Glauser, Friedrich
Der Chinese
Glauser, Friedrich

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Fortsetzung eines Vortrages

Herr Hungerlott schritt auf und ab, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Lautlos waren seine Schritte, denn der Boden des Zimmers war mit einem dicken Teppich bedeckt. In der Nähe des Fensters stand ein Diplomatenschreibtisch, dessen Platte leer war – und Studer dachte an den Tisch im Zimmer des ermordeten ›Chinesen‹ –. Im offenen Kamin knallten die Buchenscheiter. Hell war die Flamme des Holzes und schon ihr Anblick gab warm. Dem Wachtmeister gegenüber, in einem bequemen Klubsessel, saß der Notar Münch und hatte das rechte Bein über das linke geschlagen. Studer saß da in seiner Lieblingsstellung, die Ellbogen auf den gespreizten Schenkeln, die Hände gefaltet und starrte in die Flammen. Zwei Wände des Zimmers waren mit Gestellen bekleidet, und als der Wachtmeister die Bücherrücken während des nun folgenden Vortrages von ferne prüfte, sah er alte Bekannte wieder: Groß: ›Handbuch für Untersuchungsrichter‹, die Werke Locards, Lombrosos, Rhodes' – zwei Etageren waren gefüllt mit Kriminalromanen: Agatha Christie, Berkeley, Simenon…

»Sie können es nicht einmal zu einem geregelten Leben bringen – zu einem finanziell geregelten Leben, meine ich; alles scheint ihnen unter den Fingern kaputt zu gehen, sie können sich in keiner Stellung halten, und wenn sie zufällig Geld von ihren Eltern geerbt haben, so verlieren sie dieses Geld – und nicht einmal durch eigene Schuld… Durch einen Bankkrach, durch die Unehrlichkeit eines Notars – dies soll keine Anspielung auf dich sein, lieber Münch…«

»Hoffentlich!« brummte der Notar und fuhr mit dem Zeigefinger zwischen Kragen und Hals.

»Sie sehen, Studer, wie empfindlich die Menschen sind… Ich habe versucht, der Regierung einmal meine Theorie des Pauperismus auseinanderzusetzen – der Pauperismus als Schicksal und nicht als Verschuldung –, aber ich bin nicht angehört worden. Und doch könnte ich tagtäglich den Beweis für meine Theorie führen. Wenn Sie wüßten, Studer, wie viele Schicksale durch meine Hände gehen!… Ich habe es erlebt, daß Leute in Pfründisberg eingewiesen worden sind, nur weil sie arbeitslos waren! Ich gebe mir die größte Mühe, diesen Individuen zu helfen – aber der Fluch ist eben die Gemeinschaft, in der sie leben müssen. Sie machen sich keinen Begriff, Studer, welchen Einfluß das Milieu hat. Zehn Schnapser und Faulenzer können 100 anständige Menschen schlecht machen. Und der Fluch ist eben, daß wir zehn Schnapser und Faulenzer haben. Vergeblich habe ich versucht, den Behörden begreiflich zu machen, diese Elemente auszuschauben… Umsonst! Man gibt mir zur Antwort: Die Leute haben nichts verbrochen, sie sind schuldlos in das Unglück geraten. Unsere Armenbehörde hat die Pflicht, diesen Unglücklichen zu helfen. Nun urteilen Sie selbst, Studer, wir erhalten für jeden Zögling ein Taggeld von Fr. 1.17; das muß für alles langen: für Nahrung, für Kleidung, für Arzt. Wie soll ich das nun machen? Ich kann den Leuten kein anständiges Essen vorsetzen – und Sie werden mir zugeben müssen, daß schlechtes Essen auch dem Geist schadet. Ich tue mein möglichstes…«

»Und schaffst dir ein Auto an!« dachte Studer.

Es waren viele Dinge, die den Wachtmeister an Herrn Hungerlott störten: da war zuerst der aus zwei Ringen zusammengeschweißte Schmuck am Ringfinger – der Ring der verstorbenen Frau an den Ring des Witwers gelötet – und Herr Hungerlott spielte die ganze Zeit mit diesem Doppelring, der viel zu weit war für seinen mageren Finger. Da war zweitens der Spitzbart – die Wangen waren glatt rasiert und nur aus dem Kinn wucherten Haare von schmutzig graubrauner Farbe. Und da war drittens der merkwürdige Anzug des Herrn Hungerlott, der litewkaartige Rock mit der farbenprächtigen Krawatte, die nur von Zeit zu Zeit aufleuchtete… Viertens endlich: Der Hausvater sagte. ›Studer…‹ und nicht: ›Herr…‹ Eines aber war sicher sympathisch an dem Mann: er hörte sich gerne sprechen und da Wachtmeister Studer selbst lieber schwieg, hatte er gegen Leute, die sich gerne reden hörten, nichts einzuwenden. Er durfte dann ruhig in seinem Stuhle hocken, die Worte über sich rinnen lassen und in die Flammen starren…

Was aber, was zum Teufel, hatten die beiden Fußtritte zu bedeuten, mit denen ihn sein Freund, der Notar bedacht hatte? Studer schielte aus den Augenwinkeln zu Münch, aber dieser war viel zu sehr beschäftigt mit seinem allzu hohen Stehkragen, der sich an seiner Halshaut wetzte…

»Ich tue mein möglichstes«, dozierte Herr Hungerlott weiter, »aber ich stecke in einem Dilemma, aus dem ich keinen Ausweg finde: einesteils ist es meine Pflicht, als Hausvater einer Armenanstalt meinen Zöglingen die Liebe zur Arbeit beizubringen, sie zu überzeugen, daß sie nur durch Arbeit wieder ein geregeltes Leben werden führen können… Demgegenüber steht meine persönliche Überzeugung, mein Glauben fast, möchte ich sagen, daß die Armut gewissen Menschen vorbestimmt ist, daß sie ›in den Sternen geschrieben steht‹, und daß nichts ihren Lebenslauf ändern kann, keine Anstrengung, keine Arbeit, keine Pflichterfüllung!«

»An einer Darmgrippe ist Frau Hungerlott gestorben?« fragte Studer, starrte ins Feuer und würdigte Herrn Hungerlott keines Blickes.

Der dritte Fußtritt! Studer verzog keine Miene.

»An… ja… an… einer Darmgrippe… ganz richtig… an einer perniziösen Darmgrippe«, stotterte der Hausvater.

»Und hat James Farny ein Testament hinterlassen?« fragte Studer trocken.

Der Notar Münch faltete die Hände, sandte einen verzweifelten Blick gen Himmel, denn er verstand seinen Studer nicht mehr.

»Das heißt… wie meinen Sie das, Herr Studer? Natürlich hat der Ermordete ein Testament hinterlassen, das seine Verwandten bedenkt… Seine Schwester – meine Schwiegermutter hehe –, die in Bern mit einem düsteren Subjekt verheiratet ist.

… Nun, düsteres Subjekt ist vielleicht zu viel gesagt. Schließlich ist dieser Arnold Äbi mein Schwiegervater. Aber vor meiner Heirat mit der Anna hat die Armenbehörde zweimal den Antrag gemacht – der Äbi sollte versorgt werden. Ein Säufer ist er, früher war er Maurer, aber jetzt ist er ein wenig arbeitsscheu – das darf ich wohl sagen, obwohl ich ja mit ihm verwandt bin. Außer meiner Schwiegermutter kommt natürlich als Erbin meine Frau in Betracht. Sie ist jetzt tot und ich weiß nicht genau, was in diesem Falle geschehen wird. Auch der Bruder der Anna wird erben – Ernst heißt er und absolviert den Jahreskurs in der Gartenbauschule. Wozu ich bemerken muß, daß James Farny seinem Neffen den Kurs zahlte und ihn auch sonst mit Taschengeld versorgte; während meine Frau keinen Rappen – ich betone: keinen Rappen – von ihrem Onkel erhalten hat. Ich wollte daher meinen Freund Münch um Rat fragen: die Summen, die an diesen Ernst Äbi ausbezahlt worden sind, müssen selbstverständlich von der Erbschaft abgezogen werden, oder?… Außer diesen Personen ist noch jemand vorhanden, der den Namen Farny trägt: ein uneheliches Kind der Mutter Äbi, die mit ihrem Mädchennamen also Farny hieß und diesem Kinde natürlich diesen Namen gab. Wer der Vater war, weiß man nicht. Ob nun dieser Ludwig Farny ebenfalls erbberechtigt ist…«

»Er ist es«, knurrte Münch, aber der Hausvater stellte sich schwerhörig und fuhr fort.

»… Darüber muß natürlich das Gericht entscheiden. Ich werde, nach Rücksprache mit meinem Freunde Münch einen Fürsprech beauftragen, meine Interessen zu wahren…«

Studer stand auf, streckte sich und gähnte ungeniert. »Das wär alles für heut abend, Herr Hungerlott.« Und er betonte das Wort »Herr«, unterstrich es sogar mit einer Handbewegung. Er gab keinem der beiden die Hand, sondern schritt zur Tür. Im Vorzimmer nahm er seinen Mantel – und da er genügend Orientierungsvermögen besaß, gelang es ihm, den Ausgang zu finden. Er kehrte in die Wirtschaft »Zur Sonne« zurück. Im Gastzimmer brannte noch Licht, aber der Wachtmeister sehnte sich nach Einsamkeit. Darum suchte er das Zimmer auf, in dem der ermordete Farny James gehaust hatte. Ein zweites Bett war aufgeschlagen worden. Ludwig Farny, das Knechtlein von Amriswil, schlief darin den Schlaf des Gerechten, das heißt, es schnarchte unerhört. Der Wachtmeister gab ihm eine Kopfnuß, der Bursche fuhr auf, erschreckt, seine Haare, gelb wie Roggenstroh, standen wirr von seinem Kopfe ab, und das Blau seiner weitaufgerissenen Augen leuchtete, leuchtete…

Brummig sagte der Wachtmeister zu seinem Schützling: »Wenn du so schnarchst, kann ich nicht schlafen!«

»Entschuldiget, Herr Studer… aber ich schnarch immer, wenn ich müd' bin…«

»So leg dich auf die Seite! Wenn man auf dem Rücken liegt, schnarcht man immer!«

Gehorsam kehrte Ludwig sein Gesicht der Wand zu und war nach kaum einer Minute wieder eingeschlafen. Nach zwei Minuten begann das Schnarchen von neuem und tönte wie das Kreischen einer Waldsäge… Studer zog sich aus, dumpfe Flüche murmelnd; dann, bekleidet mit einem Flanellpyjama, Lederpantoffeln an den Füßen, inspizierte er noch einmal das Zimmer; die Wände waren mit Holz getäfelt. Jede Latte untersuchte der Wachtmeister – aber er fand nichts. Endlich kroch er ins Bett, denn ihn fror. Vor dem Einschlafen brummte er noch: »Auf alle Fälle ist der Farny nicht in diesem Zimmer erschossen worden, sonst hätt' ich die Kugel gefunden.«

Einige Minuten noch störte ihn das Schnarchen seines Helfers. Dann hörte er auch dieses nicht mehr und schlief ein, den mageren Kopf auf die rechte Hand gebettet.


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