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Es war ein Zufall, daß Studer an jenem Abend in Pfründisberg abgestiegen war. In Olten hatte er vergessen zu tanken. Deshalb war er damals in der Wirtschaft ›zur Sonne‹ eingekehrt…
Er trat ein. An der Tür, die ins Nebenzimmer führte, stand ein Eisenofen, der silbern schimmerte, weil er mit Aluminiumfarbe bestrichen war. Vier Männer saßen um einen Tisch und jaßten. Studer schüttelte sich wie ein großer Neufundländer, denn auf seiner Lederjoppe lag viel Staub. Er nahm Platz in einer Ecke… Niemand kümmerte sich um ihn. Nach einer Weile fragte er, ob man hier eine Kanne Benzin haben könne. Einer der Jasser, ein uraltes Mannli in einer Weste mit angesetzten Leinenärmeln, sagte zu seinem Partner:
»Er wott es Chesseli Benzin…«
»Mhm… Er wott es Chesseli Benzin…«
Schweigen… Die Luft hockte dumpf und stickig im Raum, weil die Fenster geschlossen waren; durch die Scheiben sah man das grüngestrichene Holz der Läden. Studer wunderte sich, weil keine Serviertochter erschien, um nach seinen Wünschen zu fragen. Der Partner des Alten meinte:
»Du hescht d'Stöck nid g'schrybe.«
Der Wachtmeister stand auf und erkundigte sich, wo es hier auf die Laube gehe, denn in dem Zimmer war es erstens heiß und zweitens saß an dem Tische, wo gejaßt wurde, ein magerer Spitzbart, den Studer kannte: der Hausvater der Armenanstalt Pfründisberg, Hungerlott mit Namen… Ein unsympathischer Mensch, den man kennengelernt hatte, früher, als man noch Gefreiter an der Kantonspolizei war und Transporte vom Amtshaus nach Pfründisberg machen mußte. Gerade heut abend hatte man gar keine Lust, mit diesem Hungerlott z'brichten…
»Nume de Gang hingere…«, sagte der Uralte und: – der Weg sei nicht zu verfehlen.
Als Studer ins Freie trat, atmete er auf, trotzdem die Luft schwül war. Am Horizont kauerten riesige Wolken, im Zenit hing ein winziger Mond, nicht größer als eine unreife Zitrone, und warf sein spärliches Licht über die Landschaft. Dann verschwand auch er, und in der Nähe war einzig hell erleuchtet das Erdgeschoß eines großen Baues, der etwa vierhundert Meter entfernt von der Wirtschaft sich erhob. Der Wachtmeister lehnte sich an das Geländer der Laube und blickte über das stille Land; dicht vor seinen Augen wuchs ein Ahorn – die Blätter des nächsten Astes waren so deutlich, daß man sie einzeln zählen konnte. Als er sich nach der Lichtquelle umwandte, sah er hinter den Scheiben eines Fensters, das auf die Laube ging, eine Lampe, die einen schreibenden Mann beschien. Keine Vorhänge vor den Scheiben… Der Mann saß an einem Tisch, ein Stapel von fünf Wachstuchheften erhob sich neben seinem rechten Ellbogen – der Mann war damit beschäftigt, ein sechstes Heft vollzuschreiben. Sonderbar… Wie kam ein fremder Gast dazu, in dem Krachen Pfründisberg seine Memoiren zu schreiben…?
Pfründisberg: eine Armenanstalt, eine Gartenbauschule, zwei Bauernhöfe. Das einzige, was dem Weiler Wichtigkeit gab, war die Tatsache, daß das Dorf Gampligen – zwei Kilometer weit entfernt – seine Toten in Pfründisberg begrub…
Dies alles ging Studer durch den Kopf, während er vor dem Fenster stand und dem einsamen Manne zusah, der unermüdlich in sein Wachstuchheft schrieb. Ein weißer Schnurrbart bedeckte seine Mundwinkel, die Backenknochen sprangen vor und die Augen sahen aus wie geschlitzt. Bevor er noch ein Wort mit dem Fremden gesprochen hatte, nannte ihn Studer bei sich: den ›Chinesen‹.
Und wahrscheinlich hätte der Wachtmeister an diesem Abend des 18. Juli gar nicht die Bekanntschaft des Mannes gemacht, wenn ihm nicht ein kleines Mißgeschick passiert wäre. War es der Staub der Landstraße, war es eine beginnende Erkältung? Kurz, Studer mußte niesen.
Die Reaktion des Fremden auf dieses unschuldige Geräusch war merkwürdig: Der Mann sprang auf, so eilig, daß sein Stuhl umfiel, seine rechte Hand fuhr in die Seitentasche der Hausjoppe aus Kamelhaar. In zwei seitlichen Sprüngen war er am Fenster und suchte dort Deckung in der Mauernische. Seine Linke griff nach dem Fensterriegel, riß die Flügel auf… Kurzes Schweigen; dann fragte der Mann: »Wer ist da?«
Studer war hell beleuchtet und seine massige Gestalt warf einen breiten Schatten auf die Laubenbrüstung.
»Ich«, sagte er.
»Antworten Sie nicht so dumm«, schnauzte der Fremde. »ich will wissen, wer Sie sind.«
Der Mann sprach das Deutsche mit englischem Akzent. Englisch? Merkwürdig war nur, daß unter dieser fremdländischen Aussprache etwas Heimatliches hervorlugte, das nicht genau zu bestimmen war. Vielleicht lag es an der Betonung des Wortes »will«, das der Mann wie »wiu« aussprach.
»Kantonspolizei Bern«, sagte Studer gemütlich.
»Legitimation.«
Studer zeigte sie schweren Herzens, denn die Photographie, die auf diesem Ausweis klebte, hatte ihm immer Kummer bereitet. Er fand, er sehe aus auf ihr wie ein Seelöwe, der an Liebesgram leidet.
Der Fremde gab den Ausweis zurück. Die Situation war immer noch unangenehm, denn der Wachtmeister wußte genau, daß der Fremde in der Seitentasche seiner Joppe einen Revolver trug; und es war unangenehm zu denken, daß ein Bauchschuß drohte. Wie eine lästige Mücke hörte der Wachtmeister das Wort »Laparotomie« in seinem Kopfe surren und er atmete auf, als der Fremde endlich seine Rechte aus der Kuttentasche zog.
Nun fragte Studer bescheiden und übertrieben höflich, in sauberstem Hochdeutsch:
»Darf ich mir jetzt erlauben, Ihre Papiere zu verlangen?«
»Surely… sicher…«
Der Fremde trat an den Tisch, zog eine Schublade auf und kam mit einem Paß zurück.
Ein Schweizer Paß!… Ausgestellt für Farny James, heimatberechtigt in Gampligen, Kanton Bern; geboren am 13. März 1878, ausgestellt in Toronto, erneuert 1903 in Schanghai, erneuert in Sydney, erneuert in Tokio, erneuert… erneuert… erneuert… erneuert 1928 in Chicago, U.S.A.,… Grenzübertritt am 18. Februar 1931 in Genf…
»Seit fünf Monaten sind Sie wieder in der Schweiz, Herr Farny?« fragte Studer.
»Surely, fünf Monate. Habe die Heimat wieder sehen wollen…« Da war er wieder, der Laut! Der ›Chinese‹ sagte: ›He-imat‹ mit scharf getrenntem ›e-i‹, während ein Engländer das ›ai‹ sicher übertrieben hätte. »Sie sind… wie sagt man?… ein höherer Polizeibeamter? Ein… wie sagt man… Inspektor, nicht nur ein Policeman?«
»Wachtmeister«, sagte Studer gemütlich.
»Dann werden Sie zugezogen, wenn passiert zum Beispiel ein Mord?« – Studer nickte.
»Es kann nämlich möglich sein, daß ich ermordet werde«, sagte der ›Chinese‹. »Vielleicht heute, vielleicht morgen, vielleicht in einem Monat – und vielleicht geht es auch länger… Sie trinken?«