Mynona (Salomo Friedländer)
Rosa die schöne Schutzmannsfrau und andere Grotesken
Mynona (Salomo Friedländer)

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Ich

Autobiographische Skizze (1871-1936)

von Mynona

Lasset die Kindlein zu sich kommen

Ehemals polnische, dann preußische, jetzt wieder polnische Residenz und Festung, an der Warthe, einem Nebenfluß der Weichsel. Dorthin kam ich kurz nach meiner Geburt. Von dorther hatte sich mein Vater, Arzt in einem Flecken derselben Provinz, seine Frau, meine Mutter geholt. Ihre Eltern besaßen eine Bierbrauerei; sie lag in der Altstadt, am Fluß. Mein Großvater soll Heinrich Heines Cicerone, als dieser mal durch Posen reiste, gewesen sein. Auf der Brücke über die Warthe glänzte ein großes goldenes Kruzifix, von den Juden ‹der Tole› genannt.

Meine Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits gründeten kinderreiche Familien. Ein Kranio- und Genealog, entfernter Verwandter, hat unseren Stammbaum bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgt. Er maß auch die Schädel der Überlebenden und bekam bei meinem heraus: ‹Typ edelsinniger Denker›. Als ich mich daraufhin bei ihm erkundigte, ob die Maße meines Schädels überm Durchschnitt seien, bekam ich zur Antwort: ‹Ja, aber überall nur einen Millimeter›. Die Eltern meines Vaters habe ich nie kennen gelernt. Ich lebte meistens im Element der Familie meiner Mutter. Biedermeiermilieu. Es wimmelte von Onkeln, Tanten, Nichten, Neffen, Vettern, Basen, Enkelkindern, auch Urenkeln.

So alltäglich, bunt geschäftig es in dieser Familie zuging, so atmete man doch, bei aller noch so banalen Weltlichkeit, einen Hauch frommen Anstandes. Ohne diese meistens heimliche Herrschaft des Guten würde man das Böse gar nicht spüren. Man beachtet wenig, daß der Mensch, so armselig, häßlich, eng, gemein, frivol, so allzu menschlich er sei, dieses doch nur dadurch ist, daß er von seinem Ideal absticht, einer Norm, einem Wertmaßstab der Wirklichkeit. Alle diese profanen Realien baden sich im Sonnenlicht ihrer sie durchdringenden Idealität. Mensch sein heißt Engel in 204 einem Tier sein, und die Möglichkeit der freiwilligen Akzentverlagerung vom Tier auf den Engel, vom Natur- auf den Vernunftmenschen, ist jedem Menschen gegeben, mag auch von dieser Freiheit noch niemals der rechte Gebrauch gemacht worden sein. Diese Freiheit ist der Charakterzug der Menschheit, und es soll und kann einmal gelingen, diesen Engel in der Bestie zwar nicht von ihr, aber von ihrer Herrschaft zu emanzipieren. Die Pessimisten beachten den Menschen nur von der Naturseite her, sie verkennen die Tatsachen der Vernunft, wenn sie sie nicht, gleich Rousseau, um ihren Pessimismus zu überwinden, unkritisch zur Natur rechnen. Verwunderlich, Naturwesen zu erleben, die doch keine Tiere sind. Aber schon das Kind fühlt diesen Unterschied, es fühlt die jeden Menschen durchwitternde Willensfreiheit, welche ihn zum Robinson der Natur macht.

So brachte ich meinem Vater eine übernatürliche Achtung entgegen, und niemals, auch wenn ich noch so naturhafte Züge an ihm entdeckte, wurde sie enttäuscht. Sie ist jetzt, wo er fast ein halbes Jahrhundert tot ist, noch tiefer geworden. Dieses unerklärliche Gefühl teilte sich Jedem mit, der ihn kennen lernte. In mir entartete es bei seinen Lebzeiten. Die Bildsäule, die ich aufrichtete, drohte, mich zu erschlagen. Das Ideal schüchterte mich ein. Aus der Achtung wurde Scheu, aus der Scheu ein Konflikt, der mich meinem Vater entfremdete. Ich durfte nicht hoffen, mir seine Achtung zu verdienen. Es ist verdächtig, bis zu dem Grade Achtung zu zollen, daß daraus statt aktiver Nacheiferung nur Pathologie entsteht. Mein Vater, ein wahrer Shakespeare an Psychologie, ließ nicht ab, mich aus dieser ‹Trägheit des Herzens› aufzurütteln. Aber meine Extreme, mein Über-mich-hinaus-Wollen und Hinter-mir-Zurückbleiben paralysierten einander. Sie sind dem Menschen als Flügel beigesellt, aber es ist eine Kunst, sie gleichgewichtig zu entfalten. Ohne den Takt und Geist ihrer Mitte fliegt man mit ihnen nicht. Ich bot meinem Vater das traurige Bild dieser Lähmung.

205 Geboren wurde ich nach einem ‹glorreichen› Sieg des ‹Vaterlandes› über den ‹Erbfeind›. Dann gab es fast 50 Jahre ‹Frieden›. Ich war erst ein blonder Lockenkopf, wurde dann braun und bin jetzt weiß. Die ersten beiden Jahre lang war ich verhätscheltes einziges Kind. Zu meiner allerfrühesten Erinnerung gehört Sonnenschein auf einem mit weißem Damast gedeckten Tisch. Warum vergesse ich das nie?

Mein Vater führte ein ärztliches Pflichtleben. Er war Mensch mit Menschen. Zeitlebens bekämpfte er das aristokratische Prinzip ebenso sehr wie die Pöbelhaftigkeit. Ihn beseelte echte Menschlichkeit, echte Liberalität. Mensch, Arzt und Religiöser verschmolzen in ihm zu einer Kultur, die er kraft eines erstaunlichen Gedächtnisses auch zu enzyklopädischer Bildung brachte. Um ihn leuchtete immerdar eine Atmosphäre aus Poesie, Humor, Weisheit und Witz. In Fällen, wo er Ungerechtigkeit und Lüge zu erfahren glaubte, überwältigte ihn sein cholerisches Temperament. Inbrünstig nahm er sich aller Erniedrigten und Beleidigten an. Als der große Staatsmann z. B. Ausweisungen Fremder anordnete, entdeckte er unter den zu Expedierenden eine notorisch 104 Jahre alte Frau und setzte durch, daß man sie zurückbehielt und im Spital verpflegte. In einem Leitartikel der dortigen Zeitung prangerte er die Brutalität an. Die Folgen waren entsetzlich: niemals erhielt er die sonst üblichen Titel und Orden. – Einige Jahre vor seinem Tode wurde er leitender Arzt einer Stiftung. Dort hängt wohl heute noch sein Bild im Vestibül . . .

Wurde nun mein Vater von Allen, die ihn kannten, verehrt, so genoß er die zärtlichste Liebe meiner Mutter, der frommen Seele des Hauses. Auch mit Musik erfüllte sie es; sie war eine begabte Sängerin und Klavierspielerin. Im allgemeinen war sie ein heiteres Wesen, begann aber nach ihren fünf Geburten leidend zu werden. Sie starb, als ich in meinem 21. Jahre stand, sieben Jahre vor meinem Vater.

In diesem bürgerlichen Heim atmeten wir literarisch und musikalisch das Aroma der Klassiker. Melodien und 206 Gedichte flogen mir an, ich deklamierte gern und nahm Violinunterricht. – Verrufen aber war ich sehr bald als ‹unartig›. Mein egozentrisches Wesen, mit dem ich nur vor meinem Vater zitterte, vergriff sich tyrannisch an Mutter und Geschwistern. Mein Vater hielt Strenge für geboten, hatte aber zur Pädagogik keine Zeit und beauftragte Hauslehrer. Ich hatte wohl zu großen Ehrgeiz, um kleinen zu haben. Ich legte keinen Wert darauf, in der Schule vorwärts zu kommen. Was ich nicht gern wissen mochte, ließ mich kalt. Am liebsten arbeitete ich deutsche Aufsätze aus. Dieser Liebhaberei verdanke ich, daß ich schließlich noch Resultate aufweisen konnte, denn auf den deutschen Aufsatz wurde damals der höchste Wert gelegt. Sonst mußte man mich ‹faul› finden. Ich war dermaßen innerlich, daß mir alles Äußerliche nur zur Kurzweil diente oder mich träge fand. Innen in mir war ein Geheimnis, das ich grüblerisch ergründen wollte. Mein erster Zusammenstoß mit Gymnasiasten verschaffte mir schon einen Spitznamen, der auf Verschlafenheit deutete. Ich habe von diesem Attentat einen Schreck, ein ‹Trauma› zurückbehalten; es blieb mir etwas in den ‹Knochen stecken›. Die meisten Menschen, zumal Kinder sind äußerlich. Im Gegensatz zu ihnen fand ich mich in mein Inneres vertieft und hatte es schwer, damit in ein gesundes Verhältnis zum Außen zu kommen. In mir philosophierte, phantasierte es ständig, ohne daß es mir gelang, mich unbefangen zu äußern. Dieser unermeßliche Kontrast zwischen meinem Innen, worin sich mir alles erfüllte, gegen das dieser vollkommenen Erfüllung selbst im glücklichsten Fall unangemessene, sonst immer ihr widerstrebende Außen – ein Gegensatz, der dem Menschen überhaupt eigen ist – schien mir noch besonders zu schaffen zu machen. So blieb ich Dilettant, das heißt Innerlicher, der sich nicht zum mühseligen Dienst am Außen entschloß, um seine Intention, die sonst nur Wahn blieb, arbeitsam zu verwirklichen; Arbeitsscheuer der inneren Mission. Auf die Dauer macht das falsch, häßlich, böse, heillos. 207 Die Elemente ernster Lehrlingsschaft habe ich erst spät begriffen.

Sinne ich auf mildernde Umstände für dieses mein Wesen und die Schuld, mit der ich mich an den Menschen meiner Umgebung versündigte, so finde ich nur: Niemand wußte um das Gute echten Bescheid, dieweil wir, wie es in Lessings Nathan heißt, «das Schlechte zwar so ziemlich zuverlässig kennen, aber bei weitem nicht das Gute.» Man war anständig, gläubig, höflich, konventionell, aber ohne wahre Begründung. Den Zweifel wußte man nicht recht zu widerlegen. Man hielt Moral für selbstverständlich, entdeckte aber diese Selbstverständlichkeit nicht als Problem, über das man sich verwunderte. Mir jedoch war diese skeptische Verwunderung zu eigen. Die Jugend atmete damals schon in der Luft Nietzsches. Frühzeitig übte ich mich im Ausdenken vom Gegenteil der sittlichen Wertschätzung. Warum war dieses Gegenteil verwerflich? Schon als Kind war ich Skeptiker, ohne es zu wissen. Mein Geist regte sich frei. Ich verfiel auf Atheismus, zweifelte an jedem Menschen. Sie handelten, wie sie's gewohnt waren. Als kleiner Knabe stieß ich eine Gotteslästerung aus und wartete schreckhaft auf eine Wirkung. Denn immerhin erwog ich auch die Möglichkeit, es könne mit Glauben und Sitte seine Richtigkeit haben. Aber ich illuminierte alles mit heimlichen Fragezeichen. Greis, der ich bin, verstehe ich mein Kind und sehe ihm die Folgen der menschlichen Gleichgültigkeit im Punkte der Wahrheit über das Leben nach. Bis in meine heutigen Tage hinein spricht die geistige Welt von Freiheit, Wahrheit, Moral, Vernunft; aber immer noch nicht einstimmig, sondern babylonisch. Wie also sollte sie ein Kind erziehen können? Welche sichere Unterscheidung des Guten vom Bösen könnte sie ihm beibringen, da sie den Problematismus züchtet? Immer noch predigt sie Moral, statt sie zu begründen. Ihren wissenschaftlichen Begründer aber, Immanuel Kant, den Kritiker, gibt sie immer noch derselben Skepsis preis, die er kritisch überwunden hat. Ja, sie 208 unterwirft Kants Vernunftwissenschaft gar der Naturwissenschaft, womit sie die Kantische Revolution der Denkungsart pervertiert. Ein Kind lernt korrekt rechnen, erhält aber kein moralisches Analogon zum Einmaleins, die allergewisseste Unterscheidung des Guten vom Bösen, wie Kant sie gesetzlich begründet. Gewiß, ein solches Wissen macht noch nicht sittlich, es erspart uns nicht, uns selber sittlich zu machen. Aber es beseitigt allen Zweifel und präzisiert die Verantwortung. Solange Jemand noch gar nicht weiß, was gut, was böse ist, verantwortet er sich noch nicht voll. Das Böse flüchtet sich immer noch in die Ausrede des scheinfreien skeptischen Geistes. Das Leben im Guten kann noch gar nicht beginnen. Es sollte endlich ein sublimierter geistiger Völkerbund in Permanenz tagen, um die 1781 proklamierte Revolution der Denkungsart zum Unisono zu bringen. Solange in diesem Herzpunkte des Lebens noch das babylonische Chaos wütet, sind wir nur scheinlebendig. Es nutzt nichts, emphatisch auszurufen: der Mensch ist gut! Er mag wohl ein Engel sein. Aber jedenfalls ist er es mit Hindernissen, Verleitungen, Verlockungen zur Scheinfreiheit, in der man sich gern jenseits von Gut und Böse stellt und sich dabei noch malerisch bepurpurmäntelt. Ein Kind, wäre es noch so gutartig, kann es nicht bleiben, wenn es bei Versuchungen zwar auf Verbote, aber nicht auf Einsicht in den Grund dieser Verbote stößt. Ist es gar bösartig, so wächst es dann zu einem Menschen heran, der sich und andere gefährdet. Wenn die Senecas Neros heranziehen, so prüfe man einmal die Senecas. Ohne Wissen um Gut und Böse scheitert der beste Wille. Versuche man's also einmal einhellig mit Kant als dem Euklid der Ethik! Buddhistische, jüdische, christliche Experimente sind Versuche mit unzulänglichen Mitteln. Man begünstigt gar die ‹Armen im Geist›. Es ist unsittlich, schon zu glauben, wo man noch wissen kann. Seit 1781 sollte und könnte jedes Menschenkind die Elemente der wichtigsten Wissenschaft kennen, der Ethik.

209 Oft seitdem habe ich mir überlegt, was aus mir hätte werden können, wenn damals bereits in alle Schulen mein ‹Kant für Kinder› eingeführt gewesen wäre. Mein Vater wies mich zwar viel später, als ich ohne die erforderte Rücksicht aufs praktische Leben Philosophie studieren wollte, von Schopenhauer weg auf Kant hin, war aber schon aus Zeitmangel nicht imstande, mich tiefer einzuweihen. Lernt man dann das Rechte kennen, so ist man bereits dermaßen abgelenkt, daß man es schwer hat, sich zurecht zu bringen.

Innen also schien ich mir die Vollkommenheit höchstselber. Das ist der Schlüssel meines Wesens, zu allen dessen guten und bösen Äußerungen. Aber das Außen ist eben die Feuerprobe solches Innens. Und dieses scheute ich, wie Feuer denn zugleich anlockt und abschreckt. Beim ersten, oben geschilderten Zusammenstoß meines Innens mit dem Außen der Schule erst, noch nicht des Lebens, verbrannte sich meine Inmichselbstverliebtheit nachhaltig genug. Meine Inwendigkeit wurde immer krankhafter. Äußerung verlangt Resignation. Man muß sich selber bücken, einordnen, allerlei Bescheidenheiten lernen, auf andere eingehen, sich anbequemen. Das sind Erprobungen des Charakters. Die Extreme sind leicht zu konstruieren: vom revolutionären Solitär bis zum feigen Kriecher, der listig oder brutal wird, wo er's kann . . .

Ich gehörte weder zu den grandiosen noch zu den alltäglichen, gesund nach außen gerichteten Objektiven, sondern blieb in mir stecken. Ich verkroch mich sogar buchstäblich. Wie oft rief mir mein Vater zu: «Raus aus dem Mauseloch!», wenn er mich suchte und mich versteckt fand. Bei dieser Gelegenheit muß ich einen Faktor erwähnen, der mein Leben gravierte. Wann beginnt ein Kind, ästhetisch auf seinen Leib zu achten? Schönheit des Leibes gehört zu meinen frühesten Idealen. Es wird später gern sexual depraviert. Für mich bedeutete aber auch dieses Ideal meine vielleicht schwerste Hemmung. Auch hier erschlug mich die von mir selbst errichtete Bildsäule. Man kennt die Klage Platens: 210 «Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheimgegeben.» Es ist die Klage der Häßlichkeit und Krankheit. Als ich meine Häßlichkeit erfuhr, wurde verletzte Eitelkeit zur Mutter der intimsten Tragikomödie. Die Vorstellung der eigenen Häßlichkeit wirkte fatal auf die Physis zurück. Ich schämte mich meiner Sichtbarkeit. Ich bemäntelte sie bildlich und buchstäblich. Noch heut verstehe ich kaum, wie häßliche Menschen den Mut aufbringen, sich zu zeigen, sich nicht nach Möglichkeit zu verbergen. Damals gab es noch keinen Sigmund Freud, keine Psychoanalyse. Sonst wäre es meinem Vater als Arzt schon psychiatrisch aufgefallen, wenn ich mich weigerte, auch an heißesten Tagen ohne Mantel auszugehen. Er bekämpfte es nicht psychiatrisch, sondern patriarchalisch, als gebieterischer Vater, wurde zornig, als ich mich sträubte. Aber eines Tages löste sich, zu meiner Bestürzung, dieser Zorn in Tränen der Ohnmacht. Es war entsetzlich für mich; noch niemals hatte ich diesen mir robust erscheinenden Mann in solcher Verfassung gesehen. Ich gab damals sofort allen Widerstand auf. Man kann sich denken, wie sehr mich noch heute diese Erinnerung ergreift. Aber längst ist mir der Mantel zur unablegbaren Eigentümlichkeit geworden.

Unter irgend möglicher Umgehung des Außens suchte ich mein Wesen durchzusetzen. Je freier ich innerlich war, desto schlimmer war ich nach außen hin gehemmt; welches sich auch umkehren läßt . . . Pietätvollen Gefühls, voll besten Wissens und Willens, in Frömmigkeit suchten mich meine Eltern zu fördern und zu beglücken. Aber niemals erfuhr ich, was mich bezwungen hätte: Wahrheit, Einsicht in Gut und Böse. Schon im Gymnasium wisperte es damals von Nietzsche'scher Freigeisterei. Diese Skepsis schmeichelte den trägen und wilden Gelüsten meiner Natur. Nichts schien wahr, alles erlaubt. Nietzsche's Fall selber beweist, wie so etwas zugrunde richtet. Nicht das wundervollste Gefühl, der beste Wille, die genialste Zuversicht kann die nüchterne Wahrheit ersetzen. Vernunft, deren 211 Kern Wahrheit ist, mag zweifeln, aber der Zweifel an ihr selbst bedeutet ihren Selbstmord. Aller Zweifel ist nur Instrument der unbezweifelbaren Vernunft. Wird sie von ihrem eigenen Kinde, vom Zweifel entthront, so triumphiert die Natur, und die meinige war nur allzumenschlich. Sie folgte dem Gesetz der Schwere, ich gravitierte zur Wollust des Leibes und Lebens. Auch von guten Dingen trieb ich nur, worauf ich Appetit hatte. Dabei wahrte ich ziemlich den äußeren Anstand. Aber die Verachtung meines Vaters ruhte auf mir, ich spüre sie noch jetzt.

Als ich in den ersten Kinderjahren an der Hand meines Vaters durch die Straßen spazierte, scheuerte der Ärmel seines Kammgarnrocks an der Haut meines Handgelenks. Manche spätere Aversion mag mit ähnlichen frühen mechanischen Eindrücken zusammenhängen. Die meisten Menschen springen ins Außen, als ob sie kein Innen hätten. Auch identifizieren sie sich platterdings mit ihrem Leibe. Das pygmalionsche Genie verwandelt das sonst steinerne Außen in die Galathee. Schopenhauer bat als Kind seinen Schuh, der ihm in einen Eimer Milch gefallen war, herzlich, wieder herauszuspringen. Schopenhauers Philosophie ist eigentlich Magie, das Muster eines Inneren, das sich magisch regt, als ob alles Außen ihm gehorchen müßte. Das Erlebnis gelähmter Magie hatte auch ich als Kind und das ist wohl nicht ungewöhnlich. «Auch ich war in Arkadien geboren», und ich legte, als das Außen sich nicht als Schlaraffenland erwies, mich auf die faule Haut des trägen Innern. Obendrein wurde das von der Kränklichkeit meiner asthmatischen Konstitution begünstigt . . .

Ich wurde eines Tages, um lesen und schreiben zu lernen, in eine kleine Privatschule getan. Der Lehrer hieß Bärmers. Ich danke seiner Seele hier von Herzen für meinen eigenen ersten Federhalter, einen schlanken Stab, den er mir schenkte. Sanft unmerklich leitete mich der gute Mann von Mutters Schürze zur Schule über. Später, wie gesagt, wurde mir der Eintritt ins Gymnasium zur schauerlichen 212 Gemütskatastrophe, und die Hermetik meines Inneren wurde gewaltsam aufgebrochen. Von diesem Momente an mußte ich auf Schutzmaßregeln sinnen, um mein Inneres nach aller Möglichkeit vor Überrumpelungen von außen her zu bewahren. Das ist meine Lebenshaltung bis auf den heutigen Tag geblieben. Ich orientierte mich in mir selbst immer präziser, es wollte mir aber kaum gelingen, diese Orientierung aufs Außen zu übertragen. In den langen Jahren meiner Unreife verwirrte sich diese Orientierung dadurch, daß ich die Grenze zwischen Innen und Außen noch sehr schief zog. Es scheint kinderleicht, einzusehen, daß sich Innen zum Außen verhält wie Zentrum zur Peripherie, wie Mitte zu ihren Extremen, wie Null zwischen polarer Unzähligkeit, wie Indifferenz zur polaren Differenz. Es ist aber schwer, das eigene Ich in dieser Weise zu zentrieren, zu neutralisieren, sich auf dieses Innen, dieses pure ‹Nichts› an äußerlicher Geteiltheit zu stellen, Innen-Sonne des planetarischen Außenlebens zu sein; ja, es ist eigentlich weder kinderleicht noch herkulisch schwer, sondern das Meisterstück aller äquilibristischen Meisterstücke – wie sollte ein junger Mensch auch nur auf den Gedanken kommen, dies zu leisten! Dennoch ist es eben dieser Gedanke, der mich von Jugend auf verfolgte, den ich aber erst im höheren Alter endlich auch kritisch präzisieren konnte; und in diesem inwendigsten Punkte ist Gedanke Tat. Aber jahrzehntelang waren eine Menge Äußerlichkeiten mit diesem rein zentralen Inneren noch verwachsen, und diese Eitelkeit verrenkt immer noch den Kreis des Lebens. Wie daher sollte meine Umgebung aus mir klug werden, nicht unter mir leiden, da ich erst gegen mein Greisenalter hin mich selber immer besser verstehen, andere und mich immer besser behandeln lerne!

Welche Plage bedeutete ich für Eltern und Geschwister! Ich benutzte jede Gelegenheit, um in mir selber egozentrisch zu dominieren und blieb nach außen hin voll passiver Resistenz. Ich glich einem Raphael, der seine fehlenden 213 Arme als Ausrede benutzt. Ich schien mir die Vollkommenheit in Person und stieß mit dieser Prätention natürlich in und außer mir auf Widerstand. Mein Inneres war voll finsterer, nach außen hin ohnmächtiger Macht. Diese dunkle Gewißheit über mich selber hieß mich, mir selber treu zu bleiben, auch wenn ich damit meine Nächsten fast zur Verzweiflung trieb. Innen in mir hauste das ‹Absolutum›, wogegen alles Andre so armselig abstach, daß ich mich erhaben fühlte, mich vor Niemandem innerlich beugte, so tiefen Respekt ich ihm auch entgegenbringen mochte; den tiefsten zollte ich meinem Vater, und das ergab die pathologische Kollision. Gemessen am Anspruch meines finstren Innern, schien mir das Ehrfürchtigste Karikatur. Hier ist der Keim meines Ernstes und Scherzes, meiner gesunden und kranken Verinnerlichung. Es gibt ja wohl keinen Menschen, der sich nicht irgendeinmal in sein Ich versenkt, aber doch nur selten so habituell, daß darüber das Außen zu Schaden kommt. Meistens sind die Menschen äußerlich, selten innerlich; noch seltener sind die Fälle, in denen Beides harmonisiert; solitär aber der Mensch, der das Außen durch das Innen erobert – glückte schon der Welteroberer, zugleich Weltüberwinder? Auch hierin ist das menschliche Ich immer noch gebrochen, noch nicht ganz, noch nicht integer vitae . . .

Von Kindheit auf sprachen mich außen nur Unendlichkeiten, weite Horizonte, Himmel, Meer, Ebenen verwandtschaftlich an. Sehr behagte mir die Insel Norderney, als sie noch einödig, sandig ohne viel Anpflanzungen einigermaßen unzivilisiert anmutete. Mein Vater reiste das erste Mal, als ich dort war, mit mir mit, um mich in einer Schülerpension unterzubringen. Unterwegs auf dem Schiff flog ihm sein soeben in Berlin erstandener feiner Filzhut weg. Auf der Insel gab es nur Mützen mit Pompons. Einstweilen hatte man ihm mit einer Matrosenmütze ausgeholfen, die ihm die Würde der Erscheinung seltsam raubte. In der Pension, der ein Arzt vorstand, hielt ich Kameradschaft mit 214 einem Jüngling, der später als Bildhauer und Dramatiker berühmt wurde: Ernst Barlach. Jahrzehnte später machte mich der Dichter Theodor Däubler darauf aufmerksam, daß Barlach mich in seiner Autobiographie erwähnt hatte. Schon damals waren wir gegenseitig im dichterisch-philosophischen Gedankenaustausch begriffen. Beim Pfänderspiel der Jugend figurierte ich unter anderen netten Pflanzen als Distel . . . Ich schwelgte, indem die äußere der inneren antwortete, in der Unermeßlichkeit des Meers. Gebirge liebte ich nur der Gipfel wegen. Im Schwarzwald bei Freiburg war ich am Spätnachmittag auf einen Turm geklettert, um hoch oben das Rundum und die sich zum Untergang neigende Sonne noch länger zu genießen. Darüber vergaß ich so lange den Abstieg, daß unten schon die Nacht lag. Zudem war es windig geworden. Der schmale Turm und die Treppenstufen schwankten gehörig. Das wirkte sinnbildlich auf mich. In der Tat ist Geist das allergefährlichste Experiment; es gilt dem Gipfel, der Mitte, dem Fixstern des Menschenlebens, der Sonne Ich. – So konnte ich mich zum Detail des Lebens im Grunde nur humoristisch einstellen. Lächerliches und Erhabenes war mir von früh an vertraut. Sah ich einen Menschen zum erstenmal, so fand ich sein Gesicht irgendwie verrenkt, so daß ich unwillkürlich die Geste machte, es wieder einzurenken. Die Gestalt der Kugel nur befriedigte mich restlos, so daß ich, als Kind nach meinem Namen gefragt, mich Kugel nannte. Die astronomische Unendlichkeit zog mich so sehr an, daß ich den Littrow nebst seinem Himmelsatlas zu meiner Lieblingslektüre machte. Aber Ähnliches trieb ich nur, um meine Phantasie in zauberische Wallungen zu versetzen. Ich verlor mich in dieser Magie. Am liebsten las ich Märchen, Tausendundeinenacht, am allerliebsten aber, da auch mein Verstand nüchterner interessiert war, die ganze Kindheit entlang, Jules Verne. Ich las mehr subjektiv als objektiv, mehr produktiv als rezeptiv; ich fühlte die Kraft des Autors.

Desto träger fand mich die ‹Forderung des Tages›, weil 215 ich meine inwendige Ewigkeit ungern verließ. Innen war ich allezeit fertig, aber das Außen verlangte die mühselige Bewährung dieser Fertigkeit. Niemand wußte, mich richtig zu motivieren. Rings um mich waltete gewiß der gütigste Wille, aber blind für mich. Dabei schien meine Mutter über meine Zukunft beruhigter als mein Vater, der den höchsten Wert auf die praktische humane Äußerung des Innenlebens legte, so daß er gegenüber meinen Hemmungen als Vater und Arzt zwischen Sanftmut und Ungeduld immerfort schwankte, wodurch er mich nur noch tiefer in mein Inneres trieb . . .

Vom ersten Schultag an schien sich zu erweisen, daß ich – wertlos war, nichts taugte. Widerstand drohte immer abschreckender in meine Märchenwelt hinein. Ich rettete mich ins Innere, und das Außen starrte feindselig um mich herum. Mein Inneres reagierte pathologisch, und diese Reaktion verschlimmerte meine Lage. Flucht vor der Schule, Flucht in die Krankheit, in Narreteien, in die Groteske begann, träges Ausweichen, Zurückzucken besonders vor meinem Vater, der stets besten Willens war, mich zu meinem Heil nach außen zu zwingen. Ich aber war keineswegs guten Willens dazu, sondern immer verstohlener bestrebt, mein Wesen vor solchen Unannehmlichkeiten für mich zu retten. Innen in mir herrschte ich ohne Widerstand, erträumte mir ein Reich, worin ich absolut gebot. Innen in mir hatte ich imaginäre Freunde, Diener, alle Macht, die mir draußen fehlte. Das trieb ich bis in mein vierzehntes Jahr, als mein Vater sich endlich besseren Erfolg für mich in einer strengeren Umgebung versprach. Er gab mich nach Berlin in das Hauswesen der ältesten Schwester meiner Mutter . . .

Für mich von der Mutter verwöhnten Jungen wehte in diesem Berliner Heim eine rauhere Luft, es war dort keine Sentimentalität zuhaus. Ich atmete diese herbe Luft zwei Jahre, mir unbewußt wohl zu meinem Vorteil, ein, schrieb dann aber auf den Umschlag eines Briefes, den ich an meine Eltern schickte, in Miniaturschrift, wie gern ich lieber bei 216 ihnen wäre, und klebte über meine Klageworte die Briefmarke. Diese aber haftete zu lose, fiel ab, und der die Post expedierende Dienstbote meiner Tante entdeckte die Schrift. Ich wurde ins Verhör genommen und wieder zu meinen Lieben geschickt.

Mit Mühe absolvierte ich die Untertertia des heimischen Gymnasiums, obgleich ich in Berlin ein ziemlich guter Schüler gewesen war. Ich litt unter Bronchialkatarrhen und asthmatischen Anfällen. Mein Vater ließ mich privatisieren und hielt mir Hauslehrer. Er plante, mich aus der Malarialuft des Warthetals zu entfernen, mich in Palermo, wo er Freunde hatte, kaufmännisch ausbilden zu lassen. Inzwischen gab er mich ins Büro einer Versicherungsgesellschaft, deren Vertrauensarzt er war. Endlich sandte er mich in ein Sanatorium der italienischen Riviera, nach Nervi bei Genua. Mein dortiger Arzt, ein sehr intelligenter, gebildeter Mann, mit dem ich später korrespondierte, schrieb mir nachher, er habe mir innerlich wegen meines pathologischen Egozentrismus die ungünstigste Prognose gestellt, sei aber durch meine Briefe eines besseren belehrt . . .

Zum allerletztenmal sah ich, als ich nach der Riviera abfuhr, meine liebe Mutter. In einem kaffeebraunen Mantel stand sie da und blickte mir mit ihren kurzsichtigen Augen nach. – Man wundre sich nicht, wenn ich von Land und Leuten, von der wunderschönen italienischen Welt nichts berichte. Mein Thema ist die Innenwelt, mein Ich, verglichen womit mir alles menschliche Außen, meines inbegriffen, grotesk erscheint. In dieser Beziehung liebte ich auch literarisch absonderlich die bizarren Autoren, von Lukian bis Quincey und Poe; besonders wenn sie zugleich Humoristen waren, vor allem Rabelais, Swift, Sterne, Jean Paul, in der Neuzeit Paul Scheerbart, der zu dieser Reihe gehört, und der mein persönlicher Freund war. Jean Paul genoß ich mit innigstem Bedacht. Sein Innen, sein Ich ist unvergleichlich, obgleich er es zur Äußerung nicht klassisch bändigen konnte . . .

217 Zunächst wollten meine Eltern mich wiedersehen . . . Ich packte den Koffer, um heimzureisen. Hinter Basel machte ich in Freiburg Station. Dort studierte mein Freund und Vetter Medizin. Er riet mir, in Freiburg zu bleiben, hier das Abiturium nachzuholen, dann zu studieren. Als ich bei meinem Vater deswegen brieflich anfragte, telegraphierte er: «Sofort beginnen!»

Ich ging zum Direktor des Gymnasiums in der Rotteckstraße. «Sie sind zu alt», sagte er, «ich kann Sie nicht in die Obertertia setzen. Bereiten Sie sich privatim zur Oberprima vor!» Er empfahl mich an einige seiner Kollegen, die mir zwei Jahre lang Unterricht erteilten. Dann nahm man mich als Gast in die Oberprima auf. Aber der preußische Unterrichtsminister (von Trott zu Solz hieß er) drang darauf, daß ich bis zum Abiturium noch zwei weitere Jahre dort zubringen solle. In Freiburg betrübte mich die Nachricht vom Tode meiner Mutter. Dieses schmerzliche Erlebnis traf mich mittelbar, gedämpft durch Abwesenheit und Ferne. Wann verstummt die Klage über solchen Verlust! Aber die Trauer vertrug sich bald mit der leichtsinnigen Elastizität meiner Jugend . . .

Meine Freiburger Jahre sind in der Erinnerung paradiesisch verklärt. Außerordentlich bedeutsam wurden sie für mich durch die erste Bekanntschaft mit Schopenhauers Philosophie. Mein metaphysisches Bedürfnis hatte sich bisher nur naturalistisch, rein verstandesmäßig befriedigt. Ohne es zu ahnen, stillte ich die Begierde der Idee, wie es heute noch die moderne Naturwissenschaft tut, empiristisch, sensualistisch. Der bestirnte Himmel interessierte mich tiefer als das moralische Gesetz. Natur scheint plausibler als Vernunft, und gar die nicht nur formalen, sondern materialen Monisten naturalisieren alle Gesetzlichkeit, womit sie sie in der Folge insipiderweise kulturschädigend problematisieren. – 1890 las ich eines Tages in der Zeitung, die Werke des berühmten «Frankfurter Sonderlings und Frauenhassers» seien jetzt, 30 Jahre nach dessen Tod, bei Reclam 218 erschienen. Durch diese pikanten Epitheta angereizt, kaufte ich mir die Bändchen. Abends begann ich, «Die Welt als Wille und Vorstellung» zu lesen und konnte nicht aufhören; am frühen Morgen brannte noch meine Lampe. Die folgenden sieben Jahre blieb ich im Bann dieses Geistes. Meine Mitprimaner gehörten teilweis zum hohen katholischen Adel. Meine philosophische Begeisterung kam zu solchen frommen Ohren, und man versuchte, mich zu Thomas von Aquino zu bekehren. Als der Klassenordinarius einmal nicht erschien, zwangen mich die Kameraden, das Katheder zu besteigen und über die Freiheit des Willens zu dozieren.

Das Leben drängt sich dem Geist als Problem auf, das er selbständig zu lösen sucht. Lösungen anderer Köpfe werden kritisch geprüft. Die materialistische Lösung hatte den Vorzug, handfest plausibel zu scheinen. Gerade weil mein Geist überschwänglich geartet war, verlangte mich's nach präziser Nüchternheit. Auch meine geschlechtliche Begierde löschte ihren eigentlich unstillbaren Durst am liebsten materiell, brutal fleischlich. Vielleicht bedurfte es solcher Massivitäten, um mein sonst im Innersten verschwindendes Ich, diesen Höhlenbewohner, gewaltsam nach außen zu treiben. Ich verdankte diesem Zwang meine Gesundheit und Derbheit, welche dann bis ins Verderben ging. Schopenhauers Werk brachte mich zum erstenmal mit einem Genius hoher philosophischer Kultur zusammen, und ich unterlag ihm wehrlos, leidenschaftlich. Obendrein war der zur Wollust reizende Trieb, der mich beherrschte, hier zum Wesen der Welt, Willen zum Leben gemacht, dessen Brennpunkt der Geschlechtsakt wäre. Allerdings beurteilte ihn der Autor pessimistisch. Aber ohne jeden sittlichen Imperativ; er schilderte nur neutral ebenso die Selbstbejahung wie die Selbstverneinung dieses blinden Willens. Der Autor hatte für seine eigene Person das Leben keineswegs verneint, wiewohl er schmerzlich bewegt vor dem Bilde des Abbé Rancé, des Stifters des Trappistenordens, verweilte. Aber er entwarf dessen ungeachtet das Bild einer gesunden 219 Lebensbejahung, die er con amore genau so objektiv kennzeichnete wie die asketische Heiligkeit der Lebensverneinung. Immerhin neigte er sich deutlich dem Pessimismus zu, nahm Partei gegen allen Optimismus. Das bekümmerte mich damals noch nicht: ich war nur erst intellektuell an der Lösung interessiert, und die moralisch-religiöse Region, in die Schopenhauer wies, fand mich freidenkerisch skeptisch. Übrigens schien mir der pessimistische Tatbestand unleugbar.

Aber ich sann auf kontrollierbarere Abhilfe, als sie mir von der mir natürlich widerstrebenden Lebensverneinung dargeboten wurde. Was mich intim fesselte, war diese metaphysische Verbindung zwischen Innen und Außen. ‹Die Welt als Innen und Außen›. Außen weniger als nichts, war der Mensch innen Alles in Allem, Weltherrscher, Magier. Aber einem solchen Inneren war das Außen natürlich eine schreckliche Zwangsjacke. Und dies war ja doch speziell immerfort meine eigene Attitüde. In solcher nun gebärdete sich Schopenhauer als ‹Thronerbe› Kants! Er habe das Rätsel gelöst, das Kant aufgegeben habe: das Ding an sich sei der Wille. Überdies bombardierte er Kants Kritik durch die seinige. Alles dies in einer überwältigend herrlichen Stilgebung. Was Irrtümer mitunter so faszinierend macht, ist der blendende, bei Schopenhauer genial entzückende Schein ihrer Wahrheit, die falsche Plausibilität, das – faule Ei des Kolumbus. Als junger Mensch wurde ich zum Opfer dieses Scheins. Ich fühlte mich unheimlich in meiner Trägheit bestärkt, es entstand eine so gut wie grundsätzliche Lähmung des Willens zum Vorstoß aus dem Innen ins Außen. Ich liebte mir (‹Faust›) die unbedingte Ruh'.

Der Geselle aber, der mir beigegeben war, benahm sich immer mephistophelischer. Das oft bedichtete Beisammen von Geist mit Fleisch trieb mich in eine immer groteskere Diagonale. Mir fehlte der wahre Erzieher. Mein Geist war allzu heftig vom Fleisch entzündet, als daß ich es geistig hätte auch nur ästhetisieren, geschweige ethisieren können. 220 Die Sinnlichkeit beeinträchtigte meinen Intellekt – und nun brauchte ich nur noch zu hören, dieser Trieb sei das Wesen unserer Welt, und der Intellekt bestenfalls dazu da, den Willen von ihr abzuwenden. Dazu verspürte ich aber keinen Trieb. Ich schildere damit gewiß nichts Ausnahmsweises. Immerhin fällt jene Diagonale wohl selten so grotesk aus wie in meinem Falle. Die Meisten leben mittelmäßig. Der Verbrecher folgt skrupellos seinen Gelüsten. Der Asket erringt sich eine enorme Gewalt des Geistes, der Abstinenz. Meine bizarre Personalunion aber von Asket und Lüstling mag selten sein; vielleicht ist Schopenhauer so ein Fall?

Er festigte die bis dahin noch lockere Struktur meines Habitus. Mein Geist verachtete, mein Fleisch liebte das Leben. Das ergab im circulus vitiosus ein sich steigerndes taedium vitae. Der Arzt dieser Krankheit verbarg sich noch in mir selbst . . .

Erst 1894 bestand ich das Abiturium. Der deutsche Aufsatz: «Goethes Egmont im Urteil Schillers» verschaffte mir die Palme. Ich reiste nachhaus und merkte jetzt erst, daß meine Mutter gestorben war. ‹Um den ist mir nicht bange›, hatte sie zuletzt noch geäußert, ‹der wird seinen Weg schon machen›. Geisterhafterweise verwechselte ich meine Schwestern mit meiner Mutter, in deren Schatten gehüllt sie mir erschienen. Mein Vater war bereit, mich studieren zu lassen, aber nur ein sogenanntes Brotstudium. Philosophie schien Luxus. Ich wählte Medizin und ging nach München, wo auch mein Freiburger Vetter weiter studierte. Mein Vater gab mir Geld auf ein Semester mit, eine relativ beträchtliche Summe. Insgeheim aber war mein Vetter zu meinem Kontrolleur bestellt. Als dieser meinem Leben eine Weile zugesehen hatte, mußte er mich für einen Taugenichts halten. Er berücksichtigte wohl zu wenig, daß ich, wie übel es auch sonst mit mir stehen mochte, geistig interessiert zu sein fortfuhr. Ich studierte Schopenhauer, hörte Musik, ging in Oper und Schauspiel, vernachlässigte allerdings, wiewohl ich an Leichen sezierte, mein eigentliches Medizinstudium. 221 Aber ich war so wenig Oekonom und verschwendete mich so sehr an leichtfertige Mädchen, daß mein Vetter entsetzt darüber meinem Vater berichtete. Auf meinen Vater wirkte dieser Bericht so katastrophal, daß er seinen Plan, mich zu seinem ärztlichen Nachfolger zu machen und mir das Wohl der Geschwister dann anzuvertrauen, aufgab und beschloß, uns eine neue Mutter zu geben.

Er eröffnete mir das brieflich und rief mich noch vor Schluß des Semesters nachhaus. Inzwischen hatte er seine älteste Tochter verheiratet. Als ich ankam, reiste er selbst nach Berlin, um dort eine meiner Cousinen, seiner Nichten, zu heiraten. Sonderbare Stimmung, als wir eines Tages die Neuvermählten empfingen. – Mein Vater beschloß jetzt, ich solle rascher vorwärtskommen und Zahnarzt werden. Eine Berliner Freundin meiner neuen Mutter nahm mich in Pension. Mit dieser Dame, einer hervorragenden Pianistin, und ihren beiden jungen Söhnen befreundete ich mich bald, hielt es aber doch nicht lange unter dieser Aufsicht aus und mietete mir ein Zimmer am Oranienburger Tor. Das Viertel war zugleich medizinisch und vulgivagisch. Die Zahnheilkunde gewann mir kein Interesse ab, ich ängstigte mich aber, das meinem Vater einzugestehen; zumal ich nun ein Luderleben führte, die Nacht zum Tage, den Tag zur Nacht machte. Dabei aber blieb ich geistig rege. Seichte Psychologen sind geneigt, mit Minderwertigkeiten und Überkompensationen zu rechnen. Sie verkennen das innerste menschliche Wesen. Es ist wahr, daß es sich nur allzu leicht selber verkennt, sich ungemein schwer entdeckt. Nur allzu offen liegt das Böse eines Menschen, aber sein Gutes ist tiefer, ist zentral im Kern alles Menschenwesens, sogar vor sich selber verborgen. Alles Böse ist nur Deteronomia, nur Mangel an Selbsterkennung, an Selbstbehandlung; es ist natürlich leichter, sich gehen zu lassen, als selber zu gehen. Der sogenannte böse Wille ist nur Passivität, Schein-Aktivität. In Wahrheit steht hier der Geist, dessen Wesen lauter Tätigkeit ist, unter der Diktatur nicht seiner selbst, seiner 222 Vernunft, sondern unter der des ‹Fleisches›, der Natur, der Sinnlichkeit, während er diese doch beherrschen sollte und also auch könnte . . .

Ich widmete mich nun, allen noch so üblen Abhaltungen in und außer mir zum Trotz, der Philosophie. Ich hörte, um nur die Bedeutendsten zu nennen, bei Dilthey, Dessoir, Steinthal, Warburg, Munk, Erich Schmidt. Immer aber blieb ich noch Schopenhauerianer. Zwar versuchte ich mich schon an Nietzsche. Aber auf der Folie Schopenhauers las ich diese Bücher zunächst wie die Konfessionen eines Irrsinnigen. Zugleich aber bestätigte man mir, Nietzsche sei tatsächlich in psychiatrischer Behandlung, so daß ich mich vor der Hand gar nicht weiter mit ihm einließ.

Jedoch begann damals das ethische Problem mich tiefer zu ergreifen. Bisher war ich, um möglichst konfliktlos was ich wollte treiben zu können, ohne Bedenken amoralisch geblieben, obgleich mein Gewissen oft gewaltige Mühe hatte, den moralischen Alpdruck aufzuheben. Aber die Intensivierung meiner Gewissensängste ließ mich an der Richtigkeit dieser Haltung immer schärfer zweifeln. Mitten in dem Lüstling, der ich war, meldete sich die sittliche Forderung zunächst als Schopenhauers Lebensverneinung zum schwärmerisch dunkelen Wort. Ich fühlte mich zu einer Entscheidung gedrängt. Über Welt und Leben geriet ich in immer tiefsinnigeres Grübeln. Immer weniger wurde ich aus mir klug. Es mußte doch irgend einen ersten und letzten Sinn des Daseins geben? Schopenhauer fand ihn im Entschluß des Willens zur Bejahung oder zur Verneinung des Lebens. Das waren einander entgegengesetzte Extreme der Richtung des Willens. Aus der Spannung dieses Gegensatzes blitzte mir eine Formel auf, deren Geschichte ich kaum kannte und also ignorierte, daß es eine uralte Formel ist. Auf der Schule durch gewisse physikalische Kapitel, vor allem Schopenhauers Farbenlehre, in deren Verfolg auch durch die Goethesche, stieß ich auf die Formel der Polarität. In ihr schien mir der Sinn des Lebens geheimnisvoll 223 enthalten. Lebensbejahung als Pol hatte ich nur allzu drastisch ausgekostet. Um meine Entscheidung zu treffen, mußte ich also auch den Gegenpol erleben. Über diesen inwendigen Experimenten vergaß ich, dirigiert obendrein von der asketischen Absicht, Essen und Trinken wochenlang fast gänzlich und erlebte phantastische Ekstasen. Diese Verzückungen enthielten Visionen eines polaren Lebens, in denen sich mitten zwischen allen Lebenspolen, zwischen Ja und Nein des Willens, mein in der Mitte schwebendes Ich immer sonnenhafter regte. Ich entwarf eine Philosophie, die ich ‹Von der lebendigen Indifferenz der Weltpolarität› nannte . . .

In Jena hörte ich hauptsächlich beim Neukantianer Liebmann und bei Eucken. Daneben trieb ich alte Geschichte und Archäologie. Meine Dissertation schrieb ich über Kant und Schopenhauer. Das Doktorexamen bestand ich erst vier Jahre nach dem Tode meines Vaters. Inzwischen schrieb ich an meinem Buch über die lebendige Indifferenz der Weltpolarität. Fast wäre es in dem damals interessanten Verlag von Wilhelm Friedrich erschienen, aber es kam mit ihm keine Einigung zustande – glücklicherweise war ich zum ‹nonum prematur in annum› gezwungen und konnte die Schrift zu meiner später erschienenen ‹Schöpferischen Indifferenz› ausreifen lassen . . .

Jetzt bereitete ich mich auf das Doktorexamen vor. Es wurde ein Familienrat einberufen, dem alte Freunde meines Vaters beiwohnten. Man drang in mich, dieses philosophische Luxusstudium aufzugeben und ins praktische Leben einzutreten. Man bot mir Stellen an. Allen Gründen zum Trotz weigerte ich mich so hartnäckig und schien meine Situation so sehr zu verkennen, daß die braven Leute mich für nicht ganz richtig hielten. Ein Arzt untersuchte mich förmlich auf meinen Geisteszustand. Dieser Mann hat mir später, als mir in meiner Heimat auf Empfehlung des Direktors der Berliner Universitätsbibliothek eine städtische Bibliothekarstelle winkte, geschadet, indem er mich beim 224 Magistrat als pathologisch diskreditierte und unmöglich machte. Damals fragte er mich: «Warum wollen Sie ausgerechnet Philosophie studieren?» «Das ist mein spezielles Interesse», antwortete ich. «Warum?» forschte er weiter. «Weil ich universell interessiert bin», sagte ich. «Halt!» rief er, «Sie widersprechen sich, wie kann Ihr spezielles Interesse universell sein?» An diesem Urteilsdefekt des Mannes scheiterte also meine Bibliothekskarriere. Die Großmut meiner Stiefmutter ermöglichte mir schließlich das Weiterstudieren in Jena. Die Nebenfächer hatte ich der Philosophie wegen vernachlässigt und mußte darin viel nachholen . . .

Mein Essener Schwager, Rabbiner Dr. Samuel, während meiner Kinder- und Jugendjahre immer schon mein Mentor, hatte mir verständnisinnig zum philosophischen Studium geraten. Jetzt vermittelte er mir diejenige Bekanntschaft, durch die mein Leben einer wahren geistigen Revolution entgegengeführt wurde. Kants Kritik erblickte ich bisher durch Schopenhauers zwar scharfe, aber doch nicht weitsichtige Brille wie eine indische, durch den Schleier der Maja idealistisch verhüllte Landschaft. Aber Kant (das verkannte Schopenhauer, der daher auch über die 2. Auflage der Kritik schimpfte) dreht ja doch den alten platonischen idealistischen Geist kritisch zur Empirie, zum ‹Diesseits› herum; darin besteht Kants Revolution der Denkart. Übrigens aber war ich mittlerweile doch brennend ‹modern› geworden, indem ich aus dem Bann Schopenhauers, da ich das Leben nicht anders als ‹bejahen› konnte, in denjenigen Nietzsches geraten war. Dessen Kritisierung des asketischen Ideals hatte mich zum skeptischen Freigeist gemacht. Noch hatte ich keine Kantische Kritik gekostet. Kants Warnung vor der Freigeisterei des Vernunftglaubens findet ja bis zum heutigen Tage die modernen Ohren ebenso taub wie dazumalen das Nietzschesche. Immerhin bedeutete mir schon damals Kant die einzige eventuale Gegeninstanz gegen alle Dogmatik und Skepsis. Kant machte mich schon gegen Nietzsche selber skeptisch, obgleich es noch Jahrzehnte 225 dauerte, bevor ich zu mir selbst, d. h. zu Kants Kritik kam. Aber am Maßstabe dieser prüfte bereits meine Dissertation Schopenhauers Kritik der Kritik. Das Reich aber der Kantischen Immanenz, dieses in Vernunftgrenzen eingeschlossene Menschentum aus Wahrheit, Schönheit, Erhabenheit, Güte und Hoffnung, war mir noch in Frage gestellt. – Als mein Schwager merkte, daß mich Kant besonders zu interessieren begann, erzählte er mir von einem seiner Bekannten, einem Essener Juristen, der soeben ein Buch über Kant hätte erscheinen lassen. Er nahm die Broschüre vom Schreibtisch und riet mir, sie einmal durchzusehen. Sie war noch nicht aufgeschnitten. Das Werk betitelte sich: «Die exakte Aufdeckung des Fundaments der Sittlichkeit und Religion und die Konstruktion der Welt aus den Elementen des Kant, eine Erhebung der Kritik der reinen und der praktischen Vernunft zum Range der Naturwissenschaft» von Ernst Marcus.

Damit habe ich den Namen des Geistes genannt, der den wahrsten Einfluß auf mich ausgeübt hat. Als vormaliger Schopenhauerianer, Freigeist Nietzscheschen Gepräges, dogmatischer Polarist, war ich damals übel genug zu solchem Einfluß prädisponiert. Lange dauerte es, bis diese wahre Lehre mir aus einem bloßen Gegengewicht gegen die Last der Prädisposition zur Zunge an der Waage des Menschenlebens wurde. Ahnungslos, ja mit Widerwillen gegen abermals einen der zahlreichen gegeneinander streitenden Kant-Interpreten, nahm ich das Buch zur Hand. Es las sich nicht leicht, aber diese Lektüre belohnte mich mit einem Licht, wie es mir über Kant, über das Menschenleben noch niemals so hell und so nüchtern besonnen aufgegangen war. «Nüchternheit ist das Pathos der Wissenschaft», sagt Ernst Marcus. Noch war ich leider davon weit entfernt, mich mit der Wahrheit dieser Lehre zu identifizieren, aber schon diese erste Lektüre überzeugte mich, daß hier der modernen Freigeisterei ein respektabler Gegner erstanden war. Ich erklärte meinem Schwager: «Das ist kein Buch über 226 Kant. Es ist Kant redivivus, und zwar mit modernen Mitteln.»

Dieses Urteil kam durch meinen Schwager dem Autor zu Ohren, und ich lernte diesen einzigen fruchtbaren Nachfolger Kants persönlich kennen. Der Kantische Einfluß, den Marcus auf mich ausübte, war ohne Gewaltsamkeit, aber kontinuierlich. Marcus lag nichts daran, Proselyten zu machen. Er berücksichtigte urban die eigenen Wege eines Jeden. Er wußte genau, daß die Wahrheit bei Kant liegt; daß aber der Weg zwischen Absicht und Ziel für jeden Menschen ein besonderer ist. Er vertraute auf die Macht der Gründe und verschwendete lieber Zeit als Kraft. Es dauert lange, bis man für die Wahrheit einsichtig wird, ihr widersteht die Gravitation durch Affekte und Leidenschaften. Man lebt scheinbar bequemer, wenn man sich von der Natur treiben läßt, als wenn man Natur durch Vernunft treiben, also selber aktiv herhalten soll. Wir beobachten ja auch politisch, wie sich die Menschen vergewaltigen, ‹führen›, uniformieren lassen, fremdem Willen den eigenen überantworten . . . Jahrzehnte vergingen über diesen mündlichen und schriftlichen Gesprächen, bevor ich mir sagen mußte, daß aller Widerstand gegen die von Kant entdeckte, von Marcus noch lichtvoller begründete und bereicherte Transzendentalwissenschaft von schlechter Urteilskraft zeugt . . . Übrigens interessierte sich Marcus für mich nicht nur philosophisch, sondern amüsierte sich auch zuweilen über die Grotesken, die ich unter dem anonymen Pseudonym Mynona zu veröffentlichen begann. Sublime und Ridicule sind Stiefgeschwister. Daß die Überlegenheit der Funktion über die Affektion nicht nur erhaben, sondern auch lächerlich stimmt, wenn das Fleisch über den Geist zu siegen scheint, erfährt man tagtäglich. Von Jugend auf kannte ich die besten humoristischen Muster. Schon der Zusammenstoß der philosophischen Erhabenheit mit der ihr überlegen erscheinenden Stärke der sexualen Affektionen stimmte mich grotesk oder lyrisch-elegisch . . .

227 Seit 1896 hatte ich außer meiner Dissertation nichts als hie und da ein paar Zeitungsartikel veröffentlicht. Jetzt fand ich Gelegenheit zur Buchpublikation. Als Eremit, der ich doch blieb, geriet ich in den lebendigsten Menschenstrudel . . .

Die Reihe meiner Bücher begann ich mit einem über Robert Mayer, den Begründer der modernen Naturwissenschaft. Sein Gesetz der Äquivalenz fesselte mich schon erkenntniskritisch durch den Zusammenhang des apriorischen mit dem aposteriorischen Wissen, durch die polare Harmonie, die mir daraus hervorging. Mein naturphilosophischer Versuch, in diesem Zusammenhang meine polaristische Philosophie unterzubringen, fiel allerdings phantastisch aus. Mein Buch wurde günstig aufgenommen, und zum erstenmal hielt ich selbstverdientes Geld in Händen. Im Fahrwasser der literarischen Moderne plätscherte ich von da an keineswegs zeitgemäß, da ich den Kantischen Maßstab, den mir Marcus in die Hand gegeben hatte, schon anzulegen begann. Aber einstweilen gefiel ich mir noch zugunsten meiner Libertinage in moralskeptischer Freigeisterei . . .

Zigeuner des Geistes – eine Fülle abenteuerlich mit dem Leben experimentierender Männer und Frauen, berühmter obskurer, ruhmwürdiger. Die Meisten verschwanden; ein paar wittern als Spukgestalten noch heute. Der bedeutendste Humorist, dessen Freund ich wurde, war der Dichter und Maler Paul Scheerbart, ein entzückender Mensch, dessen geniale Besessenheit von Traum und Rausch buchstäblich und bildlich nicht zu trennen war. Seine Ahnherren sind Rabelais und Swift, deren Kraft er mit Mozartscher Anmut verband. Etwa wie Quixote an Pansa war er an seine Ehehälfte gefesselt. Scheerbart ließ in seinem Leben Dichtung mit Wahrheit, Tag und Nacht burlesk verschwimmen. Ein Nachtleben führten wir eigentlich alle; nur hielt ich, wie auf Hygiene überhaupt, unverbrüchlich auf acht Stunden Schlaf, die wohl meistens in die Morgenstunden fielen. Scheerbart konnte mitunter auf zwei, drei Tage allen Schlaf 228 ausschalten. Einmal, gegen fünf Uhr früh, begann er im Café so unruhig zu werden, daß man ihn ausforschte und nach vielem Fragen endlich zur Antwort bekam, vor seinem Haustor würde jetzt gleich ein Frachtwagen halten, der seinen Hausrat in eine andere Wohnung schaffen sollte. Nun habe er seiner Frau gestern versprochen, zeitig nachhaus zu kommen, um ihr beim Einpacken behilflich zu sein. Das sei nun verbummelt, und er fürchte sich vor ihr. Carl Einstein, der Kunstsachverständige, und ich faßten den Wankenden unter die Arme und schleppten ihn heimwärts. Er weigerte sich aber, ins Haus zu gehen. Um die Frau vorzubereiten und ihren ersten Zorn abzufangen, wurde ich vorausgeschickt. Kaum hörte sie meine Schritte im Treppenhaus, tobte sie, im Wahn, es sei ihr Mann, wie eine Furie auf mich los: «Luder, Luder!» Aber bei meinem Anblick besänftigte sie sich, und ich holte die Beiden. Um seine schreiende Frau zu übertäuben, begann Scheerbart Wagner-Arien zu singen. Sie kapitulierte, warf sich wie ohnmächtig auf eine Chaiselongue. Sofort stürzte er sich in humoristischer Wut auf sie und drohte, wenn sie nicht sofort lustig würde und ihm das für die Ziehleute bestimmte Bier zu trinken gäbe, sie zu erwürgen. Seinen Humor verlor er niemals. Dieser hohe Mensch bückte sich humoristisch, um in der niedrigen Enge seines Daseins Platz zu finden. So leutselig er war, so leicht er sich mit jedem zu duzen und gemein zu machen schien, so fein unterschied er die Menschen. Er war von ätherischer Robustizität. Sein Humor war seine Religion. Er verabscheute, was nicht friedlich, gerecht, fromm war. Aber er blieb der lachende Heilige, der humoristisch gewitterte. Der Weltkrieg versetzte ihn in einen seelischen Sturm, der zusammen mit der leiblichen Zerrüttung tödlich wirkte. Der Mensch war ihm nur ein Provinzialismus, er empfand sich als Medium kosmischer Wesen . . .

Professor Georg Simmel interessierte den Verlag Göschen für mein Buch über Nietzsche, das diesen als Paradigma meines Indifferentismus polarer Observanz aufzeigte. 229 Lublinski, der berufenste Kritiker dieses Buches, starb gerade, als ich es ihm zusandte. Dieser selbe Unstern verfolgte mich, als ich Simmel meine ‹Schöpferische Indifferenz› zueignen wollte. Kurz vorher starb er während des Weltkriegs als Straßburger Professor . . .

Meine Gönner wollten mir mein Leben bequemer machen. Bisher hatte ich nur möblierte Zimmer in fremden Wohnungen innegehabt oder war Gast meiner Geschwister gewesen. Jetzt ermöglichte man mir, eine eigene Wohnung einzurichten. Es bedeutete für mich, der ich ‹Insulaner› bin, eine Erlösung. Aber die Gegenrechnung bestand in der Steigerung der Libertinage. Denn jetzt konnte ich Tag und Nacht ungeniert, wen ich wollte, bei mir empfangen, und ich machte davon übermäßigen Gebrauch. In der Regel aber war ich tagsüber bis 10 Uhr abends, wo das Haus geschlossen wurde, allein und meistens geistig beschäftigt; auch hielt ich streng auf achtstündigen Schlaf. Desgleichen regulierte ich meine Ernährung sorgfältig. Die Stunden der philosophischen Vorlesung darf ich zum geistigen Alleinsein rechnen; sie fielen in den Vorabend, und zwar nur einen um den andern Tag. Ich vernachlässigte also, vom Laster abgesehen, niemals die Hygiene, hielt z. B. die Kantische Regel, nur durch die Nase einzuatmen, unverbrüchlich, auch beim Sprechen inne. Verdanke ich ihrer Befolgung, daß meine asthmatische Konstitution mich nicht belästigte? Vier Jahre, von 1907–1911, führte ich in dieser Wohnung tagsüber ein monoton arbeitsames, aber nachts ein ausschweifend abenteuerliches, also ein Doppelleben. Der Diameter meines Bekanntenkreises klafterte zwischen den Extremen der Menschheit, vom Genius bis zur Hefe. Die Schilderung dieser bunten Erlebnisse würde ein Buch für sich erfordern.

Zu meiner Bekanntschaft gehörten damals außer den schon Genannten auch Martin Buber, der Bildhauer Glycenstein, Erich Mühsam, Ludwig Rubiner, Landauer, Hedwig Lachmann, Kurt Hiller u. a. Wer Lust hat, den Reflex 230 dieser Geselligkeit zu beobachten, der lese meine Grotesken. Als ich einmal Rubiner ein paar dieser Schwänke mündlich zum Besten gab, amüsierten sie ihn, und er riet mir, sie zu veröffentlichen. Zugleich stieß mich ein Hansnarr meines näheren Umgangs, ein zu tollen Streichen aufgelegter Ungar, in die Richtung des Protestes gegen alle literarische Ernsthaftigkeit. Otto Flake nennt mich daher auch unter den Vätern des nachmaligen Dadaismus als dessen ihn geistig übertreffenden Vorwegnehmer . . .

Ich hatte nicht selten in jenen Jahren das Vortragspodium bestiegen, um aus meinen ernsten und heiteren Büchern vorzulesen. Auch in Kabaretten tat ich das mitunter. Man hatte mich öffentlich in Berlin, Frankfurt, Essen, Hannover, Mannheim, Dresden, Hamburg usw. gehört. Mein Freund Rundt, der in Wien ein Theater leitete, ließ mich in Heller's Salon sprechen. In Rundt's Theater gastierte damals Moissi, den ich dadurch kennen lernte. Übrigens hatte man in Wien für meine Art Groteske kein Organ. Karl Kraus motivierte seinen Verlag, ein Buch von mir herauszubringen: «Mein hundertster Geburtstag»; aber auch dies scheint unter den Tisch gefallen. Rundt und seine damals noch nicht von ihm geschiedene Frau, von Peter Altenberg unter ‹R. R.› angebetet, waren entzückend gastlich gegen mich. Als ich Abschied nahm, fragte mich Rundt, ob er mich gut aufgenommen habe. Als ich lachend antwortete: wie einen Verwandten, ärgerte er sich neckisch: «Nein, viel besser! So gut behandle ich meine Verwandten nicht.» . . .

Von Wien aus reiste ich nach dem oberösterreichischen Wernstein am Inn, in dessen Nähe mitten in dieser wunderbaren Landschaft mein Freund, der Maler Alfred Kubin, sein Schlößchen Zwickledt bewohnte. Kubin kannte mich durch meine ‹Schöpferische Indifferenz›, auf die er in seiner Autobiographie hinweist. Wir hatten über dieses Thema korrespondiert. Der Maler-Philosoph empfing mich etwas enttäuscht, weil er mich für jünger gehalten hatte. Wir verlebten zwei Tage voll geistiger Übereinstimmung, obgleich 231 er als Künstler mehr im Element der Phantasie zuhause ist . . . Weil ich in allen meinen Büchern nicht nur die Phantasie spielen, sondern oft den puren Intellekt sprechen lasse, fiel es Kubin nicht leicht, meinen ‹Schöpfer› und ‹Unterm Leichentuch› zu illustrieren. Kubin schenkte mir eine Reihe seiner Bilder und Mappen, und hier an der Wand meines Pariser Exils hängen Originale, die er mir zum 64. und 65. Geburtstage widmete, ein Mondaquarell und ‹Hazard›, ein Würfelspiel mit dem Tod, der anstelle des Gesichts nur ein schwarzes Rund unter weißer Kapuze zeigt. Kubin begleitete mich nach Passau, wo ich die Grenze nach Deutschland kurz vor der sogenannten Revolution überschritt, eine Revolution, welche, wie bisher alle, der Extreme nicht Herr wird, weil statt der herrschenden sonnenhaften Vernunft- und Gesetzesmacht und Mitte, eine allzu menschliche Pseudomitte ihre ewig vergebliche Herrschaft versucht . . .

Ich versenkte mich tiefer in Kants und Marcus' geistigen Heliozentrismus, den die Moderne immerfort ‹erneut›, d. h. antiquiert, historisiert, bis er zum Nichtwiedererkennen schließlich gar marxistisch interpretiert wird, und der Masse die wahre Orientierung fehlt, weil sie den Führern abhanden gekommen ist. Wie hätte sonst ein vorkritischer Skeptiker, Nietzsche, derart erfolgreich wirken können! Meine jugendliche Konzeption des menschlichen Ich fand ihre Geburt als ‹Schöpferische Indifferenz›. Das Erscheinen dieses Buches verdankt sich einem komischen Zufall. Der Dichter Leonhard Frank, Autor des pazifistischen Novellenwerks ‹Der Mensch ist gut›, besuchte mich, und ich klagte ihm mein Leid über die Unanbringbarkeit des Manuskripts. Er entflammte idealistisch, nahm die Handschrift nach München zu seinem Verleger Georg Müller und zwang diesen diktatorisch, wie er mir erzählte, zur Annahme, indem er ihm drohte, ihm sonst keines seiner Werke mehr anzuvertrauen. Als ich Frank später mal fragte, wie er mein Buch fände, gestand er mir, er kenne es gar nicht, mich aber kenne er als geistigen Menschen, und das genüge ihm . . . Er 232 sowohl, wie alle diese ‹linken› Geistigen, orientierte sich, in die politischen Wirbel gestoßen, marxistisch. Das ist vielleicht eine ökonomische, sicherlich aber keine geistige Lösung. Jedoch hieß es selbst bei diesen sogenannten Geistigen: ‹Primum vivere, deinde philosophari›, und ich schien ihnen der Eremit im Glaskasten . . .

Ein Wesen, verglichen mit dem die geistige und leibliche Pest des Mittelalters noch zum Wohltätigkeitsinstitut wird, bestieg den Thron und herrscht, während ich diese Zeilen schreibe, mit allen seinen würdigen Paladinen. Daß so etwas möglich ist, beweist, daß noch kein kategorischer den überall mehr oder minder herrschenden opportunistischen Imperativ ernstlich unterworfen hat. Überall entbrennt immer nur der Kampf zwischen engherzigerem und weitherzigerem Opportunismus, zwischen nationalem und internationalem; und überall noch verwechseln auch die ‹Gebildeten› den Sieg des internationalen mit Freiheit, mit Moral; oder sie bilden sich ein, Opportunismus könne sich jemals zur Sittlichkeit entwickeln. Aber das Böse entwickelt sich niemals zum Guten, immer nur zu mehr oder minder Bösem. Zugegeben, der Sozialismus oder Kommunismus ist minder böse. Aber gut ist nur: lex opportunitate soluta. Das Allerwertvollste, Allerwichtigste auf Erden ist das gute Ich. – Die politische Wendung ließ mich überlegen, ob ich nicht besser täte, aus einem so verpesteten Bereich zu fliehen. Zugleich beschäftigte mich dringend das Problem, ob und wie ich meine ‹Schöpferische Indifferenz› kritisch, also innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft unterbringen könne. Auf diese Möglichkeit hatte mich Marcus selbst durch seine Theorie einer natürlichen Magie hingewiesen. Zur Lösung dieses Problems sollte ich erst in Paris kommen. Als der stiere und sture Tyrann sein bestialisches Regiment anhub, wurde meine preisgekrönte Novelle ‹Der antibabylonische Turm› in einer Druckerei zu Buch gebracht, deren Leiter mir mit dem Konzentrationslager drohte, falls ich den Text nicht retuschierte. (Glücklicherweise besitze 233 ich den unveränderten Fahnenabzug) Natürlich zog ich das Exil vor . . .

In Paris stellte sich für mich heraus, wer ich eigentlich bin; d. h. was der Mensch ist: ‹Magier›! Äußerer seines inmitten der beirrenden Welt sich selbst ungemein schwer entdeckenden Innens. Erst in Paris kam ich mit Hilfe von Kant und Marcus endlich zu mir selbst wie zum Zentrum des Menschenlebens . . . Kant entdeckte erst in reifsten Jahren den aprioristischen Organismus, der alle Empiria regiert. Ohne Marcus hätte ich Kant niemals verstanden, und beide verhalfen mir zum kritischen Polarismus. Ich schrieb mein wichtigstes Buch: ‹Das magische Ich› . . . In meinen ersten Kinderjahren erlebte ich mich absolut egozentrisch. Mit dieser Verfassung stieß ich auf ein Außen, das ich nur als Störung empfand, bis ich objektiv materialistisch, subjektiv humoristisch oder lyrisch-sentimental damit umgehen lernte. Als Zwanzigjähriger geriet ich in den Bannkreis Schopenhauers, dessen Farbenlehre mich mit der Polaritätsformel, dadurch mit der polaren Welt Goethes bekannt machte. Als ich durch Nietzsche zum skeptischen Freigeist geworden war, erretteten mich zwei mächtige geistige Experimente davor, im schlechten Sinn modern zu bleiben: Polarismus und Kritizismus. Aber erst in meinem 65. Jahr fand ich die magische Formel des kritischen Polarismus.

 


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