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1. Ho! Kalifornien!

»Land! – Land!«

Über die blaue, leise wogende See schallte der jubelnde Ruf von der Mastspitze herunter. »Land! Land!« schrie es überall wie ein Echo zurück, aus der Kajüte wie aus dem Zwischendeck heraus, von einem Ende des Decks zum anderen.

Noch dämmerte kaum der Morgen, aber dieser erste lichte Streifen, der den östlichen Horizont erhellte, hatte auch die noch ferne gezackte Küste dem vom Top ausschauenden Steuermann verraten. Schon vor Tag war es ihm während der Wache einmal so gewesen, als hätte er dumpfes Brandungsrauschen vernommen. Deshalb stieg er nach oben, und der dämmernde Morgen zeigte ihm, daß er sich nicht geirrt hatte. Der Jubel über diese frohe Kunde kannte keine Grenzen, und auch der alte Seemann freute sich über die willkommene Abwechslung, wenn auch aus anderem Grund als die Passagiere.

»Gott sei Dank«, murmelte er vor sich hin, als er langsam an der Want des Fockmastes wieder an Deck herunterkam. »jetzt werden wir die verwünschten Landlubbers, das Passagierpack, endlich los. Wie die Kerle grölen, weil sie bald wieder Schlamm treten können! Das weiß ich aber gewiß, das war die letzte Fahrt, die ich mit einem Passagierschiff gemacht habe! Lieber auf einem alten Walfischfänger Blubber (Tran) auskochen, als sich noch einmal mit so einem Gesindel abzuplagen. Hallo – da kommen sie ja alle! Jetzt sieh einer diese blinden Maulwürfe!«

Er lachte grimmig vor sich hin, blieb aber noch in der Want und sah auf das Deck hinunter, wo gerade die Zwischendeckspassagiere aus der Vorderluke heraufdrängten. Für den Seemann mußte es auch ein komischer Anblick sein, wie die verschlafenen Gesichter der Leute, noch nicht recht munter, verdutzt umhersahen. Viele blickten nach oben, als wollten sie einen hohen, ganz nahen Berg betrachten. Die wenigsten von ihnen wußten auch, in welche Himmelsrichtung sie sehen mußten. Als dann aber endlich die glänzende Sonne dem Meer entstieg, ließ sich das schwarz abzeichnende Land nicht mehr verkennen. Leider war die Brise nicht günstig, um die Küste anzulaufen. Die Brigg ›Leontine‹ mußte schräg dazu hinhalten, um dann durch Segelmanöver langsam näher zu kommen. Gegen Mittag frischte der Wind dann etwas auf, und der Bug der ›Leontine‹ konnte sich mehr der Küste zuwenden. Die Brise blieb aber sehr schwach, und das Schiff rückte trotz der ausgeblähten Segel nur langsam von der Stelle.

Den Passagieren durfte man es nicht verdenken, daß sie der Erlösung von dem engen Schiffsleben entgegenjubelten. Die ›Leontine‹, eine deutsche Brigg, hatte seit ihrem Auslaufen aus Hamburg eine fast sechsmonatige Reise hinter sich. Unterbrochen war die Fahrt nur von einem einwöchigen Aufenthalt in Rio de Janeiro und Valparaiso. Das war allerdings nur eine kurze Abwechslung gewesen, und alle befürchteten außerdem, viel zu versäumen. Diese ersten Auswanderer nach Kalifornien, die gerade erst in Deutschland die fabelhaftesten Berichte über die Goldfunde gehört hatten, hatten alle noch den Kopf voll goldener Hoffnungen und Träume. Nach den Gerüchten fand man in den Minen eine Unze Gold täglich. Wenn man diese nur zu zwanzig Talern taxierte, konnte man sich gut ausrechnen, was man mit jeder Woche nutzlosem Warten verlor.

Endlich, endlich war das so heiß ersehnte Ufer am Horizont in Sicht, und die Leute drängten jetzt hastig durcheinander, um so rasch wie möglich ihre Vorbereitungen zum Landen zu treffen. Dabei wollte keiner noch unnötige Zeit versäumen.

Die Passagiere aus der Kajüte und vom Zwischendeck hatten sich bislang ziemlich streng voneinander getrennt gehalten. Der Kapitän des Schiffes erlaubte es auch nie, daß die Zwischendeckspassagiere das Hinterdeck betraten. Natürlich konnte er umgekehrt den Kajütpassagieren nicht verbieten, sich dann und wann unter die weniger begünstigten Passagiere zu mischen. Aber von dieser Möglichkeit hatten sie nur wenig Gebrauch gemacht. Jetzt allerdings wurde durch die Nähe des Landes jede Form aufgehoben. Es war so, als würden die Leute ahnen, daß sie doch bald alle in einen Topf geworfen wurden. Alles drängte jetzt nach vorn zur Back, dem Überbau des Vorkastells am Bugspriet. Von dort wollte man einen möglichst vollen Überblick zur Küste gewinnen.

Wie fast überall auf den Passagierschiffen, so glaubten auch hier die Reisenden, daß sie, kaum daß man Land gesichtet hatte, auch bald aussteigen könnten. Zur Freude der Matrosen putzten sich viele auch bereits für den Landgang heraus, um sich dann am Abend wieder umzuziehen. So standen auch jetzt auf der Back der ›Leontine‹ viele Menschen in den phantastischsten Trachten. Einige hatten nur ein einfaches Hemd übergezogen, einige dünne Jacken, andere dagegen trugen die langen Jacken der Städter oder sogar einen Frack, dazu Stöcke in der Hand und hohe, schwarze Hüte auf den Köpfen. Besonders auffallend unter ihnen war ein Mann, den man an Bord bis dahin kaum bemerkt hatte. Er trug einen erbsgelben, allerdings stark mitgenommenen Mantel, der zahlreiche Kragen verschiedener Breite aufwies. Der Mantel reichte bis auf die Knöchel herunter, wo er ein Paar schwere, mit Nägeln beschlagene Stiefel sichtbar werden ließ. Auf dem Kopf trug die Erscheinung einen schmalrandigen, abgeschabten Hut, in der Hand einen hellgrünen Baumwollregenschirm. Ob unter dein Hut überhaupt ein Kopf steckte, war nicht zu erkennen.

Neben ihm stand ein junger, sehr sorgfältig gekleideter Mann. Er hatte frisch frisierte und geölte Haare, seine Stiefel glänzten hell geputzt. Neugierig betrachtete er mehr seinen Nachbarn als das nahe Land. Es kam ihm sonderbar vor, fast ein halbes Jahr lang mit all diesen Leuten auf dem enggedrängten Schiff zusammen gewesen zu sein und jetzt plötzlich jemand zu entdecken, der ihm völlig fremd war. Hufner, wie der junge Mann hieß, war aber zu schüchtern, um ihn einfach anzusprechen. Doch ein Kaufmann, von dem man erzählte, daß er Hamburg wegen schlechter Geschäfte verlassen mußte, um in Kalifornien bessere zu machen, kannte keine Hemmungen. Er zog den gelben Mantelkragen ungeniert zurück und rief dann erstaunt aus:

»Ballenstedt! Hol's der Henker, Junge, wie siehst du denn aus?«

»Wie soll ich denn aussehen, Herr Lamberg?« sagte der junge Mann sehr ruhig, während seine Nachbarschaft in lautes Lachen ausbrach. »Man darf doch wohl seinen Mantel anziehen?«

»Natürlich darf man«, lachte der Hamburger, der sich selbst noch nicht umgezogen hatte. »Aber wenn du jetzt nicht gerade sehr frierst, hättest du dir deinen gewaltigen Überzug noch sparen können. Oder willst du gleich an Land?«

»Sowie wir anlegen!« war die entschiedene Antwort.

»Und wo ist dein übriges Gepäck?«

»Hier!« antwortete Ballenstedt. Dabei zeigte er ein rotes Baumwolltaschentuch unter dem Mantel, in das er seine Habseligkeiten verpackt hatte. Auch eine Schaufel kam zum Vorschein, die er jedoch schnell wieder unter dem Mantel verbarg, als er die Fröhlichkeit seiner Mitreisenden bemerkte. Aber die hatten doch viel zu sehr mit sich zu tun, um sich weiter noch um den merkwürdigen Menschen zu kümmern. Jetzt sprangen auch die Matrosen nach vorn, um den Anker ›klar‹zumachen, und damit wurde die Unterhaltung völlig unterbrochen. Der Ort mußte geräumt werden, und die Passagiere verstreuten sich wieder über das Deck. Über die Schanzkleidung des Schiffes sahen sie weiter sehnsüchtig zum Land hinüber.

Auffallend unter ihnen war auch ein älterer Herr, der schon für den Landgang völlig gerüstet war. Eine lange Pfeife im Mund, die rechte Hand auf dem Rücken, ging er ernst auf und ab. Dabei summte er ständig eine Melodie völlig falsch vor sich hin.

»Na, Justizrat, sind Sie auch schon fertig?« redete ihn da ein kleiner Mann in einem grauen Rock an. Er saß auf der Nagelbank des Fockmastes und hatte den Justizrat schon eine Weile lächelnd beobachtet. Er war Apotheker aus Hannover, ein drolliger, aber netter Mensch.

»Ich? – Ja!« sagte der Justizrat und drehte sich rasch um. »Habe das verwünschte Schiffsleben satt – machen, daß ich an Land komme – daran gedenken – hol's der Teufel!«

Der Mann sprach außerordentlich schnell, mußte aber noch rascher denken, denn er verschluckte immer die Hälfte seiner Worte. Die andere Hälfte polterte er so barsch heraus, daß es sich ständig anhörte, als würde er mit allen nur schimpfen. Ohlers, der Apotheker, kannte ihn aber schon und war auch nicht der Mann, sich leicht einschüchtern zu lassen. »Der Herr Justizrat scheint mit der Behandlung nicht ganz zufrieden zu sein!« sagte er und lachte leise.

»Hundeleben!« bezeichnete der Justizrat kurz seine augenblickliche Situation. »Wollen's Kapitän aber schon anstreichen – Kriminalprozeß!«

»Na, herzlichen Glückwunsch! Der arme Kapitän!« sagte Ohlers.

»Ach, Justizrat, auch schon gestiefelt und gespornt?« näselte in diesem Augenblick ein langer junger Mann, ein Kajütpassagier. Es hieß, daß seine Eltern ihn zu ihrem eigenen Besten nach Kalifornien geschickt hatten, um ihn in Hamburg loszuwerden. Er hatte die Hände in den Taschen vergraben und lehnte sich jetzt an einen Hühnerkasten auf Deck, als ob er seinen Beinen das Gewicht seines dürren Körpers nicht weiter anvertrauen wollte.

»Jawohl, Herr Binderhof!« brummte der Angeredete, stieß eine dicke Tabakswolke aus und sah den Kajütpassagier nur über die Schulter an. »Ihnen besser gefällt – können hierbleiben!«

»Danke Ihnen, Justizrat«, lachte der Lange. »Es sei denn, Sie schenken mir weiter Ihre Gesellschaft!«

»Unausstehlicher Mensch!« brummte der Justizrat in den Bart, qualmte noch stärker als vorher und lief auf die andere Seite des Decks.

»Verrückter Kerl«, entgegnete der Lange. »Was erzählte er Ihnen denn eben, Ohlers?«

»Oh, bloß von Ihnen, Herr Binderhof«, sagte der Apotheker.

»Von mir?«

»Ja, Herr Binderhof, er erzählte mir, wie glücklich Ihre Eltern waren, daß Sie unbedingt nach Kalifornien wollten!«

»Holzkopf!« brummte Binderhof, verließ den Hühnerkasten und schlenderte ärgerlich zur Kajüte zurück. Ohlers sah ihm amüsiert hinterher, als Herr Hufner an ihm vorüberkam. Die Gelegenheit war zu verlockend, um nicht ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen.

»Herr Hufner, Herr Hufner, Sie scheinen auf bösen Wegen zu sein!« drohte er ihm lächelnd mit dem Finger.

»Ich? Aber Herr Ohlers, ich wüßte nicht, weshalb? Ist etwas passiert?« rief der junge Mann bestürzt ans.

»Noch nicht!« sagte Ohlers ernst. »Aber Sie haben sich so herausgeputzt, als ob Sie in San Francisco auf Eroberung ausgehen wollen, und dabei sitzt Ihre Verlobte zu Hause und weint Ihnen nach!«

»Wirklich nicht, da tun Sie mir aber unrecht, Herr Ohlers!« rief Hufner und errötete dabei tatsächlich.

»Na, na, ich hätte größte Lust, Ihrer armen Verlobten mit der nächsten Post ein paar Zeilen zu schicken und sie zu warnen!«

»Um Gottes willen, machen Sie keine Witze!« rief Hufner erschrocken. »Sie haben keine Ahnung, wie eifersüchtig sie ist, und sie würde den Spaß sofort ernst nehmen! Glücklicherweise hat ja unsere Trennung nun die längste Zeit gedauert!«

»Was? Wollen Sie gleich wieder umkehren?« rief Ohlers erstaunt.

»Nein, das nicht«, sagte Hufner vergnügt. »Aber es ist abgemacht, daß sie mir in drei Monaten, von meiner Abreise gerechnet, nachkommen soll. Sie kann also schon jetzt in Rio de Janeiro sein.«

»Aber was um Gottes willen wollen Sie mit Ihrer Verlobten hier in Kalifornien machen?« Ohlers schüttelte den Kopf. »Sie wissen ja selbst noch nicht einmal, was aus Ihnen wird! Hat sie denn Geld?«

»Meine Verlobte? Nein, aber da drüben liegt doch Kalifornien!« antwortete Hufner und lächelte vergnügt.

»Sooo?« sagte Ohlers gedehnt. »Und das ist alles?«

»Na, ist das nicht genug?« lächelte Hufner zuversichtlich. »Ich habe volle drei Monate Zeit, mir ein Vermögen zu erwerben. Als Kaufmannsgehilfe kann ich da natürlich nicht arbeiten, selbst wenn ich drei- bis viertausend Dollar Gehalt bekäme. Für drei Monate wären das nur höchstens tausend Dollar, und damit kann man noch nicht viel beginnen. Aber ich gehe jetzt in die Minen. Eine Unze Gold ist mir täglich sicher. Drei Monate, den Monat nur zu siebenundzwanzig Arbeitstagen gerechnet, liefern doch immerhin ein kleines Kapital von wenigstens 1620 Talern. Dabei habe ich einige glückliche Tage, die gar nicht ausbleiben können, noch nicht gerechnet. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, daß Goldwäscher an manchen Tagen fünf- bis sechshundert Dollar gefunden haben.«

»Und nur auf solche Meldungen hin lassen Sie Ihre Verlobte nachkommen?«

»Wieso nicht?« wiederholte Hufner erstaunt. »Als ob das nicht Sicherheit genug wäre! Fragen Sie einmal Frau Siebert, oder lassen Sie sich einmal die Briefe zeigen, die ihr Mann aus San Francisco geschrieben hat! In drei Tagen haben zwei Mann aus einer alten Schlucht für viertausend Dollar blankes Gold herausgegraben. In drei Tagen, sage ich Ihnen!«

»Da haben die beiden allerdings ein gutes Geschäft gemacht!« meinte Ohlers. »Wie viele mögen aber da oben in den Bergen hocken und hacken und schaufeln, ohne mehr zu finden, als sie täglich für das Leben brauchen? Und wie teuer wird da oben der Proviant inzwischen sein? Nein, Hufner, wo ein Viergroschenbrot fünf spanische Dollar kostet, hört die Gemütlichkeit auf.«

»Aber weshalb sind Sie denn nach Kalifornien gegangen?« Hufner sah Ohlers lächelnd an. Er war sich sicher, daß er ihn nun gefangen hatte.

»Also wirklich nicht, um da oben in den alten, faulen Bergen nach Gold zu buddeln!« rief aber der Apotheker. »Kranke Menschen wird es genug in San Francisco geben. Leichtsinniges Gesindel, das sich in den Minen so lange herumgetrieben hat, bis es die Knochen nicht mehr regen kann. Die fallen mir nachher in die Hände, und daß ich die auspressen will, bis sie auch kein Korn Gold mehr hergeben, darauf können Sie sich verlassen!«

Ihr Gespräch wurde hier unterbrochen, weil zwei andere Personen den Gang heraufkamen. Sie gingen an die Larbord-Schanzkleidung und sahen zum Land hinüber. Es handelte sich dabei um die gerade erwähnte Frau Siebert und den Assessor Möhler, den gefälligsten, bescheidensten, aber auch wunderlichsten Menschen unter der Sonne.

Siebert, ein leichtsinniger Abenteurer, war nach Amerika gegangen, um sein Glück zu suchen. Frau und Kinder hatte er in Deutschland zurückgelassen und jahrelang nichts von sich hören lassen. Aber fast noch mit der ersten Kunde von Goldfunden in Kalifornien traf auch ein Brief von ihm ein. Siebert war mit anderen Deutschen bei einem Trupp Freiwilliger, die von den Vereinigten Staaten nach Kalifornien geschickt wurden. Sie sollten von dem Land Besitz ergreifen. Die bunt zusammengewürfelte Schar der Abenteurer hielt zunächst gut zusammen und besetzte ein entsprechendes Gebiet, in dem sie sich aufhielten. Kaum drang aber die Kunde der neuentdeckten Goldminen zu ihnen, als sie auch schon fast alle desertierten, um selbst nach Gold zu graben.

Es war eigentümlich, aber diesen Leuten fielen gleich zu Beginn die reichsten Stellen zu. Einige von ihnen gruben in wenigen Tagen den Goldwert von Tausenden von Dollars aus den Bergschluchten. Zu ihnen gehörte auch Siebert, der trotz seines wilden Lebens ein gutes Herz hatte und jetzt sofort an seine Familie schrieb. Seine Beschreibung der kalifornischen Schätze lief sofort durch die Nachbarschaft und verleitete viele, die Heimat zu verlassen und ebenfalls nach den Schätzen zu suchen. Niemand war glücklicher als Frau Siebert, die von Haus zu Haus lief und den Brief ihres Mannes vorzeigte. Wie sie dabei beneidet wurde, läßt sich denken. Sie verlor aber auch keine Zeit, um sich für die Reise zu rüsten. Das Geld für die Überfahrt hatte ihr Mann nach Hamburg überwiesen. Das erste Schiff, das nach San Francisco ging, nahm sie und ihre Kinder an Bord.

Unterwegs wurde die Frau, die so lange Zeit ärmlich gelebt hatte, mit besonderer Ehrfurcht behandelt. Ging sie doch in Kalifornien keiner unsicheren Zukunft entgegen, und ihr Mann gehörte zu den wenigen Glücklichen, die gleich zu Anfang die Schätze des Landes ausbeuten konnten. Sie hatten den Rahm abgeschöpft, und die Frau traf jetzt nur noch dort ein, um die Früchte der leichten Arbeit zu genießen. Sicherlich kannte ihr Mann die besten und reichsten Stellen in den Bergen und konnte allen die beste Anleitung geben – wenn er nur wollte. Jedermann behandelte deshalb seine Frau besonders achtungsvoll und tat alles mögliche, um ihr nur zu gefallen. Vielleicht legte sie dann bei ihrem Mann ein gutes Wort ein!

Dieses ehrfurchtsvolle Benehmen der Leute an Bord verwöhnte sie aber. Nach dem Brief ihres Mannes mußte sie sich für eine reiche Frau halten. Das bislang unbekannte Gefühl, jemanden fördern zu können, kam dazu. So schüchtern sie an Bord gegangen war, so zuversichtlich wurde sie nach und nach, und ihre Einbildungskraft half ihr dabei, sich das Leben in Kalifornien in den glühendsten, lebendigsten Farben auszumalen.

Assessor Möhler war ganz das Gegenteil von ihr. Er hatte bereits das 50. Lebensjahr erreicht, sprach aber nie über seine früheren Verhältnisse. Einige an Bord schienen ihn aber von früher her zu kennen, und so erfuhren auch die anderen bald, daß er doch in ganz guten Verhältnissen in Deutschland gelebt hatte. Es waren seine beiden verheirateten Töchter, die ihn nach Kalifornien getrieben hatten. Alles hatte er für seine Kinder getan, mußte aber doch bald erkennen, daß er ihnen überall im Wege stand. Seine Kinder zeigten ihm das auch ständig, und der gutmütige Mann suchte die Schuld für das schlechte Verhältnis zu ihnen nur bei sich selbst. Allen Mitreisenden gegenüber war er liebenswürdig und gefällig, trotz häufiger Neckereien. Kein Messer wurde an Bord geschliffen, zu dem er nicht den Stein drehte, kein Knopf angenäht, den er nicht aus einem großen Vorrat zusammen mit Nadel und Faden lieferte. Sein Kochgeschirr wanderte von Hand zu Hand. Oft kam es verbeult und beschädigt zurück, und er schwor sich, nichts mehr auszuleihen. Doch dieser Vorsatz hielt nie länger als bis zur erneuten Bitte eines Reisegefährten – denn eine Bitte konnte er nun einmal nicht abschlagen.

Schon in Deutschland hatte er sich sehr gern mit kleinen Kindern beschäftigt. Die einzigen, die er an Bord vorfand, gehörten Frau Siebert. Die kleinen Wesen merkten schnell, wie freundlich er zu ihnen war. Wo er sich aufhielt, hingen sie sich an ihn, und er wurde es nicht müde, sich mit ihnen zu beschäftigen, sie zu säubern und sogar umzuziehen. Eine Menge Spiele kannte er und fertigte Bilder an, schnitt ihnen Figuren und Häuser aus Papier aus und war mit einem Wort der gute Geist der drei Kinder an Bord. Frau Siebert hatte zunächst sehr dankbar auf seine Bemühungen reagiert. Nach und nach überließ sie aber die ganze Kinderarbeit dem Assessor und kümmerte sich dafür um seine Wäsche. Von Rio ab aber fand sie, daß eigentlich alles selbstverständlich war, und als der Assessor wieder einmal den Wäschkübel hervorholte, tat sie so, als würde sie es nicht bemerken.

Von da an war der Assessor seine eigene Waschfrau, kümmerte sich aber nach wie vor um die Kinder. Frau Siebert bedankte sich nicht mehr bei ihm, hatte sich aber vorgenommen, daß ihr Mann ihm dafür eine gute Stelle nennen müßte. Das versprach sie dem Assessor auch von sich aus, und der gutmütige, einfache Mann freute sich aufrichtig. Kalifornien kam ihm jetzt nicht mehr so fremd und öde vor, er würde ja dort einen Freund vorfinden, der ihn mit Rat und Tat unterstützen könnte. Mit diesen Gefühlen sah er, das jüngste Kind der Sieberts auf dem Arm, zum Land hinüber. Er zeigte dem dreijährigen Jungen die Berge, hinter denen sein Vater wohnte.

»Die Frau ist versorgt«, sagte jetzt Herr Hufner mit unterdrückter Stimme zum Apotheker, »der Mann hat ein Heidenglück gehabt!«

»Wer? Der Assessor?«

»Pst, nicht so laut! Nein, ich meine Siebert. Ich weiß nicht, wieviel tausend Dollar er mit seinen Kameraden regelrecht aus der Erde geschaufelt hat. Aber solche Stellen gibt es noch mehr, und die Matrosen kennen ein gutes Sprichwort: ›Es sind noch so viele gute Fische im Meer, wie sie herauskommen!‹«

»Ja, ich kenne da auch ein gutes«, sagte Ohlers, »nämlich: ›Schuster, bleib bei deinem Leisten!‹«

»Wieso?« erkundigte sich Ohlers erstaunt.

»Ach, ich meine nur. Ich bin aber sicher, daß die, die jetzt noch am liebsten mit der Schaufel und der Spitzhacke spazierengehen, bald merken werden, daß das keine sehr angenehme Unterhaltung ist, die sie sich ausgesucht haben. Aber – der Geschmack ist verschieden. Wenn ich mich nicht irre, kommt da unser verrückter Amerikaner angeschlichen. Bin neugierig, was der eigentlich in Kalifornien verloren hat und was er da mit seiner Frau will!«

Der Passagier, von dem er sprach, war ein noch junger, schlanker und blasser Mann. Er war Amerikaner und wurde auf dem Schiff aufgrund seines merkwürdigen Verhaltens nur kurz ›der Verrückte‹ genannt. Schiffspassagiere sind sehr schnell mit solchen Beinamen zur Hand. Er war erst in Valparaiso mit seiner jungen, sehr liebenswürdigen Frau an Bord gekommen. Er konnte tagelang auf dem Quarterdeck sitzen, ohne ein Wort mit jemand zu reden. Dabei starrte er nur auf das Meer hinaus, in die Richtung, in der er Kalifornien vermutete. Die Zwischendeckspassagiere vermuteten, daß er sich nur einen Platz im Wasser aussuchte, wo er demnächst hineinspringen wollte.

Während der ersten Tage war er auf dem Schiff umhergewandert und musterte die Reisenden genau. Er sah sie starr und aufmerksam an, ohne einen anzusprechen. Fast schien es so, als suchte er jemand unter ihnen. Am ersten Tag hatte er sich auch die Passagierliste geben lassen und aufmerksam durchgesehen. Ob er aber einen Bekannten zu finden hoffte oder sich davor fürchtete, wußte niemand. So war es verständlich, daß sich die Passagiere über sein merkwürdiges Verhalten die merkwürdigsten Geschichten erzählten. Aber er hielt sich still zurück, und endlich wurde man es auch leid, sich mit ihm zu beschäftigen. Er wurde kurzerhand mit seinem Beinamen abgefertigt.

Seine Frau war kaum achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Wenn sie an Deck erschien, wich sie nie von seiner Seite. Er war ihr gegenüber stets zärtlich und sehr aufmerksam, ja, er konnte dann sogar heiter sein. Nur wenn sie ihn verließ, kam wieder der düstere, unheimliche Geist über ihn. Aber heute schien selbst ihre Gegenwart den sonst beruhigenden Einfluß auf ihn verloren zu haben. Mit dem Land in Sicht überkam ihn eine seltsame Unruhe. Immer wieder lief er über das ganze Deck bis zum Bugspriet, starrte zur Küste hinüber, als ob er damit ihre Ankunft dort beschleunigen könnte, und kehrte dann wieder auf das Quarterdeck zurück.

Ein weiterer Kajütpassagier befand sich noch an Bord. Es war ein alter Arzt, der nur ›der Doktor‹ genannt wurde. Er hatte die Nachbarkabine des Amerikaners und war der einzige, mit dem er sich einmal unterhielt. Dann klagte er über Schmerzen im Kopf und über Beklemmungen in der Brust und ließ sich von dem Arzt leichte Medikamente verschreiben. Er nahm sie zwar gehorsam ein, aber das Übel besserte sich nicht. Doktor Rascher bemerkte bald, daß es sich um eine Gemütskrankheit handelte, die tiefere Ursachen hatte. Alle Anspielungen darauf blieben jedoch erfolglos. Der Patient leugnete hartnäckig, irgend etwas in dieser Richtung zu kennen, und wich jeder Andeutung aus. Er schien entschlossen, den fremden Arzt nicht ins Vertrauen zu ziehen, und der konnte deshalb seinen Zustand auch nicht bessern.

Hetson, der Amerikaner, hatte wieder eine Weile über Bord gesehen, während Ohlers ihn schweigend und kopfschüttelnd beobachtete. Endlich richtete er sich auf, hob gegen Süden, von wo aus sie gekommen waren, seine Faust drohend und murmelte einige englische Worte. die weder der Apotheker noch Hufner verstanden. Dann drehte er sich wieder um, um auf das Quarterdeck zu gehen. Die nebenstehenden Zwischendeckspassagiere würdigte er mit keinem Blick.

»Ob sie wohl Irrenhäuser in San Francisco haben?« sagte Ohlers, der ihm nachsah. »Es ist vielleicht keine schlechte Spekulation, ein großzügiges Institut da drüben anzulegen. Eigentlich und genau genommen ist schon die Hälfte von denen, die jetzt hinüberfahren, schon halb verrückt. Daß es bei den meisten dort drüben zum Ausbruch kommt, ist fast sicher. Ich muß mir die Sache noch einmal gründlich überlegen.«

Hetson ging inzwischen auf dem Quarterdeck auf und ab. Seine Frau ging zu ihm und legte ihren Arm in seinen, und das schien ihn zu beruhigen. Jedenfalls verließ er jetzt das Deck und ging in seine Kajüte hinunter.

Mittag rückte heran, und der Kapitän hatte sich mit dem Steuermann auf dem Deck eingefunden. Sie trugen ihre Geräte, um die Schiffsposition zu bestimmen. Leider versteckte sich aber die Sonne gerade gegen zwölf Uhr. Wenn auch die Seeleute versuchten, wenigstens einen Schein von ihr zu bekommen, blieb es doch vergebliche Mühe. Auf offener See hat das nicht viel zu sagen, das Schiff hält seinen Kurs, und ein heller Tag gleicht alles wieder aus. Hier aber, dicht vor einer fremden Küste, deren Landmarken keiner von ihnen kannte, war eine Sonnenobservation wichtig. Nur so konnten sie die genaue Breite bestimmen. Bei der günstiger wehenden Brise trieben sie jetzt aber auch dem Land immer näher. Sie hofften darauf, ein anderes Schiff zu treffen, das ihnen die unbekannte Einfahrt in die Bucht von San Francisco zeigen konnte.

Mehr und mehr traten jetzt auch die schroffen, felsigen und vollkommen kahlen Küstenberge des Festlandes hervor. Deutlich konnten sie in ihrer Nähe einige Segel erkennen. Aber dadurch ließ sich nicht erkennen, wo die Einfahrt lag. denn einige fuhren südlich, andere nach Norden hinauf. Andere änderten ihren Kurs völlig und fielen vor der Küste wieder ab. Es war klar, daß diese Schiffe die Einfahrt ebensowenig kannten wie sie selbst.

So mußte die ›Leontine‹ ihren Kurs wieder ändern, um den Uferklippen nicht zu nahe zu kommen. Die Passagiere wußten allerdings nicht, was sie davon halten sollten. Auf offener See waren sie gezwungen, die Führung des Schiffes dem Kapitän zu überlassen. Sie hatten keinen Anhaltspunkt, wo sie sich befanden, und dafür waren ja die Seeleute auch zuständig. Hier aber wurde das ganz anders. Hier sahen sie das Land hell und klar mit all seinen Einschnitten und Kuppen, seinen Bergen und Tälern liegen. Daß der Kapitän da nicht geradezu drauflosfuhr und Anker warf, kam ihnen unverantwortlich vor. Man betrog sie um weitere kostbare Stunden! Die Gefahr, die ihnen vor einer fremden Küste bei plötzlich auftretendem Sturm drohte, kannten sie nicht.

Mr. Hetson war ebenfalls wieder an Deck gekommen. Der Anblick der fremden Schiffe schien ihn erneut aufzuregen. Er lief zu dem Kapitän und verlangte von ihm zu erfahren, was das für Fahrzeuge wären und wo sie herkämen. Da jedoch keines beflaggt war, ließ sich das nicht bestimmen. Nur die Stellung ihrer Segel konnte Vermutungen darüber erlauben, ob es sich um Engländer, Franzosen oder Deutsche handelte.

Die Sonne neigte sich zum Horizont, und die ›Leontine‹ braßte ihre Segel um und hielt von der Küste ab, anstatt ihren Anker auszuwerfen. Die Passagiere, die sich für den Landgang vorbereitet hatten, waren erbost. Erst mit Dunkelheit war der junge Amerikaner in seine Kajüte gegangen. Auch die meisten anderen Passagiere gingen trotz des wunderbar warmen Abends in die Hauptkajüte, um mit Kartenspielen und einer Bowle den ›hoffentlich letzten‹ Abend an Bord zu feiern. Nur der Doktor ging mit dem Steuermann eine Weile auf dem Deck auf und ab. Als der Seemann nach vorn mußte, blieb der Doktor allein stehen, lehnte sich über das Deck hinaus und sah nach dem Steuerruder hinunter, das in der leicht bewegten See einen Feuerstrudel zog und in tausend Funken blitzte und glitzerte.

»Doktor!« flüsterte da eine leise, ängstliche Stimme an seiner Seite.

Rasch fuhr er empor, denn an der Stimme hatte er Mrs. Hetson erkannt.

Die junge Dame stand in ihren Schal gehüllt neben ihm.

»Mrs. Hetson? Was treibt Sie denn in der feuchten Nachtluft allein an Deck? Wo ist Ihr Mann?«

»Er schläft, Doktor«, antwortete die Frau. sichtlich erregt. »Ich habe den Augenblick genutzt, um Sie einmal allein zu sprechen. Ich fürchte, daß wir später an Land dazu keine Gelegenheit mehr haben werden. Ich... ich weiß nur nicht, ob Sie die Geduld haben, mir eine Viertelstunde zuzuhören.«

»Aber Mrs. Hetson, selbst wenn ich kein Arzt wäre, wäre dieser Zweifel ungerecht. Sie wollen mit mir über Ihren Mann sprechen?«

»Ja«, sagte die junge Frau leise und sah sich um, ob auch niemand in der Nähe wäre. Nur der steuernde Matrose lehnte an den Speichen des Rades, konnte aber von der mit unterdrückter Stimme und in englischer Sprache geführten Unterhaltung nichts verstehen. Der Steuermann war wieder auf das Quarterdeck gekommen und stand an einer Treppe zum Mitteldeck, um den Gang des Schiffes zu beobachten.

»Ich dachte es mir«, sagte der Arzt, »und habe mir lange gewünscht, daß Sie oder er offen zu mir wären. Ich hätte Ihnen dann vielleicht Hoffnung auf seine Heilung geben können. Sein Leiden scheint mir tief und schwer zu sein. So leicht man aber äußere Krankheiten nach ihrem Erscheinungsbild beurteilen kann, so schwer sind die Seelenleiden eines Patienten herauszufinden, wenn er dem Arzt dabei nicht hilft. Und ein seelisches Leiden ist es mit Sicherheit, unter dem Ihr Mann leidet.«

»Sie haben recht«, antwortete sie leise. »Ich habe ihn schon oft gebeten, mit Ihnen zu sprechen. Er hat mir sogar streng verboten, mit jemand überhaupt darüber zu sprechen. Aber ich fühle, daß ich nur zu seinem Besten handele, wenn ich mich darüber hinwegsetze. Ich muß auch meinethalben reden, wenn mich nicht die Sorge um ihn schließlich aufreiben soll.«

»Fassen Sie sich«, bat der alte Mann die erregte Frau und zeigte zu dem aufmerksam gewordenen Matrosen hinüber. »Die Leute verstehen fast alle etwas Englisch, und wir brauchen keinen weiteren Zeugen.«

»Ja, das ist richtig«, sagte die junge Frau jetzt völlig ruhig und gesammelt. »Seien Sie mir bitte nicht böse, wenn ich etwas weiter aushole. Ich will mich dabei so kurz wie möglich fassen.«

»Gut, kommen Sie hier herüber zur Schanzkleidung. Auf die See hinausgesprochen, verhallen die Worte, und niemand an Deck kann hören, über was wir sprechen.«

Die Frau trat zu ihm, lehnte sich mit ihrem Arm auf das breite Holz und sagte dann ruhig: »Ich will Ihnen alles ersparen, was mich selbst betrifft. Nur soviel müssen Sie aber wissen, daß ich vor etwa zwei Jahren mit einem Landsmann von mir, einem Engländer, in meiner Heimat verlobt wurde und ihn auch liebte. Er war Seemann und wollte nur noch eine Reise nach Ostindien machen, nach seiner Rückkehr wollten wir heiraten. Wenige Tage später traf die Schreckensnachricht bei uns ein. Sein Schiff war gleich beim Auslaufen aus der Themse auf den Goodwin Sands verunglückt und mit der gesamten Mannschaft untergegangen. Nur ein einziger Matrose sei wie durch ein Wunder gerettet worden und wieder an die englische Küste gebracht. Mich warf der Schmerz um, und lange Zeit lag ich krank im Bett. Mein Vater nahm mich deshalb um so lieber mit, als man ihm eine amtliche Sendung nach Buenos Aires anbot. Luft- und Ortsveränderung sollten mich von meinem Kummer heilen. Wir reisten ab, und schon unterwegs erholte ich mich völlig. Unser Aufenthalt in der Argentinischen Republik dauerte nicht lange. Die politischen Verhältnisse in dem unruhigen Land zwangen meinen Vater, dem allmächtigen Diktator Rosas aus dem Weg zu gehen. Wir schifften uns nach Chile ein, und in Valparaiso lernte ich meinen jetzigen Mann, Mr. Hetson, kennen. Er hatte meinem Vater in aufopfernder Weise viele Dienste erwiesen. Dabei lernten wir ihn als einen aufrichtigen und edlen Mann kennen und gewannen ihn lieb. Als er mich bat, ihn zu heiraten, willigte ich ein. Er war unendlich glücklich und trägt mich bis heute auf den Händen. Unser Hochzeitstag kam heran. Wir sollten im Hause des amerikanischen Konsuls getraut werden und waren gerade im Begriff, dorthin zu fahren. Da trafen mehrere Depeschen für meinen Vater aus Europa ein, die er natürlich bis nach dem Schluß der feierlichen Handlung liegenließ.«

Mrs. Hetson schwieg einen Augenblick, als ob sie erst Kräfte sammeln müsse, um die Erinnerung an diese Zeit noch einmal durchzustehen. Als sie der Arzt aber mit keinem Wort unterbrach, fuhr sie endlich nach kurzer Pause langsam fort.

»Als wir nach Haus zurückkehrten, wo meine Eltern ein kleines Fest für uns arrangiert hatten, fand ich auch einen Brief für mich vor. Schon beim Anblick der Aufschrift durchlief mich ein Zittern. Ich will Sie aber nicht ermüden, sondern Ihnen einfach die Tatsachen mitteilen. Der Brief war von Charles...«

»Von wem?«

»Von meinem früheren Verlobten«, flüsterte die Frau. »Nach dem Schiffbruch seines eigenen Fahrzeugs wurde er von einem amerikanischen Schoner gerettet. In der Nacht und am nächsten Tag tobte ein Nordoststurm und hinderte das Schiff daran, an Land zu setzen. So ließen sie Europa hinter sich, und Charles war gezwungen, die Reise nach Brasilien mitzumachen. Da aber warf ihn ein starkes Fieber monatelang auf das Krankenlager. Schon bewußtlos brachte man ihn an Land und in das Spital. Als er wieder zu sich kam und an uns nach England schrieb, erhielt er von dort keine Antwort mehr. Wir waren abgereist und hatten sogar eine volle Woche in derselben Stadt, Rio de Janeiro, zugebracht, ohne etwas von ihm zu wissen. Sowie er sich aber wieder erholt hatte, reiste er nach England, erfuhr unseren Aufenthaltsort und schrieb uns nach Buenos Aires. Aber auch der Brief verfehlte uns, da wir inzwischen nach Valparaiso verzogen waren. Als er endlich unseren neuen Wohnort erfahren hatte, schrieb er von England erneut, schrieb von seinen Erlebnissen und seiner Liebe zu mir und daß er dem Brief auf dem Fuß folgen würde.«

»Weiß Ihr Mann von diesem Brief?« erkundigte sich der Arzt.

»Ja«, antwortete die Frau. »Ich war schließlich verheiratet und fühlte, daß ich kein derartiges Geheimnis vor ihm haben dürfte, wenn nicht unser ganzes künftiges Glück gefährdet sein sollte. Eine Verbindung mit Charles war ja völlig unmöglich geworden, und ich hoffte, daß mein Mann mir genug vertrauen würde, meinen Versicherungen zu glauben. An diesem Abend konnte ich allerdings den Mut dazu noch nicht aufbringen. Aber am nächsten Morgen erzählte ich ihm alles, zeigte ihm den Brief und versicherte ihm, daß ich zwar Charles früher geliebt hätte, jetzt aber entschlossen wäre, jede Verbindung mit ihm abzubrechen. Das nächste Postschiff sollte meinen Brief an ihn mitnehmen, in dem ich ihm das Geschehene auseinandersetzte und ihn bat, sich mit der unabänderlichen Situation abzufinden.«

»Und wie nahm Ihr Mann das Geständnis auf?« fragte der Arzt leise.

»Am Anfang so ruhig und vernünftig, wie ich nur hoffen und erwarten konnte«, erwiderte die Frau. »Er dankte mir herzlich für das Vertrauen und bedauerte den Unglücklichen, der durch eine Verkettung solcher Unglücksfälle um mich gebracht wurde. Er bat mich auch, ihm so rasch wie möglich zu schreiben, denn nur wenn er alles wußte, konnte er auch verstehen, wie es dazu gekommen war. Ich schrieb also den Brief, den ich meinem Mann zu lesen gab. Er war vollkommen damit einverstanden, und die nächste Post nahm ihn nach England mit. Von diesem Tag an wurde mein Mann unruhig. Immer wieder las er Charles' Brief, in dem ja stand, daß er keine Antwort erwarte, sondern gleich selbst kommen würde. Vergeblich versicherte ich ihm, daß ich Charles nicht sehen wollte, selbst wenn er nach Valparaiso käme. Ich war fest überzeugt, daß er sofort zurückreisen würde, wenn er erführe, was inzwischen geschehen war. Es blieb alles umsonst. Tag und Nacht ließ es ihm keine Ruhe. Der Gedanke, daß Charles kommen und mich zurückfordern würde – so unwahrscheinlich das war –, setzte sich immer fester in ihn. In einem Ausbruch der Verzweiflung bat er mich schließlich, mit ihm in ein anderes Land zu fliehen. Er sei nicht mehr imstande, diese aufreibende Angst zu ertragen. Ich willigte ein. Meinem Vater hatte ich alles berichtet. Er redete mir selbst zu, den Wunsch meines Mannes zu erfüllen. Da legte gerade Ihr Schiff, das nach San Francisco weitergehen sollte, an. Mein Mann entschloß sich, diese Gelegenheit sofort zu nutzen. Unsere Vorbereitungen waren schnell getroffen. Allerdings sah ich nicht ein, weshalb sie mein Mann so heimlich betrieb. Da gestand er mir, daß er fürchte, daß mein früherer Verlobter uns auch nach Kalifornien folgen würde. Er habe deshalb beschlossen, ihn von unserer Fährte abzubringen. Im Hafen lag nämlich noch ein anderes Schiff, das nach Australien gehen sollte. Es blieb ein Brief für Charles zurück mit der Meldung, daß wir uns nach Neuholland eingeschifft hätten.

Vergeblich bat ich meinen Mann, doch bei der Wahrheit zu bleiben und sich fest darauf zu verlassen, daß Charles unsere Ruhe nicht stören würde. Schon diese Bitte weckte sein Mißtrauen, seine Eifersucht. Er begann zu glauben, daß mir daran läge, ein Zeichen zu hinterlassen, und überwachte jeden meiner Schritte, solange wir uns noch an Land befanden. Meine Eltern beschwor er bei allem, was ihnen heilig sei, Charles nicht unseren wirklichen Aufenthaltsort zu verraten. Dabei befand er sich ständig in einer furchtbaren Erregung. Ich sehnte den Tag herbei, an dem wir endlich Chile verlassen konnten. Ich hoffte, daß sich seine Unruhe legen würde, wenn wir erst einmal an Bord waren.«

»Aber das hat sich nicht erfüllt?« sagte teilnahmsvoll der Arzt.

»Nein, im Gegenteil, seit wir das Land in Sicht haben, ist es noch stärker wieder ausgebrochen. Schon in den ersten Tagen unserer Reise hatte er die fixe Idee, daß sich Charles heimlich mit an Bord geschlichen habe. Erst als er sich fest vom Gegenteil überzeugt hatte, wurde er ruhiger. Jetzt, mit dem Land vor uns und den vielen fremden Schiffen, scheint die alte Angst noch stärker zurückzukommen. Auf jedem Fahrzeug, das den Eingang zur San-Francisco-Bai sucht, fürchtet er den Mann, den er für seinen Nebenbuhler hält. Er zittert sogar schon vor dem Betreten des fremden Bodens, weil Charles vielleicht schon eher dasein könnte. Ich bin über seinen Zustand, der schon an Wahnsinn grenzt, verzweifelt. Deshalb drängte es mich auch, einmal mein Herz jemand ausschütten zu können. Wem hätte ich besser vertrauen können als gerade Ihnen?«

»Ihr Vertrauen soll auch nicht enttäuscht werden, verehrte Frau«, sagte der alte Mann gerührt. »Aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen da beistehen kann. Ihr Mann hat diese unglückliche, fixe Idee, und da ist mit äußeren Mitteln nichts zu bessern.«

»Wenn man ihm nur die Nachricht bringen könnte, daß Charles wirklich nach Australien gegangen ist!«

»Um Gottes willen, nicht!« rief der Arzt schnell. »Dann hätte er doch erst die Gewißheit, daß er Sie wirklich verfolgt, und findet nie wieder im Leben Ruhe. Wie ich hörte, kommen von Australien auch sehr oft Schiffe nach San Francisco, und jedes würde seiner Unruhe neue Nahrung geben.«

»Aber was soll, was kann ich tun? Wie soll das enden, wenn diese fixe Idee mehr und mehr überhandnimmt? Schon jetzt hält sein Körper diese ständige Aufregung kaum durch.«

»Vor allen Dingen sollten Sie weiterhin aufrichtig zu Ihrem Mann sein. Der geringste Widerspruch, den er findet, würde sein Leiden nur noch verschlimmern. Geben Sie ihm keinen Anlaß zum Verdacht, und hört er auch nichts mehr von dem vermeintlichen Nebenbuhler, so ist die Zeit sein bester Arzt und wird ihn bald wieder vollkommen herstellen.«

»Aber wenn nicht?« fragte die Frau und faltete ängstlich ihre Hände. »Wenn in dem fremden Land die entsetzlichen Träume stärker und stärker werden?«

»Vertrauen Sie auf Gott«, unterbrach sie ernst der alte Mann. »Bedenken Sie vor allen Dingen, daß Sie durch solche ängstlichen Phantasien auch Ihre eigene Gesundheit mutwillig untergraben. Seien Sie stark, das neue, aufregende Leben da drüben wird den besten und heilsamsten Einfluß auf Ihren Mann haben. Jetzt ist er noch auf dem engen Schiff eingeschlossen und Tag für Tag ohne jede Beschäftigung. Da ist es kein Wunder, wenn er sich um so stärker seiner unglücklichen Idee hingibt. Erst einmal in dem praktischen kalifornischen Leben, von all dem Drängen und Ringen nach Gold und Schätzen erfaßt, wird er auch nach und nach seine trüben Gedanken vergessen.«

»Ich will es hoffen«, seufzte die Frau aus tiefstem Herzen. »Ich selber will gern alles tun, was in meinen Kräften steht, um ihn aufzuheitern und zu zerstreuen – wenn nur sein Geist nicht schon gelitten hat!«

»Das befürchte ich nicht«, sagte freundlich der Arzt. »Geben Sie sich aber nicht selber solchen gefährlichen Träumen hin, darin wird schon alles gut werden. Ich kenne ja nun sein Leiden, und sollten Sie in San Francisco meine Hilfe benötigen, so werde ich Ihnen jederzeit zur Seite stehen.«

»Das lohne Ihnen Gott«, sagte die Frau und ergriff zitternd seine Hand. Der alte Herr bot ihr freundlich seinen Arm und geleitete sie zu der in die Kajüte hinabführenden Treppe. Dort verließ er sie, um an Deck zurückzukehren.


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