Glauser, Friedrich
Der Chinese
Glauser, Friedrich

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Blinder Passagier

Der Nebel war wohl daran schuld, daß die Dämmerung so eilig über das Land sank. Studer knipste das Licht an und zog den Vorhang vors Fenster. Die Serviertochter saß immer noch vor dem leeren Tisch, das Kinn in die Höhlung ihrer Hände gebettet, aber als der Wachtmeister das Mädchen genauer betrachtete, sah er, daß dicke Tränen ihm über die Wangen liefen. Und ein Satz kam ihm in den Sinn, ein Satz, der eher eine Frage war: »Gälled, Ihr verhaftet ihn nid, Herr Wachtmeister!«

Das Zimmer des James Farny war reichlich möbliert, es befanden sich in ihm wenigstens zwei Stühle. Und da 's Huldi auf dem einen saß, nahm er den andern, schwang ihn zu sich herüber, setzte sich rittlings auf ihn, legte die Unterarme auf die Lehne und das Kinn auf die gefalteten Hände.

 

»Wo fehlt's, Meitschi?« fragte er.

Das stumme Weinen ging in ein lautes Schluchzen über:

»Der Lu… der Ludwig, Herr Wachtmeister!«

»Was ist mit dem Ludwig, und wo ist er?«

»In mym… mym Zimmer!«

»Du machscht ja schöni Sache!« meinte Studer. »Wart' hier auf mich, ich will den Ludwig holen gehen.« Er verließ das Zimmer und war eigentlich erstaunt, den alten Wirt nicht hinter der Türe beim Lauschen zu ertappen. So stieg Studer in den ersten Stock – leere Kammern –, stieg höher, gelangte unters Dach. Das Zimmer der Serviertochter war nicht schwer zu finden. Auf den Schwellen der andern Zimmer lag Staub – eine Schwelle jedoch warf das rötliche Licht der Kohlenfadenlampe zurück. Studer klopfte. Keine Antwort… Er drückte auf die Klinke und öffnete die Tür.

Links vom Fenster ein Bett, auf den Sprungfedern eine Decke. Rechts eine Matratze auf dem Boden. Ein Bursche, dessen Kopf in den gefalteten Händen lag, sprang auf und starrte den Wachtmeister an. Seine Haare waren gelb wie Roggenstroh und seine Augen von so dunklem Blau, daß sie gar nicht an eine Spritflamme erinnerten, sondern eher an einen Bergsee… Der Anzug aus Halbleinen verrumpfelt… Und sicher hatte sich der Bursche seit drei Tagen nicht rasiert.

Studer nickte befriedigt, denn das Zimmer bewies deutlich, daß alles in Ehren zugegangen war. Da wurden stets große Sprüche gemacht, in denen von der Unmoral der heutigen Jugend geredet wurde – und hier? Hier hatte eine Serviertochter auf den Sprungfedern geschlafen, um ihrem Freunde mit einer Matratze aushelfen zu können. Ein kleines Lächeln brachte Studers Schnurrbart zum Zittern: Sogar die Leintücher hatten die beiden geteilt – das Meitschi eins, der Bub eins – und auch die Decken… Das Mädchen hatte unter dem Federbett gefroren und der Bursche unter der Wolldecke und unter seinem schäbigen Mantel…

»Wie heißest?«

»Ludwig Farny.«

»Bist verwandt mit dem Toten?«

»Dem Toten?«

»Ja, weißt du denn nicht, daß der Chine… will sagen; der James Farny gestorben ist?«

»Der Onkel Jakob?«

Studer verzog das Gesicht. Warum nur hatte der ›Chinese‹ den gleichen Vornamen getragen wie ein Berner Fahnderwachtmeister?

»Ja, der Onkel Jakob!«

»Gestorben? Der Onkel Jakob? Was Ihr nicht sagt… Er war gut zu mir… Und ich hab' sonst niemanden gehabt!«

»Wo hast du gelebt?«

»Im Thurgau.«

»Komm jetzt mit!«

»Gärn, Herr Studer…«

»Kennst mich?… Kennst mich schon lang?«

Ludwig schwieg, seine Augen waren weit aufgerissen. Der Wachtmeister drehte das Licht ab und trat hinaus auf den Gang. Der Bursche folgte ihm.

Unten im Gang begegneten die beiden dem Wirte. Studer sagte:

»Ich hab' dir da einen neuen Gast, Brönnimaa. Laß noch ein Bett in mein Zimmer stellen, ins Zimmer vom Farny, verstanden? Und laß eine Scheibe einsetzen – ich hab' eine zerbrochen…«

»Im Zimmer vom Toten? Im Zimmer vom Toten? Wird nid sy!«

»Wouwou! Und der hat auch keine Angst. Gäll, Ludwig?«

»Nenei!«

Brönnimann hustete, dann wischte er sich mit einem Nastuch die entzündeten Augen und starrte auf den Burschen. Er sagte verächtlich:

»Was wollt Ihr mit einem Armenhüüsler, Wachtmeister?«

Ludwig Farny wurde rot und ballte die Fäuste: Studer packte ihn am Arm und schob ihn ins Zimmer. »Ruhig, Bürschli!« sagte er leise. »Laß den alten Beizer nur reden.«

– Er habe gemeint – und er wandte sich an die Serviertochter –, es sei bequemer, wenn der Ludwig mit ihm zusammen schlafe. Denn es sei ungesund auf Stahlfedern zu liegen. Man könne sich bös erkälten. Während er sprach, beobachtete Studer das Mädchen und sah, daß es rot wurde. Er fand, diese Farbe stehe der Bleichen gut…

»Ludwig!« rief's Huldi.

Nun wurde auch der Bursche rot und sein Gesicht drückte Verlegenheit aus.

»Äh jaa!« meinte Studer. – Und: was denn dabei sei? »Ich hab' ihn gefunden, ich behalt ihn bei mir, denn ich brauch ihn. Basta!«

»Aber, Herr Studer! Wisset Ihr denn nicht, daß der Ludwig in der vergangenen Nacht, erst gegen Morgen, an mein Fenster gedoppelt hat? Steine hat er geworfen… Gerade in der Nacht, in der unser Gast erschossen worden ist.«

Ludwig senkte den Kopf. – Ja, das stimme. Aber was denn dabei sei? fragte er. Und leise fügte er hinzu: – Vom Morde wisse er nichts, aber auch gar nichts!

»Darüber reden wir später«, sagte Studer. »Laß uns jetzt allein, Meitschi! Wir haben z'brichte… Gäll, Ludwig?«

»Sowieso, Herr Studer!«

»Setz dich aufs Bett. Ich muß noch etwas suchen.« Ludwig gehorchte schweigend.

Studer nahm die Wäsche aus dem Schrank – fünf rohseidene Pyjamas, sechs elegante Hemden, ein Dutzend seidener Krawatten, Unterwäsche, wollene und seidene Socken, Nastücher. Die Hausjoppe aus Kamelhaar hing über einem Bügel, neben ihr waren zwei graue Anzüge mit der eingenähten Etikette eines englischen Schneiders zu sehen, und endlich ein pelzgefütterter Wintermantel. All diese Kleidungsstücke legte Studer sorgfältig auf den Tisch und begann ihre Taschen zu durchsuchen. In der Seitentasche der Hausjoppe fand er einen Brief. Er lautete folgendermaßen:

»Amriswil, den 15. Oktober. Mein Lieber! Gönner und Helfer!

Wie geht es Euch und was macht Ihr immer? Ich hoffe, daß bei Euch stehte Gesundheit und das schöne Wohlsein herrscht. Was bei mir auch ist! Jetzt will ich Euch schreiben, wie es mir gegangen ist bis hierher. Von Gamplingen aus ging ich nach Zürich. Dort blieb ich bis am andern Mittwoch und suchte mir Arbeit. Vergeblich. Ich war genöhtigt, auf den 1. August nach Herisau zu gehen. Dort blieb ich nur 14 Tage. Es war ein Egoist wie kein zweiter. Nachher kam ich nach Amriswil, das war was anders. Ich habe jetzt 13 St. Vieh zu besorgen. 70 Fr. im Sommer, 60 Fr. im Winter und Arbeit in Hühle und Fühle. Dieser Sommer konnte ich das Traktorfahren lehren. Da muß man nicht immer jagen, sondern nur auf den Hebel drücken, aber aufgepaßt heißt es, was mann macht, sonst steht es still oder geht zu schnell, aber schön ist es am Steuerrad zu sitzen. Bin viel mit Maschine oder Wagen allein auf die Matten gefahren und große Stüke gekehrt. Wir betreiben auch Gemüsebau. Da weiß man auch was tun. Und noch etwas, hoffentlich werden mir die Hufeisen, die ich unter der Linde ausgegraben habe, ›Glück bringen‹, denn ich habe mir erlaubt, ein paar Lose zu kaufen, will sehen, ob mir das Glück einmal blüt, sonst weiß ich nichts mehr zu schreiben.

Also auf Wiedersehen, lieber Onkel und Gönner. Mit den herzlichsten Grüßen schließt

Euer Ludwig.

Wenn Ihr mich braucht, dann schreibt nur nach Amriswil«

Drei Seiten waren beschrieben. Auf die vierte und letzte Seite hatte das Bürschlein seine Adresse gemalt:

»Herrn Ludwig Farny,
Knecht,
Amriswil, Kt. Thurgau Switzerland
Europa.«

Studer saß da in seiner Lieblingsstellung, die Ellbogen auf den gespreizten Schenkeln und hielt den Brief in der Hand… Selbstverständlich: Nicht jeder Mensch konnte wissen, daß Amriswil im Kanton Thurgau lag, im Ausland war es auch eine wenig bekannte Tatsache, daß der Kanton Thurgau zur Schweiz gehörte und – sicher ist sicher – wenn man einen Onkel besaß, der gerne viel reiste, so empfahl es sich, anzugeben, daß Switzerland zu Europa gehörte. Das kleine Lächeln, das des Wachtmeisters Mundwinkel auseinanderzog, konnte das Knechtlein nicht sehen. Aber von diesem Briefe wehte den Wachtmeister eine Ehrlichkeit, eine Redlichkeit an, die wohltat. Wenn ihn sein Gefühl nicht trog, so durfte Studer den Ludwig Farny, Knecht in Amriswil, als Mörder ausschalten. Übrigens, man konnte ja die Probe aufs Exempel machen…

»Ludwig!« rief Studer. Und als der Bursche näher kam, hielt er ihm den Brief unter die Nase. »Hast du das geschrieben?« Das Knechtlein hatte eine merkwürdige Art zu erröten. Zuerst stieg eine Blutwelle seinen Hals hinauf, überflutete Kinn, Backen und Schläfen. Endlich erreichte die Röte auch die Stirne – und nun sah das Gesicht aus wie eines jener sonderbar geformten Schalentiere, die im Meere wimmeln und eine purpurne Farbe annehmen, sobald man sie ins heiße Wasser wirft…

»Ja… ich hab ihm geschrieben… ist etwas dabei?«

»Nein… wo denkst du hin… aber, hat dir dein Onkel geantwortet auf diesen Brief?«

»Deich wou!«

»Zeig mir den Brief!«

Sie hatten alle die gleiche Gewohnheit, die Knechtlein, die wenig Geld besaßen… Sie trugen die Brieftasche nicht, wie andere elegante Herren, in der Busentasche des Kittels, sondern im Futter des Gilets, ganz innen über dem Herzen. Darum dauerte es auch einige Zeit, bis Ludwig Farny seine verschiedenen Kleidungsstücke aufgeknöpft hatte – nun kam die abgegriffene Brieftasche zum Vorschein, die wohl in einem Handel erstanden worden war. – Aus einem ihrer Fächer zog Ludwig die Antwort des Onkels:

Pfründisberg, den 15. November.

Mein lieber Ludwig!

Ich komme erste heute dazu, Deinen Brief zu beantworten. Es wäre gut, wenn Du sogleich Deine Stelle in Amriswil aufgeben und zu mir kommen würdest. Ich brauche Dich. Warum – erkläre ich Dir hier. Ich denke, Du wirst genug Reisegeld haben. Ich erwarte Dich also spätestens am 18. – Du wirst dann bei mir wohnen. Soviel ich gemerkt habe, trachtet man mir nach dem Leben. Zu Dir habe ich Vertrauen.

Mit herzlichen Grüßen

Dein Onkel James.

»Hm!« machte Studer und legte die Briefe nebeneinander auf den Tisch. »Am 16. hat dein Onkel geschrieben. Wann hast Du den Brief bekommen?«

»Der Meister hat ihn mir erst am 17. gegeben, beim z'Mittag. Ich hab' ein paar Sachen mitgenommen und bin losgezogen. Am 17. abends war ich in Bern. Dort habe ich einen Freund. Der hat mir sein Velo gelehnt, und ich bin in der Nacht noch weitergefahren, aber es war doch schon 3 Uhr morgens, als ich in Pfründisberg ankam. Auf der Straße ist mir einer begegnet – wie der Teufel ist er gefahren auf seinem Töff. Einen Augenblick hab' ich gemeint, daß ich ihn kenne, aber dann war's doch nicht der, den ich gemeint habe. 's Huldi hat mir dann aufgemacht, weil ich Steine an ihr Fenster geworfen hab' und dann konnte ich in ihrem Zimmer schlafen. – In allen Ehren…«

»Versteht sich, versteht sich – in allen Ehren!«

»Jetzt meint's Huldi natürlich, ich hätt' den Onkel umgebracht – wahrscheinlich, weil ich angekommen bin, gleich, nachdem es den Schuß gehört hat. Ich bin froh, Herr Studer, daß ich mit Euch hab' reden können.«

»Reden können! Reden können!« brummte Studer. »Glaubst du vielleicht, Ludwig, ich hab dich nicht wieder erkannt? Wann ist's gewesen, daß ich dich eingeliefert hab' in Pfründisberg? Vor drei Jahren, vor zwei Jahren?« Studer hatte die Hände gefaltet und blickte zu Boden. Durch die zersplitterte Scheibe sickerte kalte Luft ins Zimmer. »Sag dem Huldi, es soll heizen kommen und dann bring einen Topf mit Kleister mit, so können wir das Fenster vermachen. Nachher kannst du mir deine Geschichte erzählen.«


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