Glauser, Friedrich
Der Chinese
Glauser, Friedrich

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Atmosphäre Nr. 3

Wenn Studer in späteren Zeiten die Geschichte des ›Chinesen‹ erzählte, nannte er sie auch die Geschichte der drei Atmosphären. »Denn«, sagte er, »der Fall des ›Chinesen‹ hat in drei verschiedenen Atmosphären gespielt: in einem Dorfwirtshaus, in einer Armenanstalt, in einer Gartenbauschule. Darum nenn' ich den Fall manchmal die Geschichte der drei Atmosphären.«

Am nächsten Morgen war die dritte Atmosphäre fällig, die Gartenbauschule. Zuerst frühstückte Studer mit seinem zufälligen Gehilfen Ludwig Farny und machte sich dann mit diesem auf den Weg, um dem Direktor Sack-Amherd einen Besuch abzustatten. Es gelüstete ihn, die Bekanntschaft Ernst Äbis zu machen, der des ›Chinesen‹ zweiter Neffe war.

In der Nacht hatte das Wetter umgeschlagen; der Föhn wehte. Sehr klar war der Hügelabhang auf der andern Seite des Tales; die Blätter einiger Birken glänzten in der Sonne wie Goldstücke, und purpurn funkelte der Laubwald in seinem Rahmen von dunkelgrünen Tannen.

Als er das Grundstück der Gartenbauschule betrat, merkte er, daß hier anders gewirtschaftet wurde. Obwohl der Kies zu Haufen lag – damit er wegen der Feuchtigkeit des Winters nicht in die Erde getreten wurde –, merkte man es den Wegen doch an, daß sie über einem Steinbett angelegt worden waren. In der Ferne surrte eine Bodenfräse; neben einer Steinmauer breitete sich eine Zwergobstpflanzung aus, in der eine Gruppe von Schülern stand… Studers Ankunft brachte Erregung unter sie, der Wachtmeister glaubte Tuscheln und Schwätzen zu hören. Aber unentwegt schritt er vorwärts – fünfzig Meter – dreißig Meter – da hörte er eine bekannte Stimme: »Dort gibt's nichts zu sehen! Wir haben jetzt Stunde! Hier müßt ihr aufpassen!«

Studer erkannte den Sprecher: Herr Direktor Sack-Amherd trug einen mit Pelz gefütterten Mantel – und auch der Kragen war aus Pelz, sowie die Mütze –, die Hände steckten in gefütterten Lederhandschuhen. Über den Schuhen trug er Galoschen, und seine Hosen waren tadellos gebügelt. In der Hand hielt er eine blitzend vernickelte Baumschere, mit der er hier und dort ein Ästlein abzwickte.

»Beim Pyramidenschnitt habt ihr vor allem darauf zu sehen, daß die Konstruktion, daß der Aufbau des Baumes nicht leidet. Natürlich gibt es Gärtner, die drauflos schneiden, so, wie es ihnen gerade in den Sinn kommt. Das nenne ich nicht Baumschnitt, sondern Pfusch. Aah! Guete Tag, Herr Studer! Freut mich! Freut mich, Sie wieder zu sehen. Natürlich sind Sie wegen dem Mord gekommen! Aber ich hoffe, daß es Ihnen nicht einfällt, einen unserer Schüler zu verdächtigen… oder?«

Studer schüttelte das Händlein, murmelte dunkle Begrüßungsworte und zog den Direktor beiseite, fern ab von den glotzenden Schülern.

»Ich möchte natürlich«, sagte er, »Ihrer Schule so wenig als möglich Unannehmlichkeiten bereiten, Herr Direktor. Doch werde ich es kaum verhindern können, wenigstens einen Ihrer Schüler zu verhören. Er ist, wie mir erzählt wurde, ein Neffe des Ermordeten. Äbi Ernst soll er heißen. Ich glaube, es wird sogar nötig sein, seinen Schrank zu durchsuchen…«

»Was Sie nicht sagen! Den Schrank erlesen, den Schrank eines meiner Schüler!… – Äbi!« rief er, und seine Stimme überschlug sich.

Wie alt mochte dieser Schüler sein? Sicher älter als seine Kameraden. Sechsundzwanzig? Achtundzwanzig? Ein alter Bekannter übrigens. Es war der Schüler mit der Nase, die so lang aus dem Gesicht ragte, daß sie wie verzeichnet aussah. Als der Bursche zwischen den beiden Männern stand, schnauzte ihn der Direktor an:

»Nur Unannehmlichkeiten hat man wegen dir. Jetzt will die Polizei deinen Schrank erlesen! Kannst du dir vorstellen, was das für eine Blamasche bedeutet für die Schule?«

War es eine Täuschung? Es schien dem Wachtmeister, als sei der Äbi Ernst erblaßt. Aber Studer gab seiner Stimme einen gewollt gemütlichen Ton, um zu sagen:

»Machen wir's wie beim Zahnarzt, Herr Direktor… je schneller desto besser.«

Er gab Ludwig einen Wink, auf seinen Stiefbruder aufzupassen, und ging dann voraus, neben dem Direktor, auf das Schulhaus zu.

Ein breiter Bau, im Stilgemisch des Kantonsarchitekten ausgeführt: teils Bauernhaus, teils Dorfschulhaus, teils Fabrikgebäude. Die Eingangstür verziert mit Kunstschlosserarbeit. Durch sie gelangte man in eine viereckige Halle, von der aus eine Treppe, zweimal gewinkelt, in das erste Stockwerk führte. Im Raum zwischen diesen beiden Winkeln stand ein moosbewachsenes Brünnlein, umgeben von einigen eingetopften Chrysanthemen, deren Stengel spannen – bis meterhoch waren. Bunt die Blumen, bronzefarben, purpur, goldgelb – und weiß. Als Studer die Treppe neben dem Direktor hinanstieg, wandte er sich um: das Bild, das er sah, sollte ihn lange verfolgen…

Ludwig Farny hatte seine breite, verarbeitete Rechte auf seines Stiefbruders Schulter gelegt. Besorgt blickten seine Augen, deren Blau so merkwürdig glänzte. Die schützende Gebärde des Knechtleins – viel kleiner war es als der Gartenbauschüler – wirkte so rührend, daß Studer einen Augenblick Gewissensbisse empfand. Aber schließlich: Pflicht ist Pflicht. Bei einer Untersuchung darf man auf Gefühle keine Rücksicht nehmen.

Wenn der Wachtmeister geglaubt hatte, unverzüglich zum Schrank des Äbi Ernst geführt zu werden, hatte er sich getäuscht. Selbst ein Mord kann den Direktor einer Schule nicht davon abhalten, die Herrlichkeiten seines Institutes zu zeigen. Außerdem litt Herr Sack-Amherd an Asthma. Darum führte er auch seinen Gast durch den ganzen ersten Stock, ließ ihn das Krankenzimmer bewundern (zwei Betten standen darin), die Bibliothek, das Museum, das Konferenzzimmer. Beim Betreten des Raumes fiel dem Herrn Direktor plötzlich ein, daß er es versäumt hatte, einem Lehrer die Aufsicht über die Schüler zu übertragen. Zuerst wollte er den Äbi fortschicken – aber der Wachtmeister protestierte gegen diesen Vorschlag. So wurde das Knechtlein abgesandt, und Studer mußte in dem Raume warten, in welchem sich ein mit grünem Filz bespannter Tisch langweilte, trotzdem ihn sechs hochlehnige Stühle umgaben.

»Geh, Bürschtli!« sagte Herr Sack-Amherd und beschrieb den zu nehmenden Weg. »Sag, ich sei bis elf Uhr beschäftigt. Bis dahin soll er die anderen ins Gewächshaus nehmen und einen Kurs über Topfpflanzen geben. Wottli heißt er. Das Schild mit dem Namen ist auf dem Briefkasten angebracht. Hast verstanden?«

Wieder wurde Ludwig rot, schielte zu seinem Stiefbruder hinüber, der die Stirn an eine Fensterscheibe gelehnt hatte und in den Garten hinausstarrte. Dann ging er. Um nicht mehr auf das Geschwätz des Direktors lauschen zu müssen, setzte sich Studer und blätterte in einem Buche, das auf dem Tische lag. Es war ein merkwürdiges Buch, ein Inder hatte es geschrieben, und es handelte von sonderbaren Versuchen: Der Verfasser hatte mit komplizierten Apparaten den Pulsschlag der Pflanzen festgestellt, der durch Einspritzungen von Chloroform verlangsamt und durch Einspritzungen mit Koffein beschleunigt werden konnte…

Endlich kam Ludwig Farny zurück, und nun stiegen die vier in das zweite Stockwerk hinauf. Auch hier mußte Studer zuerst die Schlafsäle bewundern, ihr spiegelndes Parkett, die weißgestrichenen Eisenbetten, auf denen rotgewürfelte Federdecken und Kissen lagen. Dann endlich trat die Gruppe auf den Gang hinaus (ein Kokosläufer bedeckte seine grauen Fliesen und der Waschraum enthielt zwei Dutzend weiße Porzellanbecken mit Hähnen darüber für kaltes und warmes Wasser) und blieb vor einem Schrank stehen, der in schwarzer Farbe die Nummer 26 trug.

»Aufmachen!« kommandierte der Direktor, und zum Wachtmeister gewandt, fügte er hinzu: »Ich besitze natürlich einen zweiten Schlüssel für jeden Schrank, aber es scheint mir…«

Ernst Äbi öffnete seinen Schrank… Arbeitskleider, ein Sonntagsanzug… Wäsche, Schuhe… Studer begann auszuräumen und legte jeden Gegenstand fein säuberlich auf den Kokosläufer. Von Zeit zu Zeit schielte er auf den Äbi Ernst und wunderte sich über die bleiche Nasenspitze des Burschen. Verschwommen dachte der Wachtmeister dabei an das vor kurzem durchblätterte Buch, er hätte gern dem Schüler den Puls gefühlt, um zu wissen, ob er schneller schlug. Wahrscheinlich… Menschen brauchten eben keinen giftigen Fremdstoff, wie die Pflanzen, um den Blutkreislauf zu beschleunigen…

»Was ist das?« Studer hatte die Schuhe herausgezogen, nun hielt er ein verschnürtes Päcklein in der Hand und wog es mißtrauisch. »Was ist das?« wiederholte er.

Keine Antwort. Ernst Äbi hatte eine verstockte Miene aufgesetzt. So knüpfte der Wachtmeister den Knoten auf, streifte das Papier ab und betrachtete den Inhalt.

Ein Schlafanzug aus Rohseide. Auf den Hosen ein paar rote Spritzer… der Kittel jedoch starrte von Blut. Auf der linken Vorderseite ein ausgefranstes Loch.

»Was ist das?« fragte Studer zum dritten Male. Da der Schüler immer noch schwieg, begehrte der Direktor auf:

»So antworte doch!« Aber Ernst Äbi hatte die Lippen zwischen die Zähne gezogen, nun war nicht nur die Nase bleich, sondern das ganze Gesicht. Das Knechtlein aber war puterrot geworden und starrte ängstlich auf seinen Stiefbruder…

Studer versuchte es noch einmal:

»Wo hast du das gefunden, Ernstli?«

Wieder das verstockte Schweigen. Mit Güte war da auch nichts auszurichten. So ließ Studer die blutbefleckte Wäsche auf den Boden fallen, trat mit dem Packpapier ans Fenster und untersuchte es… Kein Zweifel: die Adresse, die darauf gestanden hatte, war mit einem Federmesser ausradiert worden. Hielt man jedoch das braune Papier gegen die Glasscheibe, so ließen sich deutlich Buchstaben erkennen:

»Herrn Paul Wottli, Gartenbaulehrer, Pfründisberg bei Gampligen.«

Und als Absender:

»Frau Emilie Wottli, Aarbergergasse 25, Bern.«

Es konnte ein Anhaltspunkt sein. Der wohlgenährte Direktor hatte des Wachtmeisters Tun mit glotzenden Blicken verfolgt…

– Ob Herr Studer etwas gefunden habe, wollte er wissen und spielte mit der Uhrkette aus Weißgold, die über seinem Ränzlein baumelte. Der Gefragte zuckte schweigend mit den Achseln.

Wottli… Wottli… Der Name kam ihm bekannt vor. War das Knechtlein Ludwig nicht zu einem gewissen Wottli geschickt worden? Hatte nicht der Lehrer Wottli für den Direktor einspringen müssen?

»Wie heißen Ihre Lehrer, Herr Direktor?«

Sack-Amherd hob seine Rechte und zählte gehorsam die Mitglieder seines Lehrkörpers auf:

»Blumenstein, der den Obstbau gibt – Kehrli, der den Gemüsebau lehrt, und Wottli, der Topfpflanzen, Düngerlehre und Chemie gibt. Ein tüchtiger Lehrer, der Wottli… Darum hab' ich ihn auch für die Aufsicht bestimmt…«

»Ist Wottli verheiratet?«

»Nein, Herr Wachtmeister; er sorgt für seine Mutter – und Frau Wottli lebt in Bern. Ein guter Sohn, ein braver Sohn…« Wie süß klang die Stimme des Direktors! Und seine Lippen bildeten ein Kreislein. »O ja! Der Lehrer Wottli wird es noch weit bringen. Übrigens… Auch mit dem seligen Farny war mein Lehrer« – »Mein Lehrer«… sagte der dicke Mann! – »war mein Lehrer gut befreundet… Es würde mich nicht wundern, wenn Wottli etwas erben würde… Er war ja reich, dieser merkwürdige Gast, der seine Memoiren in einer abgelegenen Beiz schrieb…«

Auch Direktor Sack-Amherd wußte also, daß der ›Chinese‹ seine Memoiren schrieb.

»Haben Sie diese Memoiren gelesen, Herr Direktor?«

»Zum Teil nur… Einmal las uns Herr Farny aus ihnen vor.«

Plötzlich wandte sich Studer an den Schüler Äbi:

»Wo hast du das Packpapier gefunden?«

Schweigen… Verstocktes Schweigen. Ludwig Farny, das Knechtlein, versuchte das Schweigen seines Stiefbruders zu brechen.

»So red doch, Ernst!« sagte er, beschwörend schier, und in seiner Stimme schienen Tränen zu zittern.

Aber Ernst Äbi wollte nicht sprechen. Er hob die Achseln, bis sie seine Ohren berührten, die groß waren und stark gerötet – so, als wolle er mit dieser Bewegung andeuten, daß jede Aussage sinnlos sei. Und eigentlich verstand der Wachtmeister diesen stummen Protest…

»Wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Direktor« (sein schönstes Schriftdeutsch benützte Studer, um diesen Vorschlag zumachen), »dann könnten wir vielleicht – natürlich mit Ihrem Einverständnis, und nur, wenn Sie nichts dagegen haben! – zu folgendem Schluß gelangen: Sie werden selbst zugeben müssen, daß das Auffinden dieses sonderbar verdächtigen Päckleins für die Schuld – wenigstens die Mitschuld – eines Ihrer Schüler an dem mysteriösen Morde spricht…«

»Müschteriös, sehr müschteriös…«, seufzte Sack-Amherd.

»Wissen Sie, was? Sie haben im ersten Stocke ein schönes Krankenzimmer, es ist leer, ganz leer, was ein sicherer Beweis für die äußerst hygienische Führung Ihrer Schule ist…«

»Hohoho«, lachte Sack-Amherd geschmeichelt und bettete sein Kinn verschämt auf die schwarze Plastronkrawatte, welche die gestärkte Hemdbrust bedeckte.

»Ich mag den Ernst Äbi nicht verhaften, bis ich meiner Sache sicher bin«, fuhr Studer fort, und er sprach so laut, daß auch die beiden Stiefbrüder jede Silbe seiner Rede verstehen konnten. »Wie wäre es, wenn wir die beiden Brüder in dies Krankenzimmer täten, Ludwig Farny könnte auf Ihren Schüler aufpassen, und ich wäre dann sicher, daß der Verdächtige nicht versuchen würde, zu entfliehen. Zu dem Knechtlein habe ich Vertrauen…«

»Was?« fauchte der Direktor und schob sein Kinn vor. »Was? Einem ehemaligen Armenhäusler? Einem Burschen, der in Korrektionsanstalten erzogen worden ist, schenken Sie Ihr Vertrauen?«

»Ja«, sagte Studer milde. »Ich habe Vertrauen zu ihm, weil auch der Chi…, äh… sein Onkel, Vertrauen zu ihm gehabt hat…«

»Sie haben die Verantwortung zu tragen, Herr Wachtmeister Studer. Und wenn Sie von der Kantonspolizei gedeckt werden, so habe ich…«

»Woscht, Ludwig?« Das Knechtlein nickte. »Und du, Ernscht?«

»Ja… gärn!«

»Dann wäre alles erledigt!« Studer stieß einen Seufzer aus, der seine Zufriedenheit ausdrückte. »Tagsüber können die beiden meinetwegen im Haus herumgehen, aber um sechs Uhr abends schließen Sie, Herr Direktor, die Zimmertüre zu und behalten den Schlüssel bis zum nächsten Morgen. Sie sind mir verantwortlich für Ihren Schüler!«

Sack-Amherd wollte widersprechen – doch dann verschluckte er den geplanten Einwand und gab durch ein Kopfnicken sein Einverständnis kund.

»Läbet wohl, mitenand!« Der Wachtmeister winkte mit der Hand, strich seinem Helfer sanft über das roggenblonde Haar, krümmte dann seine Finger und boxte den Ernst Äbi freundschaftlich gegen die Brust:

»Mach keine Dummheiten, Krauterer!«

Dann stieg er langsam die Stufen hinab und hörte noch des Direktors erboste Stimme. Sack-Amherd regte sich über das Wort ›Krauterer‹ auf. Für einen Studierenden, der im Februar des nächsten Jahres das grüne Diplombüchlein erhalten sollte, war dies Wort eine Beleidigung.


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