Mynona (Salomo Friedländer)
Rosa die schöne Schutzmannsfrau und andere Grotesken
Mynona (Salomo Friedländer)

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Die vegetabilische Vaterschaft

Wie töricht, es für Zufall zu halten, daß Blumen das Gemüt anziehen, fesseln, gleichsam magnetisieren. Man muß gefühllos sein, um den sympathetischen Strom nicht zu spüren, der z. B. von einer schönen, voll erblühten Rose ausgeht. Und dabei wäre die Rose selbst unbeteiligt? Verlasse man sich doch nicht so aberwitzig fest auf die willenlose Unbewußtheit der Pflanzen, da man doch sieht, wie charakteristisch sie uns in jedem einzelnen Falle bestimmt beeinflussen können. Dieser Einfluß hält sich meistens, ich möchte sagen, in den Schranken des Anstandes; zuweilen aber kann er außerordentlich weitgehen. Es ist nur von tollkühnen Hypothesenmachern zu zweifeln, daß Pflanzen (kennt man doch sogar fleischfressende) auf Tiere und Menschen geradezu suggestiv einwirken können. Überhaupt ist diese wie mit der Schere geschnittene Abtrennung der Wesen das Werk gelehrter Pedanten, die nicht wissen, daß sie gegen den Zusammenhang der Natur sündigen, wenn sie trennen, ohne gehörig wieder zu verbinden. – Eine rosa Rose nickte weit hervor aus dem vollen Gebüsch, an dessen Rande mittags im Garten nur lose gewandet das junge Mädchen schlief. Diese Rose war mit Zauberaugen sehnsüchtig auf das junge Mädchen gerichtet. Wie von geheimer Absicht geleitet, flatterte eines ihrer lichten Blätter auf die linke Brust des Mädchens. Dieses fuhr mit der Hand nach dem Herzen, schlug die Lider auf, und Auge in Auge starrten sich das Pflanzengeschöpf und das junge Weib. Die stumme Faszination, welche von der Rose ausging, brachte das Mädchen tief in deren Bann. Man hört von Schlangen, welche den Vogel durch solche Bezauberung in ihren Rachen locken. Die Rose schien irrsinnige Kräfte anzustrengen. Das Mädchen, vom Anblick der Rose gegen seinen Willen betäubt und zum Halbschlaf gezwungen, sah, noch ehe seine Augen sich wieder schlossen, die Rose auf ihrem Stengel 96 schwanken und sich tief niedersenken. Es träumte einen Liebestraum. Die Rose verwandelte sich in einen schönen Jüngling, und dieser umschlang und genoß das ganz hingegebene Mädchen. Es erwachte nach einer Weile wie berauscht mit der Empfindung eines dunklen Wissens in den Gliedern. Der Mund brannte ihm von seltsamer Glut. Sein Schoß war mit Rosenblättern überschüttet, die Kleidung derangiert. Unwillkürlich sah es nach der Rose hin, aber es wiegte sich nur deren Stengel im Winde; die Rose schien spurlos abgefallen. –

Einige Wochen später fühlte sich das Mädchen von sonderbaren Gefühlen und leiblichen Affektionen befallen. Der Arzt schüttelte den Kopf; er beschloß abzuwarten und verriet seine Diagnose noch nicht: «Sie neigen zu Schwindel und Erbrechen, Gnädigste; Sie empfinden gewisse Spannungen. Vielleicht sagen Sie mir aufrichtig: unterhalten Sie ein Liebesverhältnis?» Dieser Arzt wurde nicht mehr konsultiert. Indessen mehrten sich die Anzeichen eines abnormen Befindens. Man befragte nach einigen Wochen einen andern Arzt, und dieser erklärte mit Bestimmtheit sogenannte interessante Umstände. Als das Mädchen voller Empörung aufflammte, kalkulierte er: Hysterie. Jedenfalls schien eine wahre Schwangerschaft regelrecht eingeleitet, und nach und nach traten deren Phasen so unverkennbar ein, daß das Mädchen selber sich nicht mehr weigern konnte, dies anzuerkennen. Es half ihr nichts – eines Tages mußte die Wehemutter geholt werden.

Geboren wurde – niemand war so überrascht wie die junge Mutter – ein kleines Mädchen von wunderbarstem Liebreiz, welches immer herrlicher erblühte. Die Kleine ähnelte ihrer Mutter, nur daß sie ätherischer, engelhafter erschien. Ihre Haut war von durchsichtig zartem Rosa, die Augen traumhaft grünlich; leichtes Muttermal in Form eines Rosenblattes; die Haare schimmerten silbern. Ihr Gang glich einem Schweben ohne alle Bewegung der Glieder, einer gleitenden Rose. Aber sie blieb stumm, obgleich 97 sie alles verständig in sich aufzunehmen schien. Sie schwieg intelligent und anscheinend aus Überlegenheit, keineswegs stupide. Man brachte ihr alle Kenntnisse leicht bei; sie äußerte sich auch schriftlich niemals über ihr Innenleben. Besonders aber in der Blumenmalerei brachte sie es zu erheblicher Fertigkeit, ja zur meisterhaften Kunst; mit Vorliebe zeichnete sie voll erblühte Rosen. Unter eine Rose, bei deren Anblick ihre Mutter tief erschrak, schrieb sie, man weiß nicht warum, das Wort «Vater!» Die Mutter, kalt angewandelt und durchschauert, forschte vergebens nach der Auflösung des Rätsels.

Die Pubertät des Kindes ergab jedoch eine Katastrophe; glücklicherweise gelang es der Mutter, ihrer Fassung Herr zu bleiben und ein undurchdringliches Geheimnis zu bewahren. Eines Abends, als die Mutter mit der Kleinen zur Nacht betete, verwandelten sich deren gefaltete Händchen allmählich in grüne Zweige, die übrigen Glieder, der ganze Leib schrumpfte zu einer Blattpflanze ein, zu einem unvergleichlich schönen, süß duftenden Rosenbusche, der starr auf den Kissen lag und die entsetzte Mutter, welche sofort um Hilfe schreien wollte, durch seinen bloßen Anblick in lethargischen Bann schnürte. Nach einer Viertelstunde unmenschlicher Bangigkeit sah die Mutter, wie sich die Pflanze wieder in das Mädchen zurückverwandelte. Das Mädchen schrieb auf seine Tafel: «Der Tribut, welchen ich dem Vater zolle – von jetzt an stets kurze Zeit vor dem Einschlafen!!!» – Die Mutter gelobte dem flehenden Kinde Diskretion. «Aber welchem Vater?!» fragte sie vergeblich. Das Kind blieb stumm. Niemand erfuhr von dieser allmählich eintretenden flüchtigen Metamorphose, deren Wunderbares man übrigens nicht übertreiben sollte. Pflanzen und Tiere sind ja in gewisser Beziehung physiologische Umkehrungen voneinander. So groß ist die Macht der Gewohnheit, daß die Mutter sich schließlich gewundert hätte, wenn die mysteriöse Umwandlung einmal ausgefallen wäre. –

Das Töchterchen war inzwischen zu einer so seraphisch 98 anmutsvollen Jungfrau herangereift, daß, trotz der angeborenen Stummheit, ihre Hand vielfach begehrt wurde. Die Jungfrau wies einen Freier nach dem andern unberührten Herzens ab. Endlich kam der Richtige, der ihr Jawort empfing. Er hieß Dr. Floris Rosenberger, hatte ein etwas düsteres, brutales Aussehen und war Anatom. Die Mutter willigte in seinen Antrag. Bald nach der Verlobung wurde der Termin zur Hochzeit angesetzt. Kurz vor der Trauung nahm die Mutter den Doktor beiseite: «Sie versprechen mir, Ihre junge Frau nicht eher aufzusuchen, als bis sie zur Nacht gebetet hat. Befolgen Sie diese meine dringende Bitte, mein lieber Schwiegersohn, heute, ohne daß ich Ihnen Näheres sage. Ich werde Ihnen morgen jede Aufklärung geben.» Floris gelobte ihr das in die Hand. Aus Ängstlichkeit hatte die Mutter das Geheimnis zu lange bewahrt, sie hätte den künftigen Gatten des Mädchens längst einweihen sollen. Sie war aber auch ängstlich, die Liebe der Tochter einer etwaigen Enttäuschung auszusetzen. Von einer leise kupplerischen Überrumpelung ist sie leider nicht freizusprechen. Sie verschwieg ein Gebrechen zwar nicht, immerhin aber eine höchst paradoxe Qualität der Braut, welche vielleicht Herrn Dr. Rosenberger abgeschreckt haben würde. Nun, sie ist überschwer dafür bestraft worden. –

Der Bräutigam war, abgesehen von seiner Verliebtheit, ein sehr nüchterner Herr. Wie die Männer gewöhnlich, hatte er nur eine dumpfe Ahnung von der Sphinx-, der Undinen- und Melusinennatur des Weibes. Ihn verlangte nach einer ein wenig poetischen Würze seines hausbackenen Anatomendaseins; er hätte sich aber höflich dafür bedankt, mit einer wunderschönen Pflanze auch nur auf fünf Minuten verheiratet zu sein. Den Worten der Schwiegermutter entnahm er lächelnd den Schluß auf etwas Frömmelei bei seiner Frau; er traute sich heiter zu, ihr diese abzugewöhnen. Wie wäre es, wenn er heute abend sofort eingriffe! Natürlich, er hatte sein Wort gegeben – aber nach einer kurzen Anstandsfrist würde er rasch das Terrain erobern. Mit 99 welchem Entzücken geleitete er seine Braut an die Tür des gemeinsamen Schlafzimmers. Nach langem Kuß drückte er ihr die Hand: «Meine Geliebte», sagte er, «ich weiß, du betest erst noch gern für dich allein – ich warte.» Er wartete, die aufgeklappte Uhr in der Hand, einige Minuten und drückte dann auf die Klinke. Als er die Tür verriegelt fand, lächelte er schalkhaft; ein ihm bekannter Kunstgriff öffnete die Tür von außen; diese Maßregel, welche sich bei seinen Liaisons bewährt hatte, war auch hier getroffen worden.

Das Zimmer hatte keinen andern Ausgang, dennoch war es zu seiner Befremdung leer. Die abgelegten Kleider seiner Frau bemerkte er auf einem Polster. Er rief, suchte, räumte hin und her, schob an den Möbeln, warf sich unters Bett, wurde wie toll vor Eifer und erklärlichen Gefühlen. Da er einen Rosenbusch im Ehebette liegen sah, lachte er ärgerlich auf: «Blumen im Schlafzimmer, und gleich so ein Büschel. Ungesund!» In irgendeiner bangen Ahnung rannte er mit dem Rosenbusch auf den Balkon und beugte sich über das Geländer – gottlob: es war nichts, sie spielte nur Versteckens. Schelmin! Er lächelte wieder. Unten sah er die frisch engagierte Zofe seiner Frau, Emma. «Emma», rief er. «Gnädiger Herr?» «Fangen Sie mal auf! Holla! Tun Sie's in eine hübsche Vase! Morgen zum Frühstück.» Damit schleuderte er den Rosenbusch nach unten. Tragischerweise vollzog sich mitten in der Luft die Metamorphose – auf dem Pflaster lag nackt ein zerschmettertes Weib.

Die Zofe schrie entsetzlich auf. Der Unglückliche rannte spornstreichs wie im Wahnsinn zu seiner Schwiegermutter. Zu gleicher Zeit alarmierte man, auf die Schreie der Zofe herbeigeeilt, die Polizei. Von seiten dieser war, laut der genauen Bezeugung Emmas, nicht zu bezweifeln, daß Dr. Rosenberger seine Frau über das Balkongitter geschleudert hatte. Frivolerweise scherzte er noch grausam: «Zum Frühstück in eine Vase!» Die eigene Mutter hingegen nahm den Mörder in Schutz, stammelte aber zu dessen Verteidigung so abstruses Zeug, daß es verwunderlich war, einen 100 wissenschaftlich gebildeten Mann wie Herrn Dr. Rosenberger sich sehr heftig darauf berufen zu hören. Ja, meinte er, die Mutter berichte die Wahrheit: seine Frau wäre, ohne sein Wissen, ein Rosenbusch gewesen; in einen solchen hatte sie sich, wie ihre Mutter bezeugte, vor dem Einschlafen auf kurze Zeit verwandelt. –

Selbstverständlich brachte man die Mutter und den Mörder ins Irrenhaus. – Professor Schölze äußerte geistvoll dem Berichterstatter der E. S. E. L. gegenüber: Umgedrehte Lucia von Lammermoor. Brautnächte mit solchen Ermordungen seien typisch in gewissen Formen der Hysterie. – Die Obduktion der Leiche ergab übrigens einen Befund, welcher noch der Aufklärung bedarf. Man fand nämlich in der Tat einige Durchwachsungen mit Pflanzenstrünken und Ansätze wie zu Blütenknospen. Dr. Rosenberger ist Anatom – sollte er die Grausamkeit besessen haben, bevor er die unglückliche Frau vom Balkon warf, bestialische Experimente mit ihr anzustellen? Wird man es jemals erfahren? – 101

 


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