Glauser, Friedrich
Der Chinese
Glauser, Friedrich

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Die drei Atmosphären

Studers Schweigen vor der Leiche des ›Chinesen‹ – wie er den Fremden stets noch bei sich nannte – war wohl so kurz gewesen, daß es seinen Begleitern nicht aufgefallen war. Das Wiedererleben jener Julinacht hatte vielleicht einige Sekunden gedauert. Der Ablauf der Begebenheiten, die sich in ihr abgespielt hatten, war schnell und für Außenstehende unbemerkt vor sich gegangen. Aber der Wachtmeister wollte weder dem alten Dorfarzte von Gampligen, dem die grauen Haare über Ohren und Sammetkragen wucherten, noch dem eleganten Statthalter, dessen auf Taille geschnittener Überzieher sicher sehr wirkungsvoll war, aber wenig Wärme gab, nichts von jener Julinacht erzählen. Darum stellte er scheinbar naiv folgende Frage:

»Wie heißt der Tote und wo hat er gewohnt?« Der Statthalter räusperte sich.

»Ein Fremder«, sagte er, »obwohl er in Gampligen heimatberechtigt war. Als Dreizehnjähriger ist er durchgebrannt und ließ sich als Schiffsjunge anheuern. Später unternahm er alles mögliche – aber soviel ich in Erfahrung bringen konnte, hat er sich besonders in China herumgetrieben. Ich glaube, er besaß sogar das Kapitänspatent. Ursprünglich hieß er mit dem Vornamen Jakob…« Dies gab Studer einen kleinen Ruck. »…Aber er hat das Jakob anglisieren lassen und sich James genannt. Er wohnte in einem Zimmer beim Sonnenwirt und niemand wußte, warum er sich dort niedergelassen hatte. Zog ihn die Heimat, das Dorf Gampligen, an? Suchte er nach Verwandten? Die Beantwortung all dieser Fragen wird der Ermordete wohl mit ins Grab nehmen.«

»Und was habe ich Euch gesagt, Wachtmeister? Wird unser Statthalter nicht ein ausgezeichneter Nationalrat werden? Reden kann er, reden! Und was die Hauptsache ist, er lauscht mit Genuß seinem eigenen Geschwätz!«

»Herr Doktor Buff, ich möchte Sie doch sehr bitten…«

»Bitten Sie nur, bitten Sie nur!«

»Ich weigere mich, auf weitere Insinuationen einzugehen; ich habe meine Pflicht getan und eine kriminalistisch geschulte Person zugezogen… der Rest geht mich nichts an!«

»Sie waschen Ihre Hände in Unschuld, Herr Statthalter Ochsenbein! Natürlich, Pilatus war ja auch ein Statthalter…«

»Aber, meine Herren!… Aber, meine Herren!« Studer segnete nach beiden Seiten mit seinen in Wollhandschuhen steckenden Händen. »Wenn ich mir erlauben dürfte, eine Merkwürdigkeit dieses Falles aufzuzeigen…«

»Zeigen Sie nur auf, hihi! Zeigen Sie nur auf!« krächzte Doktor Buff.

»… dann wäre es« – Studer ließ sich nicht aus der Ruhe bringen – »die folgende Tatsache: Dieser Fall scheint in drei Atmosphären zu spielen: in einem Dorfwirtshaus, in einer Armenanstalt, in einer Gartenbauschule. Am stärksten scheint die Armenanstalt in diesen Fall hinein verwickelt zu sein… Warum finden wir die Leiche des Ermordeten auf dem Grabe der verstorbenen Frau des Hausvaters Hungerlott?«

»Äbe!… Das verstärkt noch meine Theorie des Selbstmordes«, sagte Doktor Buff weise und kratzte sich die Stirne. »Die Liebe! Sie wissen, Herr Wachtmeister, welche Verheerungen die Liebe imstande ist anzurichten – in den Menschenherzen. Die Frau des Hausvaters war eine schöne Dame… Vielleicht – ich sage vielleicht! – hatte sich der Fremde in sie verliebt… Vielleicht konnte er ihren Tod nicht überstehen und beging Selbstmord…« Das Gesicht des Arztes sah aus wie ein Knäuel von Runzeln.

»Da hört Ihr es selbst, Herr Wachtmeister! Seit einer Stunde gebe ich mir Mühe, diesen Arzt hier zu überzeugen, daß wir es mit einem Mord zu tun haben und was ist seine neueste Entdeckung? – Selbstmord aus Liebesgram!«

Studer hörte dem Gezänk der beiden nicht weiter zu. Er hatte sich über die Leiche gebeugt und begann den Inhalt der Taschen zu prüfen. Aber während er dies tat, konnte er nicht verhindern, daß er mit dem Toten ein stummes Gespräch hielt: »Du bist mir auf die Nerven gegangen, weil du das Reimlein erfunden hast: ›Bruder-Studer‹. Verzeih… Ich hab' dich damals nicht ernst genommen, hab' gedacht, du spielest Komödie oder krankest am Größenwahn. Warum hast du mir nicht alles gesagt? Warum hast du mich nicht gebeten, bei dir zu bleiben? Vielleicht hätt' ich dich schützen können. – Ich will gerne zugeben, ich habe gemeint, du habest zu viel Abenteuerromane gelesen. Ich glaubte, irgendeine ›Späte Rache‹ spuke in deinem Kopfe. Und jetzt hat dich doch einer erschossen. Denn was dieser Doktor erzählt, ist einewäg Chabis. Der geschniegelte Statthalter ist im Recht – genau so im Recht wie du…«

Die Taschen waren leer und daher wandte sich der Wachtmeister an die anwesende Amtsperson, die graue Gamaschen trug.

»Haben Sie die Taschen durchsucht?«

»Nein! Ich habe nur die Wunde gesehen.«

»Ich auch«, krächzte Doktor Buff. »Aber etwas anderes habe ich noch feststellen können: Aus der Waffe, die neben der Rechten des Toten liegt, ist ein Schuß abgefeuert worden.«

Studer reckte sich auf und fragte: »Woher wissen Sie das, Herr Doktor?«

»Sie brauchen nur an der Mündung des Laufes zu schmöcken, Wachtmeister.«

Studer dachte bei sich: »Lieber verlange ich von Bern ein Sanitätsauto und laß die Leiche ins Gerichtsmedizinische bringen, als daß du mir die Sektion machst!« Laut sagte er:

»Ich werde Euch auf dem laufenden halten, Herr Statthalter. Aadiö wou, Herr Doktor!« Er führte zwei Finger zur Krempe seines Hutes und verließ den Friedhof. Als er sich am Tore umwandte, sah er die beiden wieder heftig miteinander streiten, während der uniformierte Landjäger wie eine Statue reglos zu Häupten des Grabes stand. Die drei verbargen die Leiche des ›Chinesen‹, die auf dem frischen Grabe lag.

Der Nebel war dünner geworden, Sonnenlicht durchsetzte ihn, so daß er wie rohe Seide glänzte…


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