Glauser, Friedrich
Der Chinese
Glauser, Friedrich

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Krach

Herr James Farny führte den Wachtmeister in einen andern, ziemlich besetzten Raum. Das Zimmer mit dem silbern schimmernden Aluminiumöfeli war wohl der Privatsalon des Wirtes gewesen. In der Gaststube, welche die beiden jetzt betraten, saßen vier Männer, alt, in schmierigen blauen Überkleidern, in der Nähe der Tür um einen Tisch, auf dem eine Zweideziguttere, gefüllt mit einer hellgelben Flüssigkeit, stand. Beim Fenster hockten fünf andere Gestalten, gleich gekleidet, in verschmierte blaue Overalls, und auch vor diesen Männern standen niedere, dickwandige Gläschen…

»Bätziwasser«, sagte Herr Farny verächtlich.

Um einen runden Tisch, in der Mitte des Raumes, saßen fünf junge Burschen in städtischer Kleidung mit unwahrscheinlich bunten Krawatten unter schiefsitzenden Umlegekragen. Einer war unter ihnen, der Studer von Anbeginn an auffiel. Er sah älter aus als seine Genossen. Aus einem magern Gesicht ragte eine spitze Nase, die so lang war, daß sie wie verzeichnet aussah. Die fünf Burschen tranken Bier. Hinter dem Schanktisch hockte die Serviertochter und lismete. Zwei dicke braune Zöpfe lagen um ihren Kopf wie ein merkwürdiger Kranz. Herr Farny steuerte auf den Tisch zu, der neben dem der jungen Burschen stand. Dort trank ein alter Bauer gemütlich ein Zweierli Wein.

»Und, Schranz? Wie geht's?« fragte der ›Chinese‹ den Alten.

»Mhm!« brummte der Alte.

»Was macht Brönnimann?«

»Jasse…« Herr Farny nahm Platz und auch Studer setzte sich. Es war durchaus ungemütlich in dem Raum. Eine Spannung herrschte, deren Ursprung man nicht recht feststellen konnte. Die vier Blaugekleideten an der Tür, die fünf in den schmierigen Überkleidern am Fenster blickten auf die zwei neu Eingetretenen, und ihre Münder waren mit Hohn verschmiert.

Nicht das Gewitter verursachte die Spannung, auch nicht die elegante Kleidung des Herrn Farny. – Deutlich hörte Studer das Wort ›Schroterei‹, aber er wußte nicht, an welchem Tisch es ausgesprochen worden war.

Übrigens, woher hatten die Leute schon erfahren, daß ein Polizist unter ihnen war? Natürlich! Das Polizeischild am Töff. Aber… Warum fürchteten die Armenhäusler die Polizei? Und warum die städtisch gekleideten Jünglinge mit den schiefen Umlegekragen, die sicher der Gartenbauschule angehörten?

»Kognak!« rief Herr Farny. »Huldi, zwei Kognak! Aber vom Guten!« Die Saaltochter kam schüchtern näher. Auffallend war die Farbe ihrer Gesichtshaut. Es sah aus, als sei die Haut mit Schimmel überzogen.

»G'wüß, Herr Farny!« und »Gärn!« sagte die Tochter.

Aber es gelang ihr nicht, die Bestellung auszuführen, denn plötzlich begannen die vier am Tisch bei der Tür nach der Melodie: »Wir wollen keine Schwaben in der Schweiz!« zu gröhlen: »Wir wollen keine Tschucker uff em Bärg, Tschucker uff em Bärg, Tschucker uff em Bärg!« Sie standen auf. Der eine nahm die Zweideziguttere, die anderen bewaffneten sich mit den dickwandigen Schnapsgläslein – und so, von zwei Seiten, rückten sie gegen den Tisch des Wachtmeisters vor und sangen dazu ihr blödes Lied.

Der ›Chinese‹ balancierte auf den Hinterbeinen seines Stuhles und seine roten Lederpantoffeln baumelten auf den Zehen. Ihm schien die ganze Sache großen Spaß zu machen.

»Angst, Inspekteur?« fragte er und streichelte die weiche Seidensträhne, die seinen Mundwinkel verdeckte.

Studer hob seine mächtigen Achseln. Als aber auch die Gartenbauschüler sich am Krach beteiligen wollten, als der Bursche mit der verzeichneten Nase eine Bierflasche packte, um sich den Armenhäuslern anzuschließen, sagte James Farny, befehlend, wie man zu einem Hunde spricht:

»Kusch, Äbi!« Der Bursche setzte sich wieder. Studer hockte auf seinem Stuhl, die Beine gespreizt, die Ellbogen auf den Schenkeln, die Hände gefaltet; sein Rücken war rund. Und in Wirklichkeit hatte er auch nichts zu fürchten, denn plötzlich ging die Tür zum Nebenzimmer auf und die vier Jasser erschienen.

Es war merkwürdig, sie – einen nach dem andern – eingerahmt von der Türe zu sehen: Jeder wirkte wie ein Bild für sich.

Herr Hungerlott erschien zuerst und zögerte, bevor er die Schwelle überschritt; der Bocksbart am Kinn machte sein Gesicht spitz.

»Was ist das für ein Krach! Schon wieder schnapsen! Und ich hab's doch streng verboten!«

Die alten Männer mit den schmierigen Überkleidern drückten sich gegen die Türe – nun stand Herr Hungerlott im Schein der Lampe:

»Ah! Der Herr Wachtmeister!? Wie geht's, wie geht's?«

Studer murmelte etwas Unverständliches.

Eine zweite Gestalt, massig, mit aufgekrempelten Hemdsärmeln über blondbehaarten Armen, stand im Rahmen der Tür und kolderte los:

»Wie oft habe ich schon gesagt, Ihr sollt am Abend nicht in die Wirtschaft kommen? Hä? Könnt Ihr nicht folgen? So, aber jetzt heim! Marsch-marsch!« Das mußte der Direktor der Gartenbauschule sein. Ein dreifaches Kinn sickerte über sein rohseidenes Hemd, auf seinem gewölbten Bäuchlein baumelte eine Kette aus Weißgold und in den Ringfinger der Rechten war der Ehering tief eingegraben.

Die Schüler verschwanden…

Und nun erst erschien der Uralte, gebeugt und keuchend. Er krächzte:

»Was hat es gegeben, Huldi? Hast mich nicht rufen können?« Dann machte ein Hustenanfall seinen Fragen ein Ende. Ihm auf dem Fuße folgte sein Partner beim Jassen, der Bauer Gerber, und so unscheinbar war dieses Männlein, daß niemand ihm Beachtung schenkte.

In dem fast leeren Raume schwebte als einzige Erinnerung an die Armenhäusler der Geruch von Bätziwasser und schlechtem Tabak. Aber auch dieser schwand, als die Serviertochter auf den Befehl des Direktors ein Fenster öffnete: Die vom Gewitterregen gereinigte Luft strömte ins Zimmer…

Und dann geschah ein Wunder. Plötzlich standen auf dem Mitteltisch sechs Gläser aus Kristallglas (Kristallglas in einer kleinen Beize!). Herr Farny schenkte ein und, mit einem Augenzwinkern zum Wachtmeister, stellte er vor:

»Herrn Hungerlott, den Hausvater der Armenanstalt, kennen Sie schon, Herr Inspektor… aber hier, darf ich Ihnen vorstellen: Herr Ernst Sack-Amherd, Direktor der Gartenbauschule Pfründisberg. Weiter: Herr Alfred Schranz, Landwirt; Herr Albert Gerber, Landwirt; die Serviertochter Hulda Nüesch. Und als letzter: unser allverehrter Rudolf Brönnimann, Wirt des Gasthofes ›zur Sonne‹… – Und hier unser Inspektor Jakob Studer… Wir wollen anstoßen!«

Studer erinnerte sich, damals gedacht zu haben, dieser Herr Farny müsse ein ausgezeichnetes Namensgedächtnis haben, denn: er hatte des Wachtmeisters Legitimation nur kurz gesehen und nicht nur an seinen Familiennamen erinnerte er sich, sondern auch an seinen Vornamen. Doch seinen Reim: ›Bruder-Studer‹ hatte er vergessen, denn er duzte seinen Gast nicht mehr…

»Es ist ein Elend«, sprach der Hausvater Hungerlott, »man kann den Leuten das Schnapsen nicht abgewöhnen. Ich möchte Euch bitten, Wachtmeister, das, was Ihr hier gesehen habt, in Bern nicht weiter zu erzählen… Schließlich und endlich, die Leute arbeiten die ganze Woche, am Samstag bekommt jeder ein Fränkli und ein Päckli Tabak. Das muß für die nächstfolgenden acht Tage langen. Was tun die Leute, um ihr Elend zu vergessen?… Kognak ist ihnen zu teuer, darum saufen sie Bätziwasser. Der Pauperismus, Herr Wachtmeister, ist der Aussatz unserer Gesellschaft. Muß ich Ihnen das Wort ›Pauperismus‹ erklären?«

Studer blickte vor sich auf den Tisch. Er hatte einen nichtssagenden Gesichtsausdruck aufgesetzt, der wie eine Maske wirkte. Jetzt hob er die Augen und sein Blick war leer.

»Pauper«, dozierte der Hausvater, »heißt ›arm‹ auf lateinisch. Der Pauperismus beschäftigt sich mit dem Probleme der Armut. Bei uns kommt natürlich noch die ganze Frage des Fürsorgewesens hinzu, die ebenso kompliziert ist wie…«

»Aber du hescht d'Stöck nid gschrybe, im letschte Gang!« unterbrach hier der Landwirt Gerber. Brönnimann begehrte auf: Woll, er habe sie geschrieben, das sei eine verdammte Lüge… Und Studer sagte, daß er schon lange eine Kanne Benzin verlangt habe, ob es nicht möglich sei, sie endlich zu bekommen?

– Exakt! Der Mann habe Benzin verlangt, unterstützte Gerber des Wachtmeisters Reklamation.

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann sagte der Direktor der Gartenbauschule, Herr Sack-Amherd: – Ja, es sei auch nicht immer einfach mit den angehenden Gärtnern… meistens hätten die Burschen schon selbständig gearbeitet und keinen Sinn für Disziplin.

»Was soll ich aber dann sagen?« mischte der Hausvater Hungerlott sich wieder in das Gespräch. »Alles wird mir zugewiesen, was man nicht gut nach Witzwil, nach Thorberg oder nach Hansen schicken kann. Leute sind darunter, die mindestens zehn Jahre Gefängnis auf dem Buckel haben, beschäftigen muß ich sie, aber Sie sollten die Reklamationen hören, Herr Wachtmeister! – Für nüt müßten sie arbeiten; durch ihre Arbeit könnten die großen Herren ein schönes Leben führen – und dabei, ich will ganz offen zu Ihnen sein, gelingt es uns nicht einmal, die Unkosten herauszuwirtschaften. Jährlich muß der Staat zum mindesten – ich sage zum mindesten! – zwanzigtausend Franken draufzahlen, sonst würde es mit unserer Abrechnung bös hapern. Ich komme mir bald vor wie ein Reisender, sogar ein Auto habe ich mir angeschafft und muß nun die Kundschaft abklopfen. Die Konkurrenz der andern staatlichen Anstalten! Das ist das Übel! Die Irrenanstalten, die Strafanstalten, sie alle liefern Heimarbeit – und so kommen wir zu dem blöden Zustand, daß eine Anstalt der andern versucht, die Kunden wegzu…«

»Er hed es Chesseli Benzin welle«, unterbrach der Bauer Gerber. – Er gehe ja schon, er gehe ja schon! keifte der Wirt Brönnimann und humpelte zum Saal hinaus.

Die Zurückbleibenden stießen miteinander an, tranken, schwiegen; dann begann der Direktor der Gartenbauschule, Herr Sack-Amherd, ebenfalls bitter über die Regierung zu klagen: – Früher, ja früher hätten die Bauern revolutioniert, weil man ihnen den Zehnten abverlangt habe. Und heutzutage? Da reklamiere niemand, wenn man zwölf bis vierzehn Prozent Einkommensteuer abladen müsse. Ja: zwölf bis vierzehn Prozent! Das sei nach seiner bescheidenen Ansicht mehr als der Zehnte! Aber wer wage gegen die Übergriffe – die Finanzübergriffe – zu reklamieren? – Niemand! Und warum…?

In der Tür erschien der Wirt Brönnimann. – Er habe no-n-es Chesseli Benzin uftriebe chönne. Der Wachtmeister solle cho luege, aber e chli pressiere…!

Zugleich mit Studer erhob sich Herr Farny. Er wolle den Gast noch hinausbegleiten, sagte er. Allgemeines Verabschieden… Der Händedruck des Hausvaters Hungerlott war reichlich klebrig. Es war, als könne er seine Finger gar nicht mehr von Studers Hand lösen. Herr Sack-Amherd verabschiedete sich merklich kürzer und die beiden Bauern, Gerber und Schranz, ließen nur ein undeutliches Murmeln hören. Dann stand Studer unten an den ausgetretenen Stufen. Der Wirt Brönnimann verschwand in einem Schopf, um, wie er sagte, dort Benzin zu holen – und neben dem Wachtmeister blieb allein der ›Chinese‹ zurück.

»Sie haben sie nun alle gesehen, Inspektor«, sagte Herr Farny. »Fast alle. Denn soviel ich heute erfahren habe, ist noch ein Bursche im Haus, den ich Ihnen nicht habe vorstellen können. Er fürchtet sich vor der Polizei, verstehen Sie? Aber sonst… Wie gesagt: Es waren fast alle anwesend.«

Herr Farny schwieg einen Augenblick, dann hob er mit einem Ruck den Kopf und blickte dem Wachtmeister in die Augen. Die Lampe, die über der Eingangstüre zur Wirtschaft hing – und über ihr baumelte und glänzte das Schild, das mit feinen strähnigen Strahlen die Sonne darstellen sollte –, beschien die Gesichter der beiden von oben und warf schwarze Flächen auf sie. Der ›Chinese‹ legte seine leichte Greisenhand auf die mächtige Schulter des Wachtmeisters und sagte:

»Sie werden mich also rächen.«

Schweigen…! Der Blick des Fremden senkte sich nicht.

»Rächen!« wiederholte Herr Farny. »Sie werden meinen, Inspektor, das sei kindisch. Vielleicht, Sie haben recht! Aber ich will nicht, daß er hat den Triumph.«

»Er?« wiederholte der Wachtmeister fragend. »Welcher er?«

Da lächelte der Fremde und es war ein sehr unbernisches Lächeln. – Ein uneuropäisches fast. »Wer? Wenn ich ihn kennen würde! Ich weiß es nicht. Sie werden es herausfinden müssen… Aber ich vertraue Ihnen. Ich kenne mich aus in Menschen. Ich kann taxieren ohne zu sehen Ihre Schrift, ohne zu wissen Ihr Geburtsdatum. Sie, Inspektor, sind wie ein Schwerölmotor.

Es braucht lange, bis Sie eine hohe Tourenzahl erreicht haben, aber dann laufen Sie, dann nehmen Sie jedes Hindernis wie ein Traktor, wie ein Tank… Ich weiß schon, Sie haben gedacht heut abend, der Farny ist verrückt, er leidet an Verfolgungswahn. Und Sie werden sehen, daß der Farny recht behalten wird. Morgen? Übermorgen? In einem Monat? In zweien? In dreien? Einmal wird er recht haben und dann werden Sie Arbeit bekommen… Gute Nacht, Inspektor, schlafen Sie wohl. Ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt nach Hause.«

Kein Handdruck, kein Geräusch… Farny James, der ›Chinese‹, war lautlos verschwunden – die Stufen hinauf? Um die Ecke des Hauses?

Vom Schopf her aber kam hustend und keuchend und spuckend der Wirt Brönnimann und trug eine Fünfliterkanne Benzin. Studer füllte den Behälter auf, zahlte seine Schuld, trat auf den Anlasser und fuhr in die stille Nacht hinein. Einige Gebäude des Weilers Pfründisberg waren noch erleuchtet – er ließ ihre Lichter hinter sich. Die Sommernacht war frisch.

Dies alles war am 18. Juli geschehen.

Und heute schrieb man den 18. November.

Drei Monate hatte der ›Chinese‹ als Höchstfrist für seine Ermordung angegeben. Er hatte einen Monat zu wenig berechnet, denn vier Monate waren seit dem 18. Juli vergangen.


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