Glauser, Friedrich
Der Chinese
Glauser, Friedrich

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Jaßpartie mit einem neuen Partner

Der Nebel war dicht. Eine Lampe brannte über der Türe, die in die Wirtschaft führte; ein wenig Licht fiel auf die Treppe, welche den Absatz mit der Straße verband. Und am Fuße dieser steinernen Leiter stand ein wartender Mann.

Sobald Studer den Motor abgestellt hatte, hörte er seinen Namen rufen. »Ja?« brummte er.

»Paul Wottli, Lehrer an der Gartenbauschule Pfründisberg.«

Studer zog den Wollhandschuh ab. Dann ärgerte er sich, denn der Mann, der sich vorgestellt hatte, schüttelte ihm nicht etwa die Hand, sondern reichte ihm nur drei Finger; den Ellbogen hielt er an den Körper gepreßt.

»Ich habe den ganzen Nachmittag auf Sie gewartet, Herr Studer«, sagte der Lehrer. »Den ganzen Nachmittag! Wie kommt es, daß Sie eine Untersuchung einfach fallen lassen, um nach Bern zu fahren? Ich dachte, die Aufklärung eines Mordes sei eine ernste Sache. Denn ich bin belesen, auch in diesen Dingen.«

Obwohl Studer an diesem Novemberabend bitter gefroren hatte – trotz seiner warmen Unterhosen und seines wollenen Pullovers –, obwohl er sich nach einem warmen z'Nacht sehnte und nicht gerade guter Laune war, mußte er doch über die Rede lachen.

»Und welche interessanten Werke haben Sie zu einem Sachverständigen in Kriminalistik gemacht, Herr Lehrer?«

»Nun, ich kenne Groß, ich habe Locard auf französisch gelesen, ich bin aufs Kriminalarchiv abonniert und…«

»Das genügt, das genügt vollständig. Dann werden Sie auch verstehen, daß ich notwendigerweise in die Stadt mußte, um einige Erkundigungen einzuziehen.«

»Erkundigungen! Erkundigungen! Die nützen gar nichts, Herr Studer, wenn man nicht zuerst die schon gefundenen Prämissen logisch auswertet. Verstehen Sie? Ich finde es durchaus fehlerhaft, einen meiner Schüler unter die Aufsicht eines belasteten Armenhäuslers zu stellen und dann diese beiden in ein Krankenzimmer einzusperren. Deshalb habe ich mir erlaubt, den Ernst Äbi zu befreien, da ich ihn für eine wichtige Arbeit heute abend brauchte. Es war nötig, heute abend das Gewächshaus mit Blausäuregas zu füllen, um das Ungeziefer zu töten, das sich an meinen Orchideen und an meinen Palmenblättern gütlich tut. Darum habe ich meinen Schüler um halb sechs geholt – gerne hätte ich Sie zuerst um Erlaubnis gebeten, aber es pressierte, und darum handelte ich eigenmächtig. Nur schien es notwendig, Sie von diesem meinem Entschluß in Kenntnis zu setzen, um irgendeinen falschen Verdacht, der in Ihnen aufsteigen könnte, von vornherein aus dem Wege zu räumen. Verstehen Sie?«

Studer nickte, nickte… Merkwürdig, wie alles stimmte. Prämissen… Produkt… Der falsche Gebrauch von Fremdwörtern.

»Ich möchte gern zu Abend essen, Herr Lehrer«, sagte Studer und bediente sich ebenfalls des Hochdeutschen. »Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen? Bitte…«

Die beiden stiegen die Treppe hinauf. Unter der Türe empfing sie der Wirt und fragte, was der Wachtmeister essen wolle. Dann öffnete er die Türe in den Privatraum, in welchem das mit Aluminiumfarbe bestrichene Öfeli stand – es war geheizt und strömte wohlige Wärme aus. Hulda Nüesch brachte einen Grog, später das z'Nacht und für Herrn Wottli eine schwarze Brühe in einem hohen Glas.

Der Wachtmeister aß gemütlich und versuchte, trotz dem Geschwätz des Gartenbaulehrers, auf kurze Zeit den ganzen Fall zu vergessen. Vier Männer betraten die Stube, grüßten und setzten sich an einen Tisch nahe beim Fenster; Direktor Sack-Amherd, Hausvater Hungerlott, der Bauer Schranz und ein Unbekannter, dessen lange Nase wie verzeichnet aussah und rot glänzte.

»Guten Abend, Herr Äbi…« Der Lehrer stand auf, bot dem Rotnasigen zwei Finger und setzte sich dann wieder dem Wachtmeister gegenüber.

»Das ist der Vater meines Schülers«, flüsterte er, doch so laut, daß alle Anwesenden die Worte verstehen konnten. Studer brummte.

Dies also war der Mann, der sich auf seiner Visitenkarte ›Maurermeister‹ nannte, seine Frau verprügelte und allzuviel trank. Wie war es dem Manne gelungen, so schnell nach Pfründisberg zu kommen? Um viertel nach fünf hatte er die Tür in der Aarbergergasse ins Schloß geworfen – und jetzt war er schon da. Wann hatte er Pfründisberg erreicht?

Es war der Hausvater Hungerlott, der die Erklärung gab. Während er ein Kartenspiel aufnahm und es zu mischen begann, erzählte er und deutete mit gerecktem Zeigefinger auf den Mann, der links neben ihm saß: Heute nachmittag sei er in die Stadt gefahren – Kommissionen, Bestellungen habe er machen müssen, da er am Samstag Besuch erwarte – Kornmissionen für eine Kommission, hehehe, denn eine solche werde auf das Wochenende erwartet. Abgesandte der Sanitätsdirektion, Großräte, außerdem zwei Assistenzärzte von irgendeiner Pflegeanstalt kämen nach Pfründisberg, um sich über die Bekämpfung des ›Pauperismus‹ zu orientieren… Ja!… Darum sei er heute mit dem Auto nach Bern gefahren – und wen habe er um dreiviertelsechs vor dem Bahnhof getroffen? Den Maurermeister Äbi! Früher, ja früher, sei ein paarmal die Rede davon gewesen, den Äbi in Pfründisberg einzuquartieren – hehehe! Aber als der Hausvater ein Schwiegersohn besagten Äbis geworden sei, habe kein Mensch mehr daran gedacht die Armenanstalt um einen Insassen zu bereichern… Hungerlott schielte zum Wachtmeister hinüber, Sack-Amherd krempelte die Ärmel seines violett gestreiften Hemdes auf und warf dann einen Blick in das Kartenbündel, das vor ihm lag. Vater Äbi grochste, der Kartenfächer zitterte in seiner Hand – endlich krächzte er – denn seine Stimme war heiser – und hob den Kopf: »G'schobe!« Und der Bauer Schranz antwortete: »Schufle!«

Zwischen den beiden Fenstern, durch deren Scheiben die Holzläden grün schimmerten, hing eine Uhr. Sie schlug dreimal, und es klang, als sei die Glocke zersprungen. Studer blickte zu ihr empor: dreiviertel neun. Die Spieler jaßten weiter – Hungerlott und Sack-Amherd rasch und sicher, Äbi und der Bauer Schranz langsam und zögernd.

Bisweilen brach ein kleiner Streit los, weil sich der Maurermeister zu lange besann. Studer fragte sein Gegenüber:

»Um sechs Uhr haben Sie die Räucherung begonnen, nicht wahr? Und wann waren Sie fertig?«

»Ist das wichtig? Oder wollen Sie mich nur auf die Probe stellen? Wenn dies Ihre Absicht ist, so kann ich Ihnen ganz genau antworten: Um viertel nach sechs war alles beendet, ich verschloß hernach die Türe, die vom Gewächshaus in den Gang führt. Viertel nach sechs, achtzehn Uhr fünfzehn – wenn Ihnen dies lieber ist.«

Studer nickte, nickte. Er sog an seiner Brissago und las zerstreut im Abendblatt, das er in Bern gekauft hatte.

Der Bauer Schranz stand auf. Er müsse daheim nachschauen gehen, eine Kuh solle diese Nacht kalbern und ob der Wachtmeister ihn nicht vertreten wolle – eine Viertelstunde, länger würde es nicht dauern.

Studer nickte, setzte sich dem Rotnasigen gegenüber – Hungerlott war am Geben und Äbi mußte sagen, ob er selbst Trumpf machen oder schieben wolle. Es machte ihm Schwierigkeiten einen Entschluß zu fassen. Langsam breitete er die Karten aus, unordentlich standen sie dann zwischen Daumen und gekrümmtem Zeigefinger. Er fluchte, kratzte sich die Stirne, jammerte, behauptete, nicht zu wissen, was er machen solle, bis ihn Studer barsch anfuhr: er möge sich endlich entschließen. Den Wachtmeister traf ein giftiger Blick aus den kleinen Augen – glanzlos waren sie, wie die Augen seiner Frau – er maulte: »Ig tue schiebe…« – »Krüz!« sagte Studer. Denn er hatte in dieser Farbe die Stöck, das Zehni und Drüüblatt vom Achti… Dazu das Schaufelaß und zwei kleine Herz.

Sein Partner spielte aus – und Studer wunderte sich, denn statt eines Trumpfes warf dieser die Herzzehn auf das Deckli. Sack-Amherd nahm mit dem Aß, Studer stach mit dem Trumpfkönig und Hungerlott packte den Stich, weil er mit dem Trumpfaß überstochen hatte. Es wurde eine böse Partie. So laut war das Gelächter der beiden Sieger, daß der Wirt Brönnimann die Nase zur Tür hereinsteckte, der Lehrer Wottli Witze riß und die beiden Unterlegenen leise, aber überzeugt fluchten.

Obwohl der Wachtmeister fest behauptete, er jasse nur aus psychologischen Gründen, gewissermaßen, um den Charakter seiner Mitspieler zu ergründen, ärgerte es ihn doch – und heute abend besonders –, daß er verloren hatte. Nun mischte der ehemalige Maurermeister (war er nicht jetzt in einer Kohlenhandlung beschäftigt und machte blau – nicht nur am Montag?) die Karten und schon die Bewegungen, die er beim Austeilen machte, wirkten aufreizend. Er leckte seinen Daumen ab, klebte ihn auf die oberste Karte und zog sie dann vom Haufen ab, schleckte den Finger ein zweites Mal – für die nächste Karte – und so fort, bis das Spiel vergeben war. Hungerlott behauptete, er habe zehn Karten – und das Spiel mußte noch einmal ausgeteilt werden. Endlich stimmte es, und Sack-Amherd machte Trumpf. Plötzlich war Studers Ärger vergangen. Er starrte nur auf seinen Partner und verlangsamte das Spiel.

Vater Äbi zitterte ja! – Zwar, an diesem Zittern konnte der Alkohol schuld sein. Und doch! Und doch! Es war etwas anderes: Denn der Mann schien die ganze Zeit auf etwas zu warten. Seine Ohren waren groß und rot, die Muschel oben ganz flach, und senkrecht standen sie vom Kopfe ab. Diese Ohren verrieten, daß Äbi angestrengt lauschte, bald wandte er den Kopf der einen Türe zu, die auf den Gang führte, bald der anderen, die ins Nebenzimmer ging. Und er schloß dazu die Augen. Dies bewies, daß er auf ein Geräusch wartete… Was für ein Geräusch?

Studer machte einen kleinen Versuch. Nachdem er die eingeheimsten Stiche gezählt hatte, schnauzte er seinen Partner an: – Ob er denn nicht besser spielen könne? – So gut wie ein Schroter spiele er immer noch, war die Antwort.

»Eeh, tue nid eso!« sagte Hungerlott beruhigend. Dann wandte er sich an den Wachtmeister, um ihm zu erklären, er habe seinen Schwiegervater eingeladen, die Nacht über zu bleiben. Er habe ja genug Platz, jetzt, da seine Frau gestorben sei. Äbi könne im gleichen Zimmer schlafen, es stünden zwei Betten darin… Studer räusperte sich, sein Blick wanderte von einem zum andern, blieb dann am kriminalistisch geschulten Lehrer hängen. Wottli hatte beide Hände auf Äbis Schultern gelegt. Die langen, dünnen Finger gruben ihre Nägel in den Stoff der schmierigen Kutte.

Und plötzlich schien es dem Wachtmeister, als wiederhole sich der Abend des 18. Juli… Aus dem Nebenzimmer kam Lärm, Gläser zersplitterten; dann hörten die fünf des Wirtes Stimme um Hilfe schreien. Der Wachtmeister schob seinen Stuhl zurück, sprang zur Türe und riß sie auf.

Vier Männer in verschmierten blauen Überkleidern umstanden den Wirt, zwei hielten seine Arme gepackt – und in einer Ecke wehrte sich Huldi gegen drei andere Armenhäusler. Diese drei erkannte der Wachtmeister wieder – heut morgen hatten sie mit Reisbesen einen Bärentanz aufgeführt.

Studer handelte schnell; den Wirt befreite er, indem er die zwei, die ihn hielten, im Nacken packte und mit den Köpfen gegeneinanderstieß – da flohen die beiden andern. Mit denen, welche die Serviertochter hielten, verfuhr er gleich, nur der dritte, der das Huldi an den Haaren gezerrt hatte, konnte mit der Faust ausholen… Er wollte Studer eins auswischen, doch dieser konnte sich schnell bücken und die geballte Hand zerschlug eine Fensterscheibe. Dann verschwanden weitere vier, jeder rieb sich den schmerzenden Schädel und auch der letzte drückte sich, nachdem er seine blutende Hand mit dem Nastuch umwickelt hatte. Stille. Unter der Tür, die in Brönnimanns Privatraum führte, standen zwei Gestalten: Sack-Amherd ließ seine Uhrkette schwingen und Hungerlott spielte mit seinem Witwerring.

»Wo sind die anderen?«

»Sie sind grad fortgegangen, Herr Wachtmeister. Mein Lehrer hat gesagt, er wolle nachschauen gehen, ob in der Gartenbauschule alles in Ordnung sei.«

»Hmmm…« Studer hielt seine magere Nase zwischen Daumen und Zeigefinger und schien zu lauschen. Durch das zerbrochene Fenster hörte er einen merkwürdigen Laut, der klang wie das Murmeln einer Volksmenge. Als er die Flügel aufriß, sah er unten eine Versammlung. Etwa dreißig Gesichter wurden vom Lichte beschienen, das aus dem Zimmer quoll. Und diese Fratzen erkannte der Wachtmeister sogleich: Heute morgen hatten sie ihn ausgegrinst, als er aus dem Hofe der Armenanstalt geflohen war… Alle Schüler der Gartenbauschule schienen sich eingefunden zu haben und starrten zum Fenster empor.

Wieso kam es Studer vor, als sei das Ganze eine abgekartete Sache? Besser: eine einstudierte Komödie? Die Armenhäusler hatten doch keinen Grund, sich am Wirte und an der Serviertochter zu vergreifen! Es sah ganz so aus, als habe der Krach dazu gedient, die Gartenbauschüler herbeizulocken. Worauf hatte der Schwiegervater des Direktors sonst wohl gewartet? Was bedeutete sein Lauschen? Und: Warum hatte er in Wottlis Begleitung sogleich das Zimmer verlassen? Noch etwas fiel dem Wachtmeister auf, als er sich stumm aufs Fensterbrett lehnte: Das Erdgeschoß der Gartenbauschule war hell erleuchtet und rechts vom Hauptgebäude, etwa fünfzig Meter von ihm entfernt, schien ein Würfel, ein gläserner Würfel, zu glühen. Das Gewächshaus…

Ängstlich suchte Studer die Fenster der Hausfront ab – im ersten Stock waren sie verdunkelt und geschlossen. Wenn man aber genauer hinsah, konnte man die Scheiben erkennen, denn sie warfen, spiegelnd, winzige Lichtfetzen zurück. Das letzte Fenster jedoch war offen und vom Sims bis zur Erde hing etwas Weißes, das im Föhnwind hin und her pendelte. Denn der zu Mittag eingeschlafene Wind war aufgewacht und hatte den Nebel vertrieben.

Als Studer wieder hinab zu den Schülern blickte, um Ernst Äbi zu finden, den er einem ehemaligen Armenhäusler zur Bewachung übergeben hatte, gelang es ihm nicht, den Verdächtigen zu entdecken. Doch plötzlich drängte sich eine neue Gestalt mühselig durch die Gruppe.

»Wachtmeister!« rief Ludwig Farny. »Wachtmeister Studer! Chömmed, chömmed! Der Brüetsch ligt im Gwächshuus!«

Gedankenverbindungen werden schnell geknüpft. Studer dachte: Gewächshaus – Ausräucherung – Blausäure… Dann rief er dem Knechtlein zu, es solle zuerst heraufkommen. Er schloß das Fenster –, in einer Ecke hockte die Serviertochter auf einem Stuhl, bleicher noch als sonst war die Haut ihres Gesichtes. Stockend fragte sie, ob dem Ludwig etwas passiert sei. »Nein!« brummte der Wachtmeister. »Dein Schatz kommt grad.« Ludwig! Immer der Ludwig! Die Tür zum Nebenzimmer war geschlossen, die Gangtür ging auf und das Knechtlein betrat den Raum.


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