Glauser, Friedrich
Der Chinese
Glauser, Friedrich

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… und seine Fortsetzung

Die beiden Blätter steckten in Studers Brusttasche. Er folgte dem Hausvater und kehrte zu den Tafelnden zurück. Es roch nach Braten und fad nach Härdöpfelstock, den Salat hatte die Gartenbauschule gestiftet. Die Rotweingläser waren leer – nur die des Wachtmeisters und seines Schützlings noch voll – und das Mädchen ging herum mit einer langhalsigen Flasche und schenkte Weißwein aus. Diesmal stieß der Hausvater nur mit seinem Nachbarn an, dem Polizeihauptmann, beide nahmen einen Schluck aus ihrem Glas, ließen die Flüssigkeit schmatzend auf der Zunge zergehen…

»Neuenstädter, 28er«, sagte der Hauptmann; der Hausvater nickte geschmeichelt. – Ja, der Herr Direktor sei eben ein Weinkenner…

Studer war es, als erlebe er einen Traum. Zuviel neue Eindrücke waren einander gefolgt, zuviel neue Atmosphären hatte er kennengelernt. Er sah die Männer, die hier aßen, und zu gleicher Zeit erblickte er den Äbi Ernst, der tot im Gewächshaus der Gartenbauschule lag.

Wie ein Traum…

In jenem Gewächshaus hatte eine Orchidee geblüht – und, merkwürdig, diese Blume sah der Wachtmeister plötzlich ganz deutlich: wie ein menschliches Gesicht war sie geformt, nein! wie eine Maske eher – und auch das war nicht richtig. Einem wächsernen Kopf ähnelte sie – und auch das war falsch. Sie glich dem Gesichte des toten ›Chinesen‹, denn sie hatte einen Hintergrund, der aus Erde und Moos bestand – und auch auf Moos und Erde war der Kopf des ›Chinesen‹ gelegen…

Vater Äbi fragte giftig:

»Und? Wo habt Ihr Euren Schützling gelassen, Wachtmeister Studer?« Eine grobe Antwort brannte Studer auf der Zunge, aber er unterdrückte sie und antwortete gelassen:

»Er hat eine Kommission für mich machen müssen…«

Er streckte die Hand aus, so, als wolle er sein Weinglas packen, fuhr mit der Hand zurück – das Glas zerschellte auf dem Boden. Wortreich entschuldigte er sich: – Es tue ihm leid! So ungeschickt zu sein…! Als er aufblickte, sah er, daß Hungerlotts Stirnhaut gefurcht war. Der Hausvater trank sein Glas leer, winkte das Stubenmädchen herbei, ließ es sich füllen, leerte es zum zweiten Male… Auf Vater Äbis Stirne standen Schweißtropfen…

Der schwerhörige Fürsorgebeamte stand auf, wischte sich die Lippen, räusperte sich und begann eine Rede. In ihr lobte er die gute Administration der Armenanstalt, kondolierte dem Hausvater zu dem schweren Verlust, den er erlitten habe… Aber da sehe man es wieder: Ein Mann bleibe ein Mann und lasse sich vom Schicksal nicht bodigen. Nach wie vor erfülle der Hausvater seinen schweren Dienst, bringe die Zöglinge dazu, nützliche Arbeit zu tun, verwandle verpfuschte Existenzen in Arbeitskräfte, die der Gesellschaft dienten, kurz: Ein solcher Mann könne der jüngeren Generation als Beispiel vorgehalten werden: durch Pflichterfüllung zeige er, wie man persönlichen Schmerz unterdrücken könne. Darum schlage er vor, den verdienten Hausvater hochleben zu lassen. Er habe geschlossen.

Stühlerücken… Das Stubenmeitschi füllte die Gläser mit Schaffiser. Die Herren umdrängten Hungerlott, stießen mit ihm an, lobten, kondolierten… Ihre Zungen waren ein wenig schwer und die Haut ihrer Gesichter bläulich.

»Wir trinken einen Kaffee im Arbeitszimmer«, sagte Hungerlott. »Ich zeige den Herren den Weg.« Und ging voraus.

Studer war es ungemütlich zumute… Wenn Murmann und der vife Reinhard gerade diesen Augenblick benützt hatten, um das Zimmer zu durchsuchen, so war ein Skandal fällig. Darum blieb der Wachtmeister zurück und wartete, bis Hungerlott die Tür zu seinem Arbeitszimmer geöffnet hatte. Als er nichts Verdächtiges hörte, schloß er sich mit Ludwig dem letzten an.

Die große Kaffeemaschine war an der elektrischen Leitung angeschlossen, der braune Saft brodelte unter dem Glasdeckel – endlich zog der Hausvater den Steckkontakt heraus – das Brodeln beruhigte sich, die Tassen wurden gefüllt. Bei jedem der Herren fragte Hungerlott: »Kirsch? Rum? Zwetschgenwasser?« Bald waren auch alle die kleinen Gläser voll, die neben den Kaffeetassen standen; einige der Herren kippten sie, andere saugten in kleinen Schlucken die scharfe Flüssigkeit, Zigarren wurden in Brand gesteckt, Stumpen. Nur Ludwig rauchte eine Zigarette, und Studer, dem nichts angeboten worden war, begnügte sich mit seiner Brissago.

Der Hauptmann begann seinen Untergebenen aufzuziehen. – Was das denn für ein Mord gewesen sei? Ob der Köbu da nicht wieder einmal spinne? Ohne dem Herrn Hausvater nahetreten zu wollen – vielleicht handle es sich nur um eine simple Liebesaffäre, ein älterer Mann habe sich in seine Nichte verliebt und deren Tod nicht überstehen können… Selbstmord? hä? Soviel er wisse, sei auch der hiesige Arzt ein Vertreter der Selbstmordtheorie, und nur ein junger Statthalter, der gern eine Rolle habe spielen wollen, sei der Meinung gewesen, es handle sich um einen Mord…

Studer bediente sich des Schriftdeutschen, als er antwortete: »Es ist ja möglich, daß ich spinne. Aber vielleicht seid Ihr so gut und erklärt mir, wie ein Mann, der sich ins Herz geschossen hat, ein frisches Hemd anlegen, seine Weste, seinen Rock und seinen Mantel zuknöpfen kann… Wenn Sie mir diese Anomalien erklären können, dann will ich gerne der These des Selbstmordes zustimmen.«

Schweigen. Es war immer ungemütlich, wenn Studer Schriftdeutsch sprach: denn erstens artikulierte er die Worte fehlerlos, er sprach das Schriftdeutsche nicht wie ein Berner mit gaumigen Kehllauten und dann – das war die Meinung aller Herren – verstand dieser Wachtmeister keinen Spaß… Schließlich war man zu einem gemütlichen Mittagessen zusammengekommen und nicht, um den Rapport eines Fahnders über einen Mordfall zu hören. Der Hauptmann tat, als ärgere er sich. – Studer fuhr fort:

»Ich hätte gern Ihre Ansicht über Darmgrippe gehört, Herr Hauptmann…«

»Darmgrippe?« fragte der Vorgesetzte; viele Fältchen durchsetzten die Haut seines Gesichtes.

»Ja, Darmgrippe…«, sagte Studer trocken. – »Ich habe gestern durch Zufall… (er betonte die Worte ›durch Zufall‹)… drei Damennastücher entdeckt, die ich ins Gerichtsmedizinische mitgenommen habe. Die vom dortigen Assistenten vorgenommene Analyse ergab unzweifelhaft folgende Tatsache: der Auswurf, der die Taschentücher beschmutzt hatte, enthielt Arsen…« Studers Blicke wanderten im Kreise, er sah, daß alle Herren auf ihn blickten, und zu diesen Herren gewandt, sagte er trocken: »Vielleicht wissen auch Sie, daß Arsen ein Gift ist.«

Das war zuviel! Durfte man sich von einem einfachen Fahnderwachtmeister verhöhnen lassen? Worte schwirrten durcheinander: »Us dr Luft griffe!« – »Chabis!« –»Bewyse! Bewyse söll er syni Behauptige!« Studer dämpfte den Lärm mit erhobener Hand – und dabei kam ihm die Szene wieder in den Sinn, mit welcher der ganze Fall begonnen hatte: Der Landarzt Buff, der sich mit dem Statthalter Ochsenbein über die Leiche des ›Chinesen‹ stritt…

Eine scharfe Stimme fragte: »Gedenkt Herr Wachtmeister Studer mich zu beschuldigen?« Der Hausvater Hungerlott saß steif aufgereckt in seinem Stuhl – sehr bleich war der Mann…

»Ich, Sie beschuldigen? Wie käme ich dazu!« Augenscheinlich ging es den Herren auf die Nerven, daß die Diskussion schriftdeutsch geführt wurde… – »Wie sollte ich Sie beschuldigen? Ich habe ja keine Beweise!«

Der Hausvater Hungerlott ließ sich zurückfallen, er schlug ein Bein übers andere, tauchte ein Stück Würfelzucker in seinen Kirsch, steckte es in den Mund und leerte sein Schnapsglas. Während er knirschend den Zucker zerbiß, sagte er mit vollem Munde: »Ich schlage vor, wir lassen die Diskussion über dieses unerfreuliche Thema fallen und beginnen mit dem Rundgang durch die Anstalt; der Herr Wachtmeister Studer kann sich ja anschließen…« Obwohl auch der letzte Satz mit Zucker im Munde gesprochen worden war, klang sein Ton bitter.

»Natürlich!« – »Selbstverständlich!« – »Wir wollen die Anstalt sehen!« Studer blieb als letzter zurück, ihm war ungemütlich zumute. Die Durchsuchung des Arbeitszimmers hatte nicht geklappt. Warum waren Reinhard und der Murmann nicht gekommen?

Würdig schritt der Hausvater Hungerlott vor seinen Gästen einher:

»Wir sehen vor allem auf Sauberkeit! Sauberkeit ist unser bestes Kampfmittel gegen den Pauperismus. Sauberkeit und gesundes Essen. Bevor ich die Herren in die Schlafsäle führe, werde ich ihnen zuerst die Küche zeigen und sie bitten, die Suppe zu kosten, die heute den Insassen vorgesetzt worden ist…«

Ein riesiger Herd… Pfannen darauf; zwei Männer standen in der Küche, sie hatten saubere weiße Schürzen vorgebunden und trugen niedere weiße Kappen.

»Auch unsere Köche sind Insassen der Anstalt, unsere Bäcker desgleichen. – Moser, schöpf einen Teller Suppe, damit die Herren probieren können!…« Der Blechteller war mit Schmirgelpapier geputzt worden. Fettaugen schwammen auf der dicken Erbsensuppe.

»Wunderbar!« sagte ein Schreiber in tiefstem Baß und versuchte die Suppe. »Ich wär' froh, wenn meine Frau mir jeden Tag solche Suppe kochen würde!«

»Wollen Sie nicht auch probieren, Herr Wachtmeister?« fragte Hungerlott lächelnd. Studer dankte.

Er dachte an den Schnaps, den die Armenhäusler holen gingen am Samstagabend, mit dem Fränkli, das sie für die Arbeit einer Woche erhalten hatten. Ihm war übel.

Die Herren verließen die Küche.

»Ich werde Ihnen jetzt«, sagte Hungerlott, »die Schlafsäle der Insassen zeigen, hernach können wir, wenn es den Herren recht ist, die Werkstätten besichtigen, die Gärtnerei, den landwirtschaftlichen Betrieb…«

Keiner der Herren hörte die Bemerkung des einen Koches, nur Studer fing sie auf, weil er als letzter ging. Der Koch sagte zu seinem Kameraden: »Lueg… Und es wäre alles nicht so schlimm, wenn nicht so verdammt viel gelogen würde; schließlich, in der Küche sei es noch zum Aushalten, aber die anderen, die einen ganzen Morgen mit einer Gamelle dünnen Kaffees und drei Härdöpfeln werken müßten – für die sei es schlimm!«

Der Hof war leer, die Bise pfiff. In einer Ecke stand 's Trili–Müetti vor ihrem Zuber und wusch, und wusch… Die Lippen waren gesprungen, die Alte sang nicht, ein böser Husten zerriß manchmal ihre Brust. Als sie den Wachtmeister erblickte, winkte sie ihm zu, und als er nahe bei ihr stand, fragte sie: »Was hesch du mit mym Hansli ta?«

Der Wachtmeister hob seine Achseln, es war ihm, als stecke ihm eine große Kugel im Hals, die ihn am Sprechen hinderte…

Unter dem Dach eines Schopfes waren vier Alte mit Holzspalten beschäftigt…

»Das Gegengift gegen den Pauperismus«, dozierte Herr Hungerlott, »Ist Arbeit, Arbeit, Arbeit. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Selbst für den Ältesten, selbst für den Schwächsten finde ich immer noch eine Beschäftigung, die er imstande ist auszuführen… So fühlt er sich nicht nutzlos und hat den Eindruck, sein Essen zu verdienen, sein Taschengeld als Lohn zu erhalten und nicht als Almosen… Ich möchte hiermit der Armendirektion für die Einsicht danken, die sie stets bewiesen hat; durch diese Einsicht ist es mir ermöglicht worden, meine schwere Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen zu erledigen und manchen Entgleisten wieder auf den rechten Weg zu führen! Ich weiß, daß ich viele Neider habe (ein giftiger Blick traf den Wachtmeister), aber allen Anfechtungen zum Trotz tue ich meine Pflicht und…«

Herr Hungerlott verstummte und blickte nach der Hoftür. Die Herren, die seiner Rede mit über dem Bauch gefalteten Händen gefolgt waren – und die brennenden Stumpen hingen in ihren Mundwinkeln –, rieben sich die Augen, als auch sie nach dem Hoftor sahen…


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