Mynona (Salomo Friedländer)
Rosa die schöne Schutzmannsfrau und andere Grotesken
Mynona (Salomo Friedländer)

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Das vertikale Gewerbe

Befürchten Sie nichts, Leserin! Wir wollen von etwas anderem reden. Kommen Sie doch bitte nach der Zeppelinstraße. So. Da sind wir schon. Sie sehen eine Ballonhalle? Recht! Wir gehen hinein, wir werden einen Aufstieg machen, innerhalb einer Stunde sämtliche Länder der Erde überfliegen – und doch in dieser Ballonhalle bleiben.

Sie wissen, man kann bereits auf ähnliche Weise zu Wasser und zu Lande reisen, in der Illusion, man säße in einem fahrenden Schiff oder Eisenbahnwagen; die gemalte Landschaft rollt draußen vor den Fenstern vorbei. Die Luftschiffahrt aber, die wir jetzt vorhaben, wird Sie durch die Restlosigkeit der Illusion entzücken. In diesem eigens zur exakten Vortäuschung von Luftreisen errichteten Kino hängt der Zuschauerraum hoch über der Schirmbühne. Sie kennen die Technik der sogenannten Hexenschaukeln: der Platz des Zuschauers ist stabil, der Raum aber um ihn herum beweglich, so daß der Plafond und der Fußboden beliebig miteinander verwechselt werden können, und der Zuschauer desorientiert und schwindlig wird. Nach diesem Beispiel sollten alle Räume zu Darstellungen eingerichtet sein; das beliebte horizontale Kino, in dem der Schirm sich vor dem Zuschauer befindet, ginge dann mit Leichtigkeit so zu verwandeln, daß der Zuschauer sich bald unter, bald über dem Schirm plaziert sähe; dadurch könnten die wunderbarsten Wirkungen hervorgebracht werden!

Hier nun treten wir ein wie in die Gondelgalerien eines Riesenluftschiffs. Diese Gondelgalerien sind an der Decke eines Saales befestigt, und diese Decke ist dem Bauch eines Ballons nachgebildet. Von diesem Ballongewölbe hängt, an Tauwerk und Schnüren, das Parallel-Ring-System aus vier Galerien herab, auf dem Sitzplätze so angebracht sind, daß die Zuschauer über beide Brüstungen nach unten sehen können. Die innerste Galerie hat nur eine Brüstung nach 88 außen hin; ihr Kreisrund ist nach innen hin durch einen Fußboden ausgefüllt; unter diesem befindet sich die Zelle des Technikers mit dem Projektionsapparat, dessen Aufnahmen bei Gelegenheit wirklicher Luftschiffahrten angefertigt worden sind. Beiläufig bemerkt, hört sich das Geräusch dieses Apparates wie das Surren der Schraube eines Luftschiffs an und dient also zur Erhöhung der Illusion.

In senkrechter Tiefe unter diesen Galerien liegt die Bühne wie in einem Abgrund. Würde man einen Schlafenden auf eine dieser Galerien bringen und ihn dort aufwecken; sähe er dann über sich das Tauwerk und den Ballon, hörte er das Surren wie von einer Schraube und überzeugte sich beim Blicken in die Tiefe, daß unten etwa London vorbeizöge – so würde er niemals auf die Vermutung einer Illusion geraten. Mit größter Leichtigkeit sind Abstieg und Aufstieg vorzuspiegeln: das zum Aufstieg gebrauchte Filmband wird umgekehrt abgerollt.

Gleich das erste Bild wirft Sie unentrinnbar in den Wahn, Sie schwebten über der Halle desselben Theaters, in dem Sie sitzen, aufwärts, und Sie sähen, aus der Vogelperspektive, die weitere und immer weitere Umgebung. Der Lauf beschleunigt sich, und eine Reihe immer fernerer Landschaften und Städte ziehn unter Ihren Augen vorüber. Sie überfliegen Gebirge, Meere, Ströme; unter Ihnen rollt die ganze Erde vorbei.

Das ist aber noch gar nichts gegen die ungeheuere Steigerung der Illusion durch den Umstand, daß der Apparat schließlich astronomische Objekte projiziert, und Sie sich wirklich unter die Sterne versetzt glauben können. Diese Aufnahmen sind künstlich, aber sehr raffiniert hergestellt. Ihre Reihe beginnt mit der Erhebung von der Erdkugel: Sie sehen z. B. unter sich das Meer mit einigem Inselland; es versinkt in die Tiefe und wird dabei zauberhaft plötzlich sphärisch, die Wölbung wird kleiner und kleiner – auf einmal liegt sie tief unter Ihnen als Erdkugel, und Sie sind im 89 Raum ohne Boden, bis Sie sich einer neuen Sternwelt, etwa dem Mond, dem Mars, wo nicht gar der Sonne nähern.

Wie? Sie sagen, es gäbe weder die Zeppelinstraße noch so ein Kino? Sie irren sich! Die Kino-Unternehmer sind noch lange nicht so dumm, eine solche Gründung zu unterlassen. Und übrigens, argwöhnen Sie vielmehr, die gesamte Welt wäre bereits ein so vertikales Gewerbe – aber nicht bloß optisch, sondern plastisch bis in alle Sinne hinein. Adieu! – – – 91

 


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