Glauser, Friedrich
Der Chinese
Glauser, Friedrich

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Angst

Diesmal betrat Studer das richtige Zimmer; er ging an der Türe vorbei, die in den Privatraum des Wirtes führte und sah das mit Aluminiumfarbe bestrichene Öfeli nur in der Erinnerung; dann stand er inmitten der Gaststube. Da hörte er ein Glas zu Boden fallen und zersplittern. Hinter dem Schanktisch bückte sich die Serviertochter Hulda Nüesch, ihre braunen Zöpfe lagen als Kranz um den Kopf und es kam Studer vor, als sei die Haut ihres Gesichtes noch bleicher als in jener fernen Julinacht.

»Was hescht, Huldi?« Keine Antwort.

– Sie solle ihm einen Dreier Roten und eine Portion Hamme bringen.

»Ja… Herr… Herr… Wachtmeister!« Furchtsam drückte sich das Mädchen zur Tür hinaus.

In der Stube roch es nach erkaltetem Stumpenrauch, nach schalem Bier. Umständlich zündete Studer eine Brissago an, zog sein Notizbüchlein aus der Tasche und netzte die Spitze seines Bleistiftes:

»Farny James Jakob«, schrieb er, »geboren am 13. März 1878, heimatberechtigt in Gampligen.«

Einmal nur hatte er diese Daten gesehen, ganz flüchtig, und doch erinnerte er sich ihrer, als ob er die Seite des Passes, auf der sie standen, photographiert in seinem Kopfe trüge. Weiter schrieb er in seiner winzigen Schrift:

»Verwandte des Farny?
Brüder? Schwestern? Nichten?
Warum lag die Leiche auf dem Grab der verstorbenen Frau Hungerlott?
Muß im Pyjama erschossen worden sein! Suchen nach Pyjama!
Telephonieren ans Gerichtsmedizinische…«

Er sah sich im Raume um; hinter dem Schanktisch stand ein Buffet, dessen oberer Teil mit Flaschen gefüllt war. Auf einer Ecke der Marmorplatte stand ein Telephon. Studer drängte sich an der Saaltochter vorbei, die Gläser putzte, stellte die Nummer des Gerichtsmedizinischen Institutes ein und verlangte Dr. Malapelle zu sprechen. Halb in italienischer Sprache, halb in deutscher gab er seine Wünsche kund. Die Leiche eines Erschossenen solle so bald als möglich abgeholt werden, eine Sektion sei notwendig, morgen hoffe er nach Bern zu kommen und die Resultate zu vernehmen. Auf Wiedersehen…

Die Brissago war natürlich ausgegangen. Während er sie von neuem in Brand setzte, blickte Studer durchs Fenster. Ein Hochplateau fiel fünfhundert Meter weiter steil ab, auf der anderen Seite des Tales sah man verschwommen durch den Nebel das herbstlich bunte Laub eines Waldes leuchten, welches abgegrenzt wurde vom dunklen Grün einiger Tannen.

»Hier… hier… Herr Wachtmeister!«

»Märci!«

Studer schenkte sein Glas voll – es war rosaroter Landwein – das Mädchen beeilte sich zu verschwinden und der Uralte betrat das Zimmer.

»Ah!… Der Herr Wachtmeister!… Schmeckt der Z'Immis?«

»Mhm.« Studer kaute und beobachtete unter gesenkten Lidern den Wirt Brönnimann. »Ihr habt«,fuhr er fort,»den Toten gefunden?«

»Ich?… Ja… Zufällig!«

»Was seid Ihr suchen gegangen auf dem Friedhof am Morgen? He? Es war doch noch dunkel, oder?«

Er habe e chlys… er habe e paar Schritt ta vors Huus… Wenn man alt werde, sei frische Luft bsunderbar g'sund…

»Und da habt Ihr Euern Gast gesehen? Tot?«

»Ganz tot. Ja, Wachtmeister. Aber agrührt han igen nid!«

»Wer redt denn vo Arühre! Aber hocked doch ab. Ihr stafflet i dr Stube umenand, wie…«

»Äksküseh! Pardon! Wenn's erlaubt ist!« Und dann rief der Uralte: »Huldi! Bring no-n-es Glas!«

Er ließ dem Mädchen keine Ruhe. Nachdem es das Glas gebracht hatte, mußte es springen und einen halben Liter bringen. Der Wirt stieß mit dem Wachtmeister an, wünschte »G'sundheit!« und sein ganzes Gehaben wirkte unecht. Nie kam es vor, daß Brönnimann dem Wachtmeister in die Augen sah – die Blicke des Uralten waren immer zu Boden gesenkt, der Wirt litt an schwerem Atem, er keuchte und knorzte und seine Rede war unterbrochen von Hustenanfällen.

»Ja, Wachtmeister, wenn Ihr auf mich lose würdet! Aber ein alter Mann wie ich – was hat der schon zu sagen! – khäkhäkhä–. Ja. Er war ein lieber Gast, der Farny, immer ruhig, immer still – lautlos wie-n-es Müüsli… Ja! Khäkhäkhä… Und trotzdem ist er ermordet worden.« Husten. Dann:

– Wenn er nur reden könnte! meinte der Wirt, aber man sage ja immer: Vorsicht sei die Mutter der Weisheit… »Khäkhäkhä…« Noble Leute kämen oft zu ihm, der Hausvater der Armenanstalt, der Direktor der Gartenbauschule, Großräte, Regierungsräte… Nämlich, wenn sie die Anstalten besuchen kämen. »Khäkhäkhä!« Und mit noblen Leuten sei nicht gut Kirschen essen…

»Kennt Ihr Verwandte des Toten?« fragte Studer. Er hatte ein Stück Hammen auf die Gabel gespießt und betrachtete es kritisch.

»Verwandte? Ja, von Verwandten könnt ich Euch mänges verzelle! Aber wisset, Wachtmeister, da muß man vorsichtig sein, me cha sich wüescht d'Zunge verbrönne… Wenn ich Euch verzelle würd, was alles gseit worde-n-isch bym Tod vo der Anna…«

»Der Anna Hungerlott? Der Frau vom Hausvater? Wie hat sie geheißen mit dem Mädchennamen?«

»Eh Äbi…«

»Äbi?« Studer steckte den aufgespießten Schinken in den Mund, kaute und dachte nach. Äbi? Den Namen hatte er schon einmal gehört. Wann nur? Die Julinacht fiel ihm wieder ein und dann zwei Worte des nun toten Farny James. »Kusch, Äbi!« hatte der ›Chinese‹ zu einem der Gartenbauschüler gesagt.

»War die Anna mit einem Pfründisberger verwandt?«

Brönnimann nickte, nickte. – Ihr Bruder habe einen Jahreskurs in der Schule absolutiert. Studer lächelte: Jaja, die Fremdwörter! Aber schließlich blieb es sich gleich: Absolviert oder absolutiert – der Unterschied war nicht groß, wichtig war nur, daß man sich verstand.

»Loset Brönnimann, habt ihr letzte Nacht nichts gehört?«

Schweigen. Dann ein kleiner Schrei – der Laut kam vom Schanktisch her. Nun drehte sich der Uralte um und schnauzte die Serviertochter an:

»Geh an deine Arbeit, Meitschi!« Dann wandte er sich wieder seinem Gaste zu und seine Augen waren blau, wie die Flamme eines Spritbrenners.

»Ja, Wachtmeister«, fuhr er fort. »Es ist ein Elend heutzutage mit den Diensten!«

»Ich hab Euch gefragt, ob Ihr keinen Schuß gehört habt…«

»Einen Schuß?« wiederholte der Alte. – Es syg ihm so gsy, so um die halbi drü… Da häb es en Chlapf gä, aber dann sei ein Töff unter dem Fenster vorbeigefahren und es könne gut möglich sein, daß der Chlapf von dem Töff gekommen sei… Eine Explosion vom Motor oder so öppis…

Hinter dem Schanktisch sagte eine Stimme:

»Und es isch doch e Schuß gsy, Brönnimaa!«

– Das Meitschi solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, begehrte der Alte auf – aber Studer netzte die Spitze seines Bleistifts und machte eine neue Eintragung in sein Notizbüchlein…

»Um halb drei also?« fragte der Wachtmeister. »Wer war gestern abend bei Euch?«

»Oh… Khäkhäkhä… Der Hausvater Hungerlott, der Direktor Sack-Amherd, der Gerber… Wir haben gejaßt… Und dann zwei oder drei Schüler…« Der Alte schwieg.

»Sonst niemand?« wollte Studer wissen. Wieder kam die Antwort hinter dem Schanktisch hervor:

– Es seien noch zwei gewesen; und: warum der Wirt die Namen dieser beiden nicht nennen wolle?

– Das Meitschi solle schwyge! Es sei nicht gut, wenn man zuviel rede. Studer aber beschloß, das Mädchen bei der nächsten Gelegenheiten auszuholen. Vorläufig beschränkte er sich auf die Frage:

»Säg Brönnimaa… Warum hescht du Angscht?«

Ein Hustenanfall war die Antwort. Und dann stotterte der Wirt:

»Ig? Wachtmeister, ig Angscht?«

»Ja, du!« sagte Studer trocken und deutete mit seinem Zeigefinger auf die hohle Brust des Alten. Wie verschieden doch die Menschen waren! Die einen mußte man ihren, die anderen siezen – und schließlich gab es solche, die erst auspackten, wenn man sie duzte…

– Er habe doch keine Angst, protestierte der Wirt. Das wäre ja lächerlich. Angst haben!… Und dann stand der Uralte auf, trippelte zur Tür, riß sie auf und schmetterte sie von draußen zu…

Der Gebrauch des familiären Du hatte seine Wirkung verfehlt. Studer stand auf.

»Komm, Huldi!« sagte er. »Zeig mir das Zimmer des Toten.«

»Aber gället, Wachtmeister, ihr verhaftet ihn nicht?«

Aha! Es war also jemand im Haus, der kein gutes Gewissen hatte… Nicht der Wirt – die Saaltochter hätte ihn sicher gern einsperren lassen – nein, ein anderer… Wer? Etwa derjenige, von dem der ›Chinese‹ an jenem Juliabend gesprochen hatte? »Denn soviel ich heute erfahren habe, ist noch ein Bursche im Haus, den ich Ihnen nicht habe vorstellen können…« Merkwürdig, wie gut man sich noch an den Satz erinnerte… Studer tat, als habe er das Mädchen mißverstanden:

»Neinei, Meitschi! Tote verhaft' ich nicht!«

»Eh, Ihr wissed scho, Wachtmeister, wen ich meine…«

»Ich? Ich weiß gar nüd!…«

Huldi Nüesch, die ihre braunen Zöpfe wie Kränze um den Kopf trug, ging voran. Studer folgte. Es ging durch einen Gang, der mit roten Fliesen belegt war – weißer Sand war darüber gestreut. – Die Serviertochter öffnete eine Türe links; dann traten beide ins Zimmer des toten ›Chinesen‹.


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