Glauser, Friedrich
Der Chinese
Glauser, Friedrich

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Notar Münch macht einen nächtlichen Besuch

Gutmütigkeit rächt sich bisweilen. Als Studer Ludwig Farny eingeladen hatte, mit ihm im gleichen Zimmer zu schlafen, wußte er nicht, daß der Bursche schnarchte. Erst am gestrigen Abend hatte er dies festgestellt und heute begann es von neuem. Kaum hatte der Wachtmeister das Licht gelöscht, begann es im Bette drüben zu stöhnen, zu sägen, zu feilen, zu schnaufen. Studer warf seinen Pantoffel hinüber, eine Minute blieb es still, dann begann der Lärm von neuem. Es flog der zweite Pantoffel, es flog der rechte Schuh, der linke dann, es flog die eine Ledergamasche, dann die andere… Länger als eine Minute blieb es drüben nie still. Seufzend wälzte sich Studer von einer Seite auf die andere, knirschte mit den Zähnen, begann zu zählen und memorierte laut das kleine Einmaleins… Ludwig schnarchte. Die Turmuhr der Gartenbauschule von Pfründisberg schlug halb drei, die grelle Glocke des Armenhauses gab ihr Antwort, es schlug dreiviertel, es schlug drei Uhr. Stöhnend zündete der Wachtmeister wieder das Licht an und begann die Zeitung zu Ende zu lesen.

Die Läden des Fensters waren geschlossen, ihr grünes Holz schimmerte durch die Scheiben – das Licht im Zimmer störte das Knechtlein nicht. Plötzlich fuhr Studer auf. Es war ihm, als habe jemand an die Türe gepocht. Er wartete.

Da sah er, daß die Klinke von draußen herabgedrückt wurde, jemand versuchte die Türe zu öffnen – Gott sei Dank, sie war verschlossen!

Studer stand auf und schlich zur Tür. Er preßte sein Ohr an die Füllung und hörte nichts. Denn jedes Geräusch wurde von Ludwigs Schnarchen übertönt. Endlich fragte draußen eine leise Stimme: »Studer, bischt no wach?« Die Stimme des Notars Münch! Der Wachtmeister schob den Riegel zurück, drehte den Schlüssel im Schloß und ließ seinen Freund ein. – Er solle nicht so viel Krach machen, schärfte Studer dem Notar ein, es schlafe da einer im andern Bett, ein guter Bursche, der heute viel geleistet und seinen Schlaf verdient habe… Er schnarche zwar, aber schließlich sei niemand vollkommen!

Während er so sprach, schlüpfte Studer ins Bett zurück, lud den Notar zum Sitzen ein – und Münch nahm die Einladung an. Er verlangte ein Kissen – die Mauer sei hart, behauptete er –, stopfte es sich in den Rücken und sagte: »Leicht ist es nicht gewesen, aus der Anstalt herauszukommen!«

Studer verspürte kein Mitleid, er lachte seinen Freund aus und behauptete, es sei ganz gesund für Notare, wenn sie sich ein wenig bewegten. Sie säßen ohnehin die ganze Zeit auf ihrem Schreibtischstuhl und täten ihre Kunden übers Ohr hauen. – Münch quittierte diesen Angriff, indem er Studer in die Wade klemmte, doch dieser Angriff mißlang; der Wachtmeister streckte plötzlich seine langen Beine und er drängte den Freund erbarmungslos gegen das Fußende des Bettes. Münch bat um Gnade.

– Was er denn so spät noch hier wolle, fragte Studer flüsternd (das Flüstern wäre unnötig gewesen, denn das Knechtlein sägte unentwegt). Ob denn etwas Besonderes passiert sei, drüben im Armenhaus? Und was denn der Herr Notar beim Hungerlott zu suchen habe? Soviel er (Studer) wisse, sei der Hausvater nicht gerade sauber übers Nierenstück…

» Gäll, das möchtescht gärn wüsse?« sagte Münch, zwinkerte mit dem rechten Auge und schraubte an seinem Hals.

»Wüsse!« Der Herr Notar habe wohl den Privatdetektiv spielen wollen, oder? Denn bis jetzt sei keine Klage eingelaufen gegen den Hungerlott…

»Aber soviel ich verstanden habe, meinst du, der Hausvater habe seine Frau mit Arsen vergiftet… Wenn ich dir aber jetzt erzähle, daß wir das Gift bei einem Schüler der Gartenbauschule gefunden haben? Was sagst du dann? Und wenn ich dir weiter erzähle, daß dieser Gartenbauschüler mir gestern eine Warnung durchs Fenster geschossen hat: ›Finger ab de Röschti!‹ Wie antwortest du darauf?«

»Daß du ein Mondkalb bist«, sagte der Notar trocken.

»Das ist ein alter Witz«, meinte Studer griesgrämig. »Mondkälber nennen sich in Pfründisberg Statthalter und Ärzte. Willst du ihrem Beispiel folgen?«

Man merke, meinte der Notar Münch, daß der Herr Wachtmeister schon lange nicht mehr im Billardspiel gewonnen habe; durchs Verlieren werde seine Geistestätigkeit stets ungünstig beeinflußt… Studer murmelte ein Schimpfwort. Hernach fragte er, was ihm also die Ehre eintrage, einen so späten Besuch empfangen zu dürfen?

»Du bist«, sagte der Notar, »heute im Gerichtsmedizinischen gewesen. Was hat die Untersuchung der Nastücher ergeben?«

– Der Herr Notar sei eigentlich viel weniger dumm, als er aussehe, stellte Studer trocken fest, aber nun solle er endlich mit der Sprache herausrücken.

Münch öffnete seinen Rock, entnahm seiner Brieftasche einen Brief… »Da, lies!«, sagte er.

Und Studer las:

Pfründisberg, den 17. November 19…

Herrn Notar Hans Münch, Bern.

Sehr geehrter Herr Notar!

Kurz nach dem Tode meiner Nichte Anna Hungerlott-Äbi änderte ich mein Testament folgendermaßen ab: Das Viertel meines Vermögens, das für meine Nichte bestimmt war, sollte in zwei Hälften geteilt werden: Die eine war für den Gatten der Verstorbenen, den Hausvater der Armenanstalt bestimmt gewesen, die andere für Paul Wottli, Lehrer an der Gartenbauschule Pfründisberg. Diese neue Klausel bin ich gezwungen noch einmal abzuändern und ich bitte Sie, mich morgen, den 18. November, um 10 Uhr vormittags, besuchen zu kommen. Ich bitte Sie, mein Testament mitzubringen, da ich gedenke, es neu zu schreiben – einen Entwurf habe ich schon gemacht, so daß wir schnell fertig wären. Ich muß Sie bitten, die von mir angegebene Stunde ja nicht zu verpassen. Die letzten Tage habe ich mich nämlich einem meiner Bekannten gegenüber über mein Projekt geäußert und ich fürchte, daß dieser nichts Eiligeres zu tun gehabt hat, als diesen Entschluß zu kolportieren. Dadurch aber, daß andere Leute von meinem Vorsatz Kenntnis erhalten haben, ist mein Leben doppelt gefährdet. Vor einigen Monaten machte ich zufällig die Bekanntschaft eines Ihrer Freunde und teilte diesem damals mit, daß mein Leben in Gefahr schwebe. Dieser Freund, Herr Wachtmeister Jakob Studer, stand meinem Berichte ziemlich skeptisch gegenüber. Es kam mir deshalb ratsam vor, mich an Sie zu wenden, da Sie ein Freund dieses Kriminalisten sind. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Herrn Studer beiziehen würden, falls mir etwas geschehen sollte. Es schien mir nur notwendig, Ihnen kurz zu erklären, warum ich mich an Sie gewandt habe, als es galt, mein Testament aufzustellen.

Auf Wiedersehen morgen früh. Mit hochachtungsvollen Grüßen! Ihr ergebener

James Farny.

Studer besah den Brief von allen Seiten, er war mit der Maschine geschrieben.

»Sicher hat er eine Kopie behalten!«

»Sicher!« bestätigte der Notar.

»Aber die Kopie habe ich unter seinen Sachen nicht gefunden…«

»Ich auch nicht«, sagte der Notar unschuldig.

»Ja, hast du das Zimmer durchsucht?«

Der Notar zuckte die Achseln: »Ich war eben früher da als die Fahndungspolizei… Es kommt manchmal vor, daß Notare früher aufstehen als Fahnder…«

Studer kratzte sich verlegen im Nacken, sein Nachthemd – der Kragen war mit roten Blümlein bestickt – stand offen und ließ seinen mächtigen Hals frei. Der Wachtmeister fragte:

»Ist der Tote schon auf dem Grab gelegen, wie du angekommen bist?«

Münch zuckte wieder mit den Achseln: »Leider kann ich mit keiner Auskunft dienen. Ich bin direkt in die Wirtschaft gegangen, hab' nach dem Zimmer vom Farny gefragt – die Serviertochter führte mich hin und dann wartete ich dort… bis um 12 Uhr. Schließlich ist mir das Warten zu dumm geworden, die Fahndungspolizei hat auch viel Lärm gemacht in der Wirtschaft und so bin ich hinüber in die Armenanstalt. Wenn du den herzlichen Empfang erlebt hättest! Der Hausvater hat mich gebeten, bei ihm zu wohnen, hat mir ein Zimmer zur Verfügung gestellt und mich zum Mittagessen eingeladen. Ich hätte nie gedacht, daß man in einem Armenhaus so gut zu Mittag ißt… Er war sehr freundlich, der Hausvater Hungerlott, bitter hat er sich beklagt über den Verlust seiner Gattin – und ich muß ja sagen, daß es schwer ist, seine Frau zu verlieren…«

Studer sah seinen Freund an: der Notar lächelte – und es wäre eine Übertreibung gewesen, hätte man das Lächeln gütig genannt.

»Darmgrippe!« sagte Münch. »Darmgrippe…! Unter dem Namen ›Darmgrippe‹ kann sich allerlei verbergen…, meinst du nicht, Studer?«

»Hm, hm«, brummte Studer. »Der Marshsche Spiegel war sehr deutlich… und der Assistenzarzt im Gerichtsmedizinischen war seiner Sache sicher…«

»Arsen?« fragte Münch – »Hm, hm.«

Wenn nicht das Schnarchen des Ludwig Farny die Luft im Raume erschüttert hätte, wäre es sehr still im Zimmer gewesen…

»Du hast da einen guten Wecker«, meinte Münch und deutete mit dem Daumen nach dem Bette des Knechtleins. Studer seufzte: »Weißt, er hat's nicht schön gehabt. Er ist Verdingbub gewesen, dann war er beim Hungerlott in der Kost, ist durchgebrannt und hat mit einem Meitschi zusammen im Wald gelebt… vielleicht erbt er jetzt… ich möcht's ihm gönnen.«

»Ich auch«, sagte Münch. Dann zog der Notar noch einmal seine Brieftasche, entnahm ihr ein handgeschriebenes Dokument und reichte es Studer. Sein Inhalt lautete, kurz zusammengefaßt: James Farny, geboren dannunddann, heimatberechtigt in Gampligen, vermache sein Vermögen, bestehend aus amerikanischen und englischen Devisen sowie aus Edelsteinen, die in einem Safe des Crédit Lyonnais lägen, zu gleichen Teilen: seiner Schwester Elisa, Ehefrau des Äbi Arnold, ihrem unehelichen Sohne Ludwig Farny sowie ihren ehelichen Kindern Ernst und Anna. Sterbe eine dieser vier Personen vor dem Tode des Erblassers, so sei das Vermögen unter den zurückbleibenden Erben zu verteilen. Keinen Erbanspruch zu erheben habe Arnold Äbi, Ehemann der Elisa geb. Farny. Ein Codizill, welches mit dem Datum des 10. November versehen war, enthielt folgende Bestimmung: Der Gatte seiner Nichte Anna, Hungerlott Vinzenz, erhalte beim Tode seiner Frau den Anteil seiner verstorbenen Gattin. Von diesem Anteil jedoch habe er die Hälfte an Wottli Paul, Gartenbaulehrer Pfründisberg, abzugeben. Testamentsvollstrecker sei Notar Münch.

»Das Testament ist datiert vom 25. Juli«, sagte Studer. »Warst du dabei, wie er es aufgesetzt hat?«

Münch nickte; seine gefalteten Hände lagen auf den Schienbeinknochen und sein Kinn wetzte sich an den hohen Kniescheiben.

»Am fünfundzwanzigsten Juli«, sagte er verträumt. »Ich konnte mir damals die Sache nicht recht erklären: Warum, zum Beispiel, hatte sich James Farny an mich gewandt? Warum berief er sich auf dich? Wer hatte ihm von unserer Freundschaft erzählt? – Vielleicht erinnerst du dich, Jakob, daß wir am 20. und 21. Juli zusammen Billard gespielt haben, in unserem gewohnten Café. Ist dir an den beiden Abenden nichts aufgefallen?«

Studer unterdrückte ein Gähnen. Dann schüttelte er den Kopf. »Wenn ich Billard spiele«, meinte er gelangweilt, »dann vergeß ich meinen schönen Beruf. Ich werd doch nicht kontrollieren, wer mir zuschaut, wenn mir eine Serie von zehn Punkten gelingt. Oder?«

»Das weiß ich«, sagte Münch. »Darum hab ich dir auch nicht erzählt, daß mich der Farny am 25. Juli, morgens um elf Uhr besucht und mich zuerst über dich ausgefragt hat. Alles mögliche wollte er wissen: Ob du Erfolg habest in deiner Karriere, warum du es nur bis zum Wachtmeister gebracht habest und anderes mehr. Da sang ich dein Lob und erklärte ihm, daß in unserem Lande nur die Leute Erfolg hätten, die irgendeiner Partei angehörten. Der Studer aber war nie bei einer Partei – im Gegenteil. Einmal hat er sich in einer Bankaffäre, die vertuscht werden sollte, weil einige bekannte Leute darin kompromittiert waren, bös die Finger verbrannt. – ›Ah!‹ sagte Farny darauf. ›Das ist interessant!‹ – Na, meinte ich, für den Studer sei das nicht interessant gewesen, denn dadurch habe er seine Stelle verloren und von vorne anfangen müssen. Höher als zum Wachtmeister werde er es wohl nicht bringen, denn erstens habe er keine Verwandten (und Protektion nenne man in der Schweiz einfach ›Vetterliwirtschaft‹) und zweitens lasse man allzugescheite Leute gerne an den unteren Stellen kleben und bediene sich ihrer nur, wenn man sie unbedingt brauche. Dann könne man ihnen befehlen – und alles sei in Ordnung. ›Wenn also ein komplizierter Fall ist, wird da Herr Studer mit der Untersuchung betraut?‹ – ›Ja!‹ sagte ich, ›das kann ich Ihnen sogar garantieren. Man nimmt dann nur ihn – und der Fahnderhauptmann sowohl als auch der Polizeidirektor stützen dann den Studer, lassen ihn machen, was er will – bis der Fall beendet ist. Dann wird der Studer wieder in die Rumpelkammer getan und darf sich ausruhen…‹ – ›Oh‹, sagte der Farny darauf, ›das ist interessant. So geht es, glaub ich, in allen Ländern zu. Gut; jetzt wollen wir das Testament schreiben.‹ Er erzählte mir, was er schreiben wolle, ich diktierte ihm, er schrieb nach. Dann ließ er das Testament bei mir. Bevor er fortging, sagte er (und dabei hatte er die Türklinke in der Hand), wahrscheinlich werde er ermordet werden. Von einem seiner Verwandten, von einem seiner Bekannten – das sei alles unsicher. Aber er hätte schon zweimal fast das Leben eingebüßt, wenn er nicht gewohnt wäre, auf sich aufzupassen. Ja… Das wollte ich dir noch erzählen…«

»Merci, Hans!« Selten nur nannte der Wachtmeister seinen Freund beim Vornamen – und heute fiel es ihm besonders schwer, denn er erinnerte sich, daß der sezierte Güggel ebenfalls Hans geheißen hatte. Und etwas wie Angst stieg in ihm auf: War nicht schon einer gestorben, der zuviel wußte? Der Gartenbauschüler Äbi? Drohte dem Notar auch Gefahr? »Und los einisch! Paß dann auf, daß dir nichts passiert, Hans! Hast du verstanden?«

»Äh jaa! Mach dir keine Sorgen!«

»Das Testament bestimmt also, daß Farnys Vermögen in vier Teile zerfallen muß. Nid wahr? Zwei Erben sind gestorben, daher erhält der Ludwig, dem es schlecht gegangen ist im Leben, die Hälfte des Vermögens und seine Mutter die andre.«

»Falsch! Du bist müd, Jakob. Du kannst ja nicht rechnen! In drei Teile wird es geteilt: Ludwig Farny, Elisa Äbi und Vinzenz Hungerlott. Der Teil des Hausvaters zerfällt auch: die Hälfte bekommt der Lehrer Wottli…«

»Weiß der Wottli das?«

»Nach dem Brief ist es zu vermuten. Aber es kann auch möglich sein, daß nur Hungerlott um die Sache weiß – und der Wottli nichts. So, jetzt will ich gehn. Schlaf wohl!«

– Ob er den Brief und das Testament behalten dürfe, fragte Studer. Münch nickte. Dann sagte er noch, gewissermaßen als Abschluß seiner nächtlichen Visite: »Weißt, Jakob, ich hätt dich ja nicht besuchen können, heut abend. Denn die ganze Zeit, seit ich gestern angekommen bin, hat mich der Hausvater keinen Augenblick aus den Augen gelassen. Ich bekam ein Zimmer, das neben dem Schlafzimmer lag und nur eine Tür hatte. Wenn ich fortgehen wollte, mußte ich an Hungerlotts Bett vorbei. Heut abend bin ich umquartiert worden, weil ein neuer Gast erschienen ist – und der Besuch muß sehr wichtig gewesen sein, denn ich bin vergessen worden. Darum hab' ich mich fortschleichen können…!«

Wieder überfiel den Wachtmeister jenes grundlose Angstgefühl. »Hans, paß auf!« sagte er, und der Notar blickte ihn erstaunt an.

»Was soll denn mir passieren?« fragte er erstaunt.

Studer hob die Schultern und brummte etwas. Dann stand er auf und begleitete seinen Freund zur Tür.

»Fall mir nicht die Treppen hinunter, gell?« Münch lachte nur.

Studer lag im Bett (es war angenehm, sich endlich ausstrecken zu können), starrte in das Licht und dachte nach…

Man mußte sich hüten vor voreiligen Schlüssen. Schließlich, auch wenn die Frau des Armenvaters gestorben war, bedeutete das keinen Gewinn für den Hungerlott… Es war eine verkachelte Geschichte. Am Abend hatte man mit dem Vorsteher der Armenanstalt gejaßt und feststellen können, daß der Mann gut spielte; er mußte einen Trumpf, er mußte einen Bock in der Hinterhand haben, denn – und dies war nicht schwer festzustellen gewesen – der Hausvater spielte gut, er spielte mit Überlegung, nicht aufs Geratewohl… Wenn er den Wortlaut des Testamentes kannte, dann hatte er sicher einen Gegenzug parat, um den Wottli aus dem Felde zu schlagen. Schließlich riskiert ein gebildeter Mann nicht zwanzig Jahre Zuchthaus wegen vorsätzlichen Giftmordes, nur um ein Vermögen zu ergattern, von dem er genau weiß, daß er es doch teilen muß. Studer dachte ganz klar und das Schnarchen seines Zimmergenossen störte ihn nicht, sondern begleitete seine Denktätigkeit wie ein angenehmes Liedlein…

Und noch eines durfte man nicht vergessen: Großräte, Ärzte kamen morgen zu Gast. War dieses der Trumpf?

Halt! Obacht! Nicht in den Fehler verfallen, nur einen Schuldigen zu sehen… Der Gartenbaulehrer Wottli war auch an der Sache interessiert… Es genügte nicht, daß er kein unsympathischer Mensch war, seine alte Mutter unterhielt und sich hinaufgearbeitet hatte… Es sprach einiges gegen ihn. Die Erbschaft am Thunersee z.B. Der blutige Schlafanzug war in ein Papier eingewickelt gewesen, auf dem seine Adresse gestanden hatte – und die Adresse war ausradiert worden. Wer wußte von der Ausräucherung des Gewächshauses durch Blausäure? Der Lehrer Wottli… Wer trug den Schlüssel zum Gewächshaus stets bei sich? Der Lehrer Wottli. – Das einzige, was für den Mann sprach, war die Tatsache, daß sein Motiv nicht deutlich zu sehen war. Was konnte den Lehrer zu zwei Morden getrieben haben? Aber schließlich, er hatte das neue Präparat zur Samenbeize in seinem Besitz, er experimentierte mit ihm. .. konnte man sich nicht vorstellen, daß dieser Wottli sich in die junge Frau Hungerlott verliebt hatte, daß er abgewiesen worden war und die Frau aus Rache vergiftet hatte?… Und wenn einige Schüler Bescheid wußten, so kannte sich Ernst Äbi sicher am besten aus… – Hatte sich ausgekannt!… Vielleicht wußte auch das Knechtlein etwas?

»Ludwig!«, das Schnarchen wurde schwächer, »Ludwig!«

Der Bursche fuhr im Bett auf: »Hä? Was isch passiert?«

»Los einisch, Bürschtli!« Ob er auch etwas davon gemerkt habe, daß der Lehrer Wottli in die Frau Hungerlott verliebt gewesen sei…

Das Knechtlein rieb sich die Augen. Zuerst verstand es nicht, wovon die Rede war, und der Wachtmeister mußte seine Frage dreimal wiederholen. Endlich war Ludwig im Bilde. – Ja, an jenem 18. Juli habe er die beiden gesehen; sie seien zusammen spazieren gegangen…

– Was denn die Frau Hungerlott für eine gewesen sei, wollte der Wachtmeister wissen.

»E schöns Wyb!« Die Augen des Burschen leuchteten. – Eine feste Postur, meinte er, streng sei sie auch gewesen, aber sie habe immer noble Kleider getragen und häufig sei sie nach Bern zum Coiffeur gefahren, um sich frisieren zu lassen… und ihri Kralle hett sie agstryche…

Dem Wachtmeister fiel das Trili-Müetti ein und die Beschreibung, die das Weiblein von der Hausmutter gegeben hatte…

»Ah, und noch eins: sie hat immer die Buchhaltung geführt…«

»So… so… die Buchhaltung!« meinte Studer. Diesmal war sein Gähnen herzhaft und echt – ein Gähnen ohne Hintergedanken. Er fühlte, wie seine Lider schwer wurden: »Tue denn nid z'vill schnarche, Ludwig!«

»Ja, Herr Wachtmeister…«

»Und lösch's Liecht!« Nach fünf Minuten schliefen beide und keiner störte den anderen… Es wäre sogar schwierig gewesen, festzustellen, wessen Schnarchen lauter dröhnte, das des Wachtmeisters oder das des Ludwig Farny…


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