sehr freundlicher Miene auf ihn zu, schüttelte ihm beinahe herzlich die Hand – er schien inzwischen schon von seiner Frau draussen über Hellmrichs diskretes Verhalten unterrichtet zu sein – und ging dann zu Professor Hintzmann hinüber, dem er in äusserst förmlicher Weise seine Verbeugung machte. »Ich bedauere ausserordentlich, Herr Kollege, dass ich so lange auf mich warten liess.«

Der Professor erwiderte die Begrüssung in gleich steifer Weise, räusperte sich und warf dann einen sprechenden Blick auf Hellmrich hinüber. Dieser verstand den Wink und sagte, sich zur Tür wendend: »Verzeihung, ich will die Herren nicht stören.«

Berndt ging mit grösster Liebenswürdigkeit schnell noch einmal auf ihn zu und sagte, ihm nochmals die Hand drückend: »Bitte, gehen Sie nur inzwischen hinüber zu meiner Frau, sie erwartet Sie schon!« Dann wandte er sich, Hintzmann gegenüber Platz nehmend, an seinen anderen Besucher: »Und was verschafft mir die Ehre, Herr Kollege?«

Professor Hintzmann nahm eine ziemlich offizielle Miene an: »Sehr verehrter Herr Kollege, ich komme in einer Sache, die ja eigentlich Ihre Privatangelegenheit ist, die aber auch die Fakultät, als deren Vertreter ich hierhergekommen bin, lebhaft interessiert. Es wird Ihnen vielleicht nicht unbekannt sein, was heute der ›Volksfreund‹ über Sie geschrieben hat –« Er machte Anstalten, aus seiner Brusttasche ein Zeitungsblatt hervorzuziehen.

»Bitte, lassen Sie nur!« wehrte Berndt mit verächtlicher Miene ab. »Ich kenne natürlich den Schmutz, mit dem die Leute da nach mir werfen.«

Professor Hintzmann faltete bedächtig das Zeitungsblatt wieder zusammen. »Gewiss – Schmutz! Natürlich! Aber trotzdem, Herr Kollege, lässt sich doch die Sache nicht wohl einfach so kurzerhand abtun.«

»Pardon – das ist doch wohl ausschliesslich meine Angelegenheit!« – mit schroffem Ton warf es Geheimrat Berndt hin.

»Sie irren – doch wohl nicht so ausschliesslich, wie Sie meinen!« kam das Echo ebenso zurück.

»Das sagten Sie vorhin schon – zu meiner grössten Verwunderung! Ich darf nunmehr wohl um nähere Aufklärung bitten, was Sie damit meinen.«

»Bitte,« nickte Professor Hintzmann zustimmend. »Es ist Ihnen, Herr Kollege, gewiss erinnerlich, dass die Fakultät sich bereits in einer früheren Sitzung mit einer Sie persönlich nahe angehenden Angelegenheit zu beschäftigen gedachte – es unterblieb aber, da Sie ja leider dann zu der gedachten Sitzung nicht erschienen.«

Der spitze Ton gab den letzten Worten die Bedeutung des Vorwurfs, dass dieses Ausbleiben Berndts offenbar absichtlich erfolgt sei, um sich der fatalen Erörterung zu entziehen. Der Geheimrat fühlte es natürlich heraus, und noch schärfer als vorhin klang jetzt seine Entgegnung:

»Und es dürfte Ihnen, Herr Kollege, wohl ebenso erinnerlich sein, dass ich – wie ich der Fakultät zu Ihren Händen schriftlich mitteilte – durch unaufschiebliche Amtsgeschäfte in der Versuchsanstalt am Erscheinen bei dieser Sitzung verhindert war. Oder sollten Sie der Meinung sein, dass irgend ein anderes Motiv für mein Fernbleiben vorgelegen haben sollte?«

»O nein!« Mit einer ironischen Gebärde der Abwehr erhob Professor Hintzmann die Hand. »Wie dürfte ich mir erlauben, an Ihren Worten zu zweifeln, Herr Kollege! Nur war es uns allen damals sehr bedauerlich, dass wir infolge Ihrer Abwesenheit den Punkt nicht erledigen konnten, der uns doch als ein recht wichtiger erschien und noch erscheint. Nun aber hat heute der Artikel des ›Volksfreund‹ die Sache in ein Stadium treten lassen, das es geradezu gebietet, uns unverzüglich damit zu befassen. Denn dieser Artikel greift nicht nur Ihre Person in Ihrer Eigenschaft als Mitglied unseres Lehrkörpers in einer geradezu ungeheuerlichen Weise an, sondern er zieht uns ja allesamt in Mitleidenschaft. Die Fakultät hat also nunmehr doppelt Veranlassung, zu dieser Angelegenheit schleunigst Stellung zu nehmen. Ich habe mir daher erlaubt, die Sache sofort noch auf die Tagesordnung unserer ja unmittelbar bevorstehenden nächsten Sitzung zu setzen, und der spezielle Zweck meines Kommens ist der, Sie, Herr Kollege, als den Hauptbeteiligten, dringend um Ihr persönliches Erscheinen zu bitten.«

Geheimrat Berndt verschränkte die Arme und sah sein Gegenüber mit einem herausfordernden Blick an. »Ehe ich mich hierüber entscheide, muss ich ganz klar sehen, welchen Charakter die Besprechung dieser Angelegenheit haben soll. Ich betonte vorhin schon einmal, dass die ganze Sache nach meiner Auffassung eine private Angelegenheit ist, und ich würde mich allerdings unter keinen Umständen dazu verstehen, mich gewissermassen inquisitorisch über Dinge vernehmen zu lassen, über die zu befinden ich der Fakultät absolut kein Recht zugestehen kann.«

»Es liegt kein Grund vor, Sie im Ungewissen darüber zu lassen, nach welcher Richtung unsere Besprechung abzielen würde. Die Fakultät ist der Ansicht, dass schon allein die Form, in der für das von Ihnen entdeckte Heilverfahren in der Öffentlichkeit Propaganda gemacht wurde, allgemein sehr peinlich in unseren Kreisen empfunden werden musste. Wir sind allesamt selbstverständlich davon überzeugt, dass Sie, Herr Kollege, diesem Treiben persönlich gänzlich fernstehen. Aber trotzdem – man kann das doch nicht gut so angehen lassen. Es sollte daher Ihnen, Herr Kollege, nahe gelegt werden, ob Sie nicht vielleicht Ihren Einfluss bei den massgebenden Stellen dahin geltend machen könnten, diese allzu geräuschvolle und übereifrige Agitation – in Ihrem eigensten Interesse – etwas herabzudämpfen.«

Berndt machte dem Professor eine ironische Verbeugung: »Ich bin wirklich ausserordentlich gerührt von der zarten Sorgfalt, die die Fakultät mir angedeihen lassen will, aber ich muss doch dankend ablehnen.« Er erhob sich plötzlich. »Ich muss dringend bitten, Herr Professor, die Wahrung meiner Interessen ausschliesslich mir überlassen zu wollen.«

Auch Hintzmann erhob sich jetzt und gab sich nun keine Mühe mehr, in seinem Ton noch länger die kalte Geringschätzung und heftige Animosität zu verbergen, die ihn beherrschten. »Ich darf demnach wohl annehmen, Herr Geheimrat, dass Sie der Fakultät auch das Recht absprechen, die Publikation des ›Volksfreund‹ in den Bereich ihrer Besprechung zu ziehen, und dass Sie jedenfalls nicht die Absicht haben, meiner Einladung hierzu zu entsprechen?«

»Sie vermuten völlig recht,« erwiderte Berndt mit leichter Verbeugung.

»Alsdann ist meine Mission ja hier erledigt.« Professor Hintzmann knöpfte sich mit eisiger Miene seinen Rock zu. »Ich kann das allerdings nur auf das lebhafteste bedauern. Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen, Herr Geheimrat, zugleich mitzuteilen, dass Ihre Abwesenheit uns nicht abhalten kann, die Angelegenheit auch so zur Sprache zu bringen.«

Berndt machte nur eine kurze Bewegung wie: Bitte sehr! Wollen sich die Herren nicht im geringsten genieren! Hintzmann aber fuhr, nach seinem Hut greifend, fort: »Es widerstrebt mir, aus dem Hinterhalt zu kämpfen, Herr Geheimrat. So will ich Ihnen denn – da Sie jeder kollegialischen Erörterung und Beilegung der Sache ja aus dem Wege gehen – gleich jetzt offen mitteilen: Ich für meine Person, und ich spreche zugleich im Sinne der Mehrzahl der Fakultätsmitglieder, ich kann mich allerdings nicht bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge beruhigen. Ich sehe speziell jetzt in dem Angriff des ›Volksfreund‹ eine so schwere, öffentliche Beschuldigung eines Fakultätsmitglieds, die auf uns alle und unsere ganze Universität zurückfällt, dass hier unbedingt für eine offizielle Klärung der Situation gesorgt werden muss. Durch Ihr Verhalten, Herr Geheimrat, zwingen Sie uns aber geradezu zu dem einen jetzt nur noch möglichen Schritt, uns mit der Bitte um eine amtliche Untersuchung dieser Angelegenheit an den Minister zu wenden. – Ich glaubte, Ihnen diese offene Darlegung als Kollege schuldig zu sein. Und nunmehr empfehle ich mich Ihnen, Herr Geheimrat.«

Hintzmann machte Miene, sich nach einer steifen Verneigung zurückzuziehen, aber Berndt hielt ihn noch einen Augenblick zurück. Mit ironischer Verbindlichkeit sagte er: »Ich schätze diese Offenheit ungemein und bin in der glücklichen Lage, mich auf der Stelle revanchieren zu können. Ich glaube, ich kann Ihnen einen vergeblichen Gang zum Herrn Minister sparen, Herr Professor. Ich komme nämlich eben von Seiner Exzellenz –« Mit sarkastischem Lächeln griff Berndt nach seiner Brusttasche und entnahm ihr ein zusammengelegtes Blatt Papier, das er entfaltete. »Bitte, hier – das dürfte Sie interessieren.« Und er reichte Professor Hintzmann das Blatt hin. »Es ist der Entwurf einer Erklärung, die eben im Ministerium in meiner Anwesenheit aufgesetzt worden ist und die morgen früh im Regierungsblatt stehen wird.«

In hochgespannter Erwartung ergriff Professor Hintzmann das Blatt und hielt es dicht vor seine Brille. Er las: »Das gestrige Morgenblatt des ›Volksfreund‹ enthielt einen seiner Form wie dem Inhalt nach unqualifizierbaren Angriff auf den Leiter der hiesigen Hygienischen Versuchs-Anstalt, Herrn Geheimen Regierungsrat Professor Dr. Berndt, den bekannten Erfinder des neuen Krebsheilverfahrens. Wir beschränken uns gegenüber den unerhörten Beschuldigungen dieses Blattes gegen einen so hochverdienten Gelehrten darauf, nur die Tatsachen festzustellen, erstens, dass die von Herrn Geheimrat Berndt im Laboratorium angestellten Versuche ausnahmslos ein solch günstiges Resultat ergeben hatten, dass Herr Geheimrat Berndt vollauf berechtigt war, an die Wirksamkeit und Brauchbarkeit der von ihm erfundenen Heilmethode zu glauben. Wenn tatsächlich jetzt bei der Anwendung dieses Verfahrens in der Heilpraxis in einzelnen Fällen bedauerliche, nicht vorauszusehende Zwischenfälle eingetreten sind, so liegt das keineswegs etwa an der Unzweckmässigkeit des Verfahrens an sich, sondern vielmehr an dem noch nicht genügend vervollkommneten Modus der praktischen Anwendung, der ohne Zweifel in kürzester Frist auf eine völlig befriedigende Stufe gehoben werden dürfte. Zweitens, Herr Geheimrat Berndt hat persönlich an den geschäftlichen Erträgnissen aus seinem Heilverfahren nicht das geringste Interesse, da er zufolge einer hochherzigen Stiftung alle ihm hieraus zufliessenden Einkünfte dem Staats-Fonds für hygienische Versuche zugewiesen hat. Damit fallen also alle Anschuldigungen und Folgerungen des genannten Blattes in sich selbst zusammen.«

Professor Hintzmann las es, und ein wachsendes Erstaunen spiegelte sich in seinen Zügen, das Berndt mit unverhohlener Schadenfreude beobachtete. Doch nun fasste sich der Professor. Er durchschaute – durch diese offiziöse Gestaltung der Notiz hindurch – die geschickten Winkelzüge Berndts, besonders die jetzt in der Not rasch noch gemachte Stiftung.

Ein verächtlicher Zug trat offen auf sein Gesicht, als er nun Berndt das Papier zurückreichte, ohne ihn anzusehen: »Ich gratuliere Ihnen, Herr Geheimrat!« sagte er mit doppelsinniger Betonung. »Sie mögen recht haben: Der Gang zum Minister wird hiernach vielleicht zwecklos sein – aber die Fakultät wird sich trotzdem nicht abhalten lassen, sich ihre Meinung hierüber zu bilden und ihr einen geeigneten Ausdruck zu geben, der keinen Zweifel darüber aufkommen lässt, wie wir unsererseits darüber denken.«

Mit einer kurzen Verneigung verabschiedete sich Professor Hintzmann.

Berndt blieb zurück und schaute dem Abgehenden mit hochmütig lächelnder Miene nach. Aber als dieser hinter der Tür verschwunden, verzog sich sein Gesicht zu einer abstossenden Gebärde zähneknirschenden Ingrimms und Hasses. Was half es ihm nun, dass die Regierung ihn – notgedrungen – offiziell verteidigte, was half's, dass man den Schreihälsen auf der Gasse mit Gewalt den Mund schloss? Viel schlimmer war die im stillen kreisende, spöttelnde Verachtung, der er nicht zu Leibe gehen konnte. Wie die Kollegenschaft, wie die wissenschaftliche Welt, in der er bisher schon um seine Existenz hatte kämpfen müssen, nun über ihn urteilen würden – darüber hatte ihm ja jetzt eben diese Unterredung keinen Zweifel mehr gelassen, und die bevorstehende »Strafverschickung« nach den Kolonien würde ihm den Rest geben. So war denn sein ehrgeiziges Ringen und Jagen umsonst gewesen – er hatte den Ruhm nicht erhaschen können! Man riss ihm jetzt die Fetzen des Pomps, mit dem er sich eine kurze Frist glanzvoll gebrüstet hatte, unbarmherzig vom Leibe. In ohnmächtigem Grimm, im Angstgefühl, dass alles unter ihm zusammenbrach, blieb Berndt zurück – ein von allen Verlassener und Missachteter.

 


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