Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9. Kapitel.
Ein stummer Zeuge

»Soweit ich es zu beurteilen vermag, ist allerdings das vorliegende Beweismaterial erdrückend«, sagte der junge Kirkpatrick nach längerer Überlegung. »Und dennoch nehme ich an, daß Sie damit nicht völlig zufrieden sind, Inspektor.«

Der Beamte zögerte mit der Antwort. Es stimmte. Da war etwas, was ihn in der Tat stutzig machte, wenn es auch kaum irgendwie belangreich erschien. Aber dieser kernige Mensch gefiel ihm, und er beschloß daher, auf seine Bemerkung einzugehen. »Vielleicht befriedigt uns die Schlußfolgerung nie so ganz restlos«, meinte er ausreichend. »Ist Ihnen denn etwas aufgefallen?«

Statt zu antworten, ließ sich Anthony in den bei der Tür stehenden Sessel niedersinken, der nur eine niedrige Lehne besaß. »Von wo aus wurde Ihrer Ansicht nach geschossen?« stellte er die Gegenfrage.

»Wahrscheinlich genau von dort aus, wo Sie jetzt sitzen.«

»Ganz meine Meinung. Ziemlich weit für ein Mädel, finde ich. Und nur eine Patrone wurde verfeuert?«

»Ja. Auch hat man nur einen Schuß gehört. Das Dienstmädchen hörte ihn, als sie gerade die Treppe heraufkam.«

»Könnte das nicht auf Einbildung beruhen?« warf der Seemann ein.

»Ausgeschlossen«, sagte Inspektor Cardew bestimmt. »Ich habe das später selbst festgestellt, indem ich einen Gehilfen auf der Treppe aufstellte und dann hier oben eine Papierdüte zerknallte. Der Knall war deutlich zu vernehmen, wie er mir sagte. Die unteren beiden Stockwerke sind derzeit nicht bewohnt. Dies zu Ihrer Orientierung.«

»Die Magd hat ihre Aussagen sehr bestimmt gemacht«, sagte Kirkpatrick. »Bliebe nur noch die Möglichkeit, daß sie lügt.«

»Immerhin möglich, aber wenig wahrscheinlich«, gab der Detektiv zu. »Miß Drew hat – sofern sie die Tat beging – allen Grund zu lügen. Warum aber sollte das Dienstmädchen die Unwahrheit sagen?«

Der Besucher stand seufzend auf. »Na, ich habe hier nichts mehr zu tun und stehe Ihnen höchstens im Wege herum, Inspektor. Wenn Sie mich benötigen – hier ist eine Adresse, unter der Sie mich erreichen können. Tut mir leid, daß meine Aussagen so wertlos sind.«

Er schritt zur Tür, blieb aber plötzlich stehen und besah sich das Porträt jenes Halahanschen Vorfahren, der da mit etwas schiefem Blick zu ihm niederlächelte.

Anthony schien derart in den Anblick versunken, daß Cardew ihn für einen Kenner alter Gemälde zu halten begann.

»Was guckt der alte Bursche nur so spöttisch, Inspektor? Sieht wirklich fast so aus, als wollte er sich über uns lustig machen.«

»Ich verstehe nichts von Bildern«, versetzte der Beamte uninteressiert.

»Ich auch nicht. Mir fällt lediglich der Gesichtsausdruck auf. Haben Sie den schon beachtet? Ach, bitte, kommen Sie doch mal her.«

»Was soll's denn?« fragte Cardew ungnädig, kam indessen näher. Plötzlich zuckte er zusammen und seine Augen weiteten sich.

»Schade, daß er nicht reden kann«, flüsterte Kirkpatrick. »Ich glaube, daß er uns eine sehr ausführliche Beschreibung des Mörders geben könnte.«

Die schwarze Pupille im rechten Auge des Dargestellten erschien wie ausgestanzt. Die Verstümmelung genügte gerade, um den ohnedies spöttischen Ausdruck noch ein wenig zu verstärken. Der Hintergrund war dunkel, und daher hob sich das Loch nicht als solches davon ab. Cardew besaß scharfe Augen, aber der junge Seemann war ihm in dieser Hinsicht doch noch überlegen.

Mit einem schnellen, sicheren Griff nahm der Detektiv das Bild vom Haken. Der tiefe Rahmen war hinten durch eine Holzplatte geschlossen, die im oberen Teil einen leicht zersplitterten Ausschuß zeigte. In der Wand aber steckte ein plattgeschlagenes Nickelmantelgeschoß, das der Beamte mittels seines Taschenmessers vorsichtig herauslöste.

»Sehen Sie«, sagte Kirkpatrick, »da haben Sie Ihre zweite Kugel. Der Alte da drüben ist kämpfend gefallen. Schade, daß er nicht ein ganz klein wenig schneller gewesen ist.«

Cardews Züge nahmen einen harten, entschlossenen Ausdruck an. »Also waren zwei Pistolen da«, sagte er. »Und die eine davon ist samt ihrem Eigentümer verschwunden. Das Ganze ist demnach eine abgekartete Sache, bei der das Dienstmädchen eine wichtige Rolle spielte.«

Er riß die Tür auf und ging in die Küche. Ida Jevons war nicht zu sehen. Er durchsuchte die ganze Wohnung, rief ihren Namen – – Nichts! Fluchend eilte der Detektiv auf die Treppe hinaus. »Heda! – – Collins! Haben Sie jemanden durchgelassen?«

»Nein, Sir«, kam die Antwort des Angerufenen aus der Tiefe. »Niemand ist heruntergekommen.«

»Schließen Sie die Haustür und bringen Sie mir den Schlüssel«, befahl der Vorgesetzte. »Beeilen Sie sich!«

Anthony schien keineswegs überrascht. »Sieht so aus, als wenn das Mädchen, das über so ausgezeichnete Ohren verfügt, diesmal gehört hätte, daß die Geschichte für sie brenzlig wurde«, meinte er. »Hat eine schnelle Auffassungsgabe, die Person.« Er atmete erleichtert auf. »Jedenfalls ist sie nun auf und davon und mit ihr wohl der einzige Belastungszeuge.«

Die Polizei gab sich jedoch nicht so schnell zufrieden. Collins polterte die Treppen hinunter und bald gellte seine Alarmpfeife draußen auf der Straße, während Cardew – gefolgt von Anthony – zum Dachgeschoß hinaufeilte. Er durchstöberte die einzelnen Verschläge, kletterte über Kisten und Kasten und kam endlich zu einer eisernen Leiter, die bei einer offenstehenden Luke endete. Für eine einigermaßen gewandte Person aber konnte es nicht schwer sein, vom Dach einen Weg zur Erde zu finden. Die beiden Männer sahen sich an.

»Wir werden das schielende Frauenzimmer bald am Kragen haben«, knurrte der enttäuschte Detektiv. »Ihnen aber, Mr. Kirkpatrick, bin ich zu allergrößtem Dank verpflichtet. Wie ich so dumm sein konnte, diese – –«

Übertreiben Sie nicht, Inspektor. Der Zufall kam mir zu Hilfe; das ist alles.«

»Ohne Ihre scharfen Augen hätten wir aber den Einschuß vielleicht nie gefunden, und Sie können sich die Folgen für Miß Drew ausmalen.«

Die Herren stiegen wieder zur Wohnung hinunter, und Cardew untersuchte nochmals eingehend das Loch in der Wand.

»Die Kugel muß abgelenkt worden sein«, murmelte er. »Das geht auch deutlich aus dem Verlauf des Schußkanals hervor. Wenn jemand auf dem Stuhl saß, dürfte er sein Teil abbekommen haben.«

»Das glaube ich auch«, pflichtete Anthony bei. »Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde der Betreffende schwer verwundet.«

Er deutete auf einen unregelmäßigen kleinen Fleck auf der Oberkante der Lehne. Der Fleck war braunrot. »Sie haben das natürlich schon gesehen?« meinte er zu dem Beamten gewandt.

»Ja. – Das war nämlich dasjenige, was mich bei der Sache nicht befriedigte. So lange man aber an die Geschichte von dem Einzelschuß glauben mußte, ließ sich der Fleck damit erklären, daß jemand zuerst den Toten und dann den Stuhl berührt hatte. Auch jetzt noch ist das nicht völlig ausgeschlossen, wenn auch sehr unwahrscheinlich.« Er wog das Nickelgeschoß in der Hand und warf einen fragenden Blick auf das Bild, das er wieder an Ort und Stelle gehängt hatte.

»Bleibt also die Frage: Wer war der Mensch, der hier saß?« meinte der Seemann.

»Das erfahren wir wohl, wenn wir erst die famose Ida erwischt haben. Sie jedenfalls weiß es ganz genau. Der ganze Fall sieht nun so aus, als wenn man von Anfang an mit raffinierter Schlauheit den Verdacht auf Miß Drew lenken wollte. Dazu gehört auch die unverschämte Lügerei des Dienstmädchens, die Person hat sich das nicht im letzten Augenblick aus den Pfoten gesogen. Nun, wir werden diese warme Fährte mit aller Energie aufnehmen.«

»Weidmannsheil!« sagte Anthony trocken. »Mich interessiert lediglich das weitere Schicksal der Miß Drew. Was wird mit ihr?« fragte er den Inspektor.

»Selbstverständlich wird sie auf freien Fuß gesetzt, denn diese zweite Kugel und die nachweislich falsche Zeugenaussage der Ida Jevons befreit sie wohl von jedem Verdacht. Ich fahre jetzt zum Untersuchungsgefängnis und hoffe sofort ihre Freilassung erwirken zu können. Ihnen aber, mein Lieber, verdanke ich es, daß ich nicht einen ganz schweren Fehler beging und –«

»Ach was! – Reden Sie doch nicht von Dank! – Überhaupt möchte ich Sie bitten, meinen Namen nicht zu erwähnen, und vor allem lege ich Wert darauf, daß Miß Drew nichts von meiner Tätigkeit erfährt. Ich habe meine Gründe.«

Cardew sah den großen Menschen etwas befremdet an. »Wenn Sie es wünschen«, sagte er dann. »Es sei denn, ich müßte aus zwingender Veranlassung darauf zurückkommen. Aber das wird ja wohl nicht nötig sein.«

»Na, dann sind wir ja einig.« Anthony lachte und verließ die Wohnung.


 << zurück weiter >>