Glauser, Friedrich
Der Chinese
Glauser, Friedrich

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Unterbruch eines Mittagessens…

»Nun, Herr Wachtmeister, wollen Sie uns nicht etwas aus Ihrer Karriere erzählen? Zum Beispiel die Geschichte mit der Bank? Damals waren Sie doch Kommissär an der Stadtpolizei und brauchten sich Ihre Freunde nicht unter entlassenen Armenhäuslern zu suchen? Oder?« Das Lachen, das entstand, schien dem Sprecher zu schmeicheln – Hungerlott beugte den Kopf, wie ein Schauspieler, der beklatscht wird.

Ludwig Farny zuckte zusammen, er öffnete den Mund – aber Studer stieß ihn mit dem Fuß an: »Ruhig, Bürschtli…« flüsterte er, räusperte sich dann.

»Ja, damals interessierte ich mich eben nicht für Pauperismus«, meinte er trocken. »Um den Pauperismus kennenzulernen, muß man wohl bei einem Hausvater zu Mittag essen…«

Betretenes Schweigen. Die Jungfer begann die Teller abzuräumen – ihr spitzer Ellbogen traf Studers Schläfe. Der Wachtmeister blickte auf – das Mädchen besaß grüne Augen und sie waren mit Haß geladen. »Mhm«, brummte Studer. Münch hatte recht – man mußte aufpassen. Da das Schweigen anhielt, sprach Studer weiter: »Außer dem Ludwig hab' ich übrigens noch einen anderen Freund – und der bereitet mir Sorgen. Ich hoffte, ihn hier zu treffen. Können Sie mir sagen, wo der Notar Münch ist, Herr Hungerlott?«

Der Hausvater war wirklich ein ausgezeichneter Schauspieler. Sein Gesicht verzog sich und drückte Erstaunen aus: »Ich habe Ihnen schon gestern gesagt, daß der Notar am Morgen nach Bern zurückgefahren ist.«

»Merkwürdig… Weder daheim noch in seinem Bureau konnt' ich ihn erreichen. An beiden Orten hab' ich angeläutet…«

»Dann wäre es wohl klüger gewesen, Sie wären in die Stadt gefahren, nicht wahr?«

Studer schwieg. Der Polizeihauptmann begann zu sprechen und beendete hiermit das erste Vorpostengefecht.

Das Stubenmädchen schenkte aus einer verstaubten Flasche Rotwein in die Gläser – so zwar, daß der Wachtmeister und sein Schützling zuletzt bedient wurden. Dann wurde vor jeden der Gäste ein angewärmter Teller gestellt und eine Platte herumgereicht, auf der Milkenpasteten lagen. Auch diesmal wurden die beiden unten am Tisch zuletzt bedient…

War es dem Reinhard, war es dem Murmann gelungen, ungesehen in die Armenanstalt einzudringen und das Arbeitszimmer des Hausvaters zu durchsuchen? Oder hatte Hungerlott diesen Zug pariert, indem er die Armenhäusler, die vorgestern abend in der Beize Krach geschlagen hatten – (Studer war sicher, daß er die gleichen Gesichter am 19. Juli gesehen hatte) – als Wache in den Gängen verteilt?

»Trink nicht von dem Wein«, flüsterte Studer. Aber Hungerlott schien diese Warnung gehört zu haben, denn er stand auf, ging um den Tisch herum, mit jedem anstoßend – und jeder leerte hierauf sein Glas. Der Wachtmeister nippte an dem seinen und stellte es wieder ab, und Ludwig folgte seinem Beispiel. Der Hausvater erkundigte sich besorgt, ob der Wachtmeister krank sei? Auch Vater Äbi fragte seinen Stiefsohn, was denn los sei? Das sei guter Wein! Ludwig gab keine Antwort.

– Ja, das sei immer so, klagte Vater Äbi. Mit Mühe und Not habe man seine Kinder aufgezogen, ihnen eine gute Erziehung gegeben – und wenn man sie dann in Gesellschaft führe, werde man blamiert…

»Schwyg!« flüsterte Studer seinem Schützling zu, der protestieren wollte – Äbi sei nicht sein Vater! – Es war eine aufregende Situation… Gewiß, die Herren, die sich zum Zeitvertreib das Armenhaus ansehen wollten, riskierten nichts, aber ein simpler Fahnderwachtmeister, von dem der Täter wußte, daß er nicht an Darmgrippe glaubte, ein solcher Mann war gefährdet. Darmgrippe ist eine ansteckende Krankheit, besonders, wenn man nicht weiß, wieviel von den Kügeli verschwunden sind, die eine deutsche chemische Fabrik einer Gartenbauschule zur Prüfung geschickt hat. Solche Kügeli lösen sich leicht auf – und wenn man noch in Betracht zieht, daß ein Witwer den Gastgeber spielt, daß besagter Witwer sich von einem Frauenzimmer bedienen läßt… Ein Witwer ist ein begehrtes Heiratsobjekt… Um Hausmutter zu werden, wird so ein Stubenmädchen allerlei Befehle ausführen, Befehle, die man ihr mundgerecht machen kann; ein Schabernack sei vorgesehen: man wolle einem überklugen Schroter einen Streich spielen, ihm ein Abführmittel eingeben – eine harmlose Sache, aber wie lustig für die andern Gäste…! Und wie blamiert würde dann so ein Schroter dastehen! Hatte der Fahnder erst das aufgelöste Kügelchen geschluckt, wurde er krank, dann war es leicht, ihm unter dem Vorwand einer schnellen Hilfeleistung die Brieftasche zu entwenden und mit ihr die Dokumente… Wem hätte sie der Notar sonst geben können?

Und während Studers Augen träge blickten, stellte er eine Frage: Ob Herr Hungerlott erlaube, daß der Wachtmeister schnell sein Telephon benütze? Vielleicht sei Münch nun daheim – beim Essen. Er müsse ihm etwas mitteilen… (Dies war eine Ausrede, Studer wollte nur nachsehen, ob die beiden Fahnder das Arbeitszimmer durchsuchten).

Wenn Studers Augen den trägen Ausdruck eines wiederkäuenden Ochsen hatten, paßte er gewöhnlich scharf auf. Und so entging es ihm nicht, daß Vater Äbi mit Hungerlott einen Blick tauschte… Furcht? Verlegenheit? Nein, Feindseligkeit…! Hatten die beiden sich entzweit? Möglich war es. Wenn Geld im Spiele ist, wird manche Freundschaft lahm.

Der Hausvater lächelte sauer: – Aber gewiß! Das Telephon stehe gerne zur Verfügung.

»Komm, Ludwig!« Studer stand auf. Immer mehr bewunderte er die schnelle Auffassungsgabe des Knechtleins. Ludwig wischte sich mit der Serviette ruhig die Lippen ab, legte das Tuch auf den Tisch und folgte seinem Freund.

Als Studer die Türe von draußen schloß, platzte drinnen wieder ein Gelächter. Schnell hatte sich der Wachtmeister orientiert: Dort war die Türe zum Arbeitszimmer, er öffnete sie… Der Raum war leer!

Also? Wo waren Murmann und Reinhard geblieben? Was hatte sie abgehalten? Der Wachtmeister versuchte, die Schubladen am Schreibtisch zu öffnen – sie waren alle verschlossen. Er hob die Mappe, die auf dem Schreibtisch lag – sie war leer und enthielt nur ein paar Löschblätter.

»Schau schnell hinter den Büchern nach, Ludwig!« flüsterte der Wachtmeister und stieß eine Türe auf, die in ein Nebenzimmer führte. Zwei Betten standen darin – schöne Möbel, aus rotem Holz. Das eine stand beim Fenster, das andere an der hinteren Wand. Früher waren sie wohl nebeneinander gestanden. Drei Türen hatte das Zimmer: die eine, durch die Studer eingetreten war, die andere, dieser gegenüber, führte in ein weiteres Zimmer und die dritte endlich ging wohl auf den Gang. Im Zimmer daneben hatte Münch wohl geschlafen – im Arbeitszimmer war Hungerlott mit seinem Schwiegervater gehockt – und der Notar hatte durch die dritte Tür entweichen können. Studer trat ins Arbeitszimmer.

»Hast du etwas gefunden, Ludwig?«

»Nur dies Heft!«

Ein Wachstuchheft… Ein Tagebuch… Die Schrift des ›Chinesen‹ wohl. Die letzte Eintragung trug das Datum: 17. XI. Pech! Das war Pech! Farny James hatte in englischer Sprache geschrieben – seine Schrift war nicht leicht zu lesen. Immerhin hatte der Schreiber vier Seiten gefüllt – und merkwürdig sah der Schluß aus. Ein Tintenklex, ein Loch im Papier… War die Füllfeder zerbrochen? Studer riß die Blätter aus dem Heft… »Leg's zurück, Ludwig! Wo hat's gelegen?«

»Hinter den Büchern dort!«

Studer trat näher, und während das Knechtlein das Heft an seinen Platz steckte, las Studer die Titel… Pfründisberg schien eine große Vorliebe für Kriminalgeschichten zu haben. Nicht nur Wottli hatte sich für diese Literatur interessiert. Agatha Christie, Wallace… Studer erinnerte sich, daß er dies schon einmal festgestellt hatte. Damals war Münch in einem Lehnstuhl am Kamin gesessen.

Schritte kamen näher, die Türe wurde aufgestoßen. Hungerlott betrat den Raum.

»Fertig, Herr Wachtmeister?«

»Ja, märci. Ich hab'mit Münch reden können…«

»So? Wirklich? Das ist merkwürdig…« Innerlich grinste Studer – aber gleich darauf ärgerte er sich darüber; denn der Hausvater sagte: »Merkwürdig, ja. Weil das Zimmermädchen nicht gehört hat, daß Sie telephonieren. Kommen Sie jetzt zurück. Und du dort auch!« Ludwig fletschte die Zähne wie ein wütender Hund. Aber der Wachtmeister klopfte ihm auf die Schulter. »Geh mir schnell etwas in der Wirtschaft holen. Willst? Spring!« Ludwig verstand – er sollte Murmann und Reinhard suchen…


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