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Achtzehntes Kapitel.

Ferientage am Meere.
1848–1851.

Der Abschnitt von Dickens' Leben, welcher sein wanderndes Schauspielerleben umfaßte, war auch in anderer Beziehung nicht ohne Interesse; und dies Kapitel wird von einigen seiner Ferienzeiten am Meere berichten, ehe ich zu der Veröffentlichung der Geschichte › Der Besessene‹ (1848) und der Gründung der Zeitschrift (1850) übergehe, welche schon ein halbes Dutzend Jahre vorher seine Gedanken beschäftigt hatte und fast ebenso häufig in diesen Blättern angedeutet worden ist.

Unter den Vorgängen des Jahres 1848, ehe die Ferienzeit herankam, befand sich die Entthronung Louis Philippe's und die Geburt der zweiten französischen Republik, bei welcher Gelegenheit ich vorauszusagen wagte, daß einer unserer Freunde in Gore-House und sein Freund Graf d'Orsay und Louis Napoleon – D. Uebers. binnen drei Tagen auf dem Schauplatz der Ereignisse sein würde. Die drei Tage gingen vorüber und ich erhielt folgenden Brief: » Mardi, Février 29. 1848. Mon Cher. Vous êtes homme de la plus grande pénétration! Ah mon Dieu, que vous êtes absolument magnifique! Vous prévoyez presque toutes les choses qui vont arriver; et aux choses qui viennent d'arriver vous êtes merveilleusement au-fait. Ah cher enfant, qu'elle idée sublime vous vous aviez à la tête, quand vous prévîtes si clairement que Monsieur le Comte Alfred D'Orsay se rendrait au pays de sa naissance! Quel magicien! Mais - c'est tout égal, mais - il n'est pas parti. Il reste à Gore-house, où, avant-hier, il y avait un grand dîner à tout le monde. Mais quel homme, quel ange, néanmoins! Mon ami, je trouve que j'aime tant la République, qu'il me faut renoncer ma langue et écrire seulement le langage de la République de France - langage des Dieux et des Anges - langage, en un mot, des Français! Hier au soir je rencontrai à l'Athenaeum Monsieur Mac Leese, qui me dit que MM. les Commissionnaires des Beaux-Arts lui avaient écrit, par leur secrétaire, un billet de remercîments à propos de son tableau dans la Chambre des Députés et qu'ils l'avaient prié de faire l'autre tableau en fresque, dont on y a besoin. Ce qu'il a promis. Voici des nouvelles pour les champs de Lincoln's Inn! Vive la gloire de France! Vive la République! Vive le peuple! Plus de Royauté! Plus des Bourbons! Plus de Guizot! Mort aux traîtres! Faisons couler le sang pour la liberté, la justice, la cause populaire! Jusqu'à cinq heures et demie, adieu, mon brave! Recevez l'assurance de ma considération distinguée, et croyez-moi, concitoyen! votre tout dévoué, Citoyen Charles Dickens.« Es zeigte sich, daß ich trotz alledem nicht so ganz unrecht hatte, als mein Freund meinte.

Etwas früher als gewöhnlich besuchte er in diesem Sommer, am Schluß der Shakespeare-Vorstellungen, Broadstairs noch einmal, da er keine wichtige schriftstellerische Arbeit in Händen hatte; aber während der kurzen Zwischenzeit vor seiner Abreise sah er ein in jenen Tagen berühmtes Ding: die Chinesische Junke; und ich erhielt eine so gute Beschreibung davon, daß ich damals der Versuchung nicht widerstehen konnte, von einigen Theilen derselben Gebrauch zu machen. »Fahre nach der Blackwall-Eisenbahn,« schrieb er mir, »und für achtzehn Pence wirst Du in kürzester Zeit in das chinesische Reich kommen. In zehn Minuten schwinden die Ziegel und Schornsteine, die Rückseiten schmutziger Häuser, die muffigen Stücke wüstliegenden Bodens, die engen Höfe und Straßen, die Sümpfe, die Gräben, die Masten der Schiffe, die Gärten von Dockgras und die ungesunden Lauben von rothen Bohnen wie ein Traum dahin und es bleibt nichts übrig als China. Wie das Blumenland je in diese Breiten- und Längengrade kam, ist das erste wonach man fragt; und gewiß ist es nicht das geringste der Wunder. Wie Aladdin's Palast durch das Reiben einer Lampe hierhin und dorthin getragen wurde, so waren die chinesischen Matrosen tief durchdrungen von dem Glauben, daß ihr gutes Schiff ganz sicher in dem gewünschten Hafen ankommen werde, wenn sie nur genug rothe Lumpen an Mast, Steuerruder und Kabel befestigten. Irgendwie gelang es ihnen nicht. Vielleicht kamen sie mit ihren Lumpen zu kurz; jedenfalls hatten sie nicht genug an Bord, um sie über Wasser zu halten und unzweifelhaft würden sie zu Grunde gegangen sein ohne das Geschick und die Entschlossenheit eines Dutzend englischer Matrosen, die sie in Sicherheit über das Meer hinüberbrachten. Nun, wenn es irgend etwas in der Welt gibt, dem dieses außerordentliche Fahrzeug nicht gleicht, so ist das ein Schiff irgend welcher Art. So eng, so lang, so grotesk, so niedrig in der Mitte, so hoch an jedem Ende, wie ein chinesisches Federbrett, ohne Tauwerk, ohne Vorkehrungen hinaufzusteigen, statt Segel Matten, statt Masten große gebogene Cigarren, bunte Drachen und See-Ungethüme, die sich vom Vorsteven bis zum Hintersteven herumtummeln und auf dem Hintersteven ein riesenhafter Hahn von unmöglichem Aussehen, der (wie er wohl mag) die Welt herausfordert, seines Gleichen zu produciren – würde dies Schiff heimischer scheinen auf dem Dache eines öffentlichen Gebäudes, oder auf dem Gipfel eines Berges, oder in einer Allee von Bäumen, oder unten in einem Bergwerk, als wie es auf dem Wasser schwimmt. Was die auf dem Verdeck herumlungernden Chinesen betrifft, so würde die ausschweifendste Phantasie nie wagen, sie für Seeleute zu halten. Stelle Dir die Bemannung eines Schiffes vor ohne ein einziges Profil, in Schürzen von Gaze und mit geflochtenen Haaren, an den Fußsohlen steife Klötze, einen Viertelfuß dick, und Nachts in kleinen parfümirten Kasten liegend, wie Tricktrackstücke oder Schachfiguren, oder Perlmutter-Marken! Aber bei Gott! selbst das ist nichts gegen Deine Ueberraschung, wenn Du in die Kajüte hinuntergehst. Da geräthst Du in eine wahre Folterkammer der Verlegenheit. Wie z. B.: was wurde aus allen diesen an der Decke hängenden Laternen, als die Junke auf dem Meere war? Baumelten sie da herum und stießen und schlugen sie gegeneinander, wie ebenso viel Narrentand? Oder fiel das Götzenbild Chin Tee mit den achtzehn Armen, das in einer Art himmlischem Puppentheater an dem Ehrenplatz aufgestellt ist, je in stürmischem Wetter heraus? Oder brannten der Weihrauch und die Kerze noch mit einem leisen Duft und einem kleinen Rauchfaden vor dem Bilde weiter, als die mächtigen Wogen rings umher brüllten? Oder stand jener außerordentliche Regenschirm von Seidenpapier immer aufgespannt in der Ecke, als ein bequemes maritimes Möbel, zum Umherwandern auf dem Verdeck im Sturme? Oder glitten alle die kühlen und glänzenden kleinen Tische und Stühle beständig umher und stießen sich aneinander? und wenn nicht, warum nicht? Oder las irgend Jemand während der Reise jene zwei Bücher, die in Vogelbauer- und Fliegenfallen-ähnlichen Schriftzeichen gedruckt sind? Oder fing der Mandarin-Passagier, He Sing, der nie vorher in seinem Leben zwei Meilen von Hause entfernt gewesen war, und wie krank auf einem Bambuslager in seinem eigenen Privatstübchen von Porcellan daliegt (wo er beständig mit dem Schreiben von Autographen für neugierige Barbaren beschäftigt ist), fing er je an der Macht der Göttin der See zu zweifeln an, deren Conterfey, wie eine blumige Amme, das Bethaus der Matrosen in der zweiten Galerie bewohnt? Oder ist es möglich, daß besagter Mandarin, oder der Künstler des Schiffes, Sam Sing, Esq., Mitglied der Kaiserlichen Akademie in Canton, je an's Land gehen können, ohne ihren Spazierstock von Zimmt, nach der Weise ihrer Abbilder in den britischen Theeläden? Vor Allem: meinte der heisere alte Ocean es je ernst mit diesem schwimmenden Spielzeugladen, oder hatte er nur in heiterem Muthe damit gespielt – rauh, aber ohne böse Absichten – wie der Ochse am Morgen des St. Patricktages mit einer andern Art von Porcellanladen spielte?«

Meine Antwort hierauf brachte mir nicht minder belustigende Erklärungen und Zusätze. »Ja, es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß dies die Finalität in ihrer vollendetsten Gestalt ist; und es ist ein großer Vortheil, daß man die Lehre in dem Winkel eines Docks, bei einem fashionabeln Whitebait-Haus, zur Erbauung der Menschen so schön entwickelt sehen und in sich abgeschlossen studiren kann. Jahrtausende sind verflossen seit die erste Junke nach diesem Modell gebaut wurde, und die zuletzt vom Stapel gelassene Junke ist durch den Verlauf dieser ganzen gewaltigen Zeit um nichts besser geworden. Das an ihrem Vordertheil gemalte mimische Auge, das ihnen helfen soll, ihren Weg zu finden, hat sich ebenso weit geöffnet und ebenso weit gesehen, als irgend ein wirkliches Sehorgan, während der ganzen Zwischenzeit, in dem ganzen gewaltigen Umfang jenes seltsamen Landes. Es hat Jahrtausende hindurch mit ebenso wenig Nutzen in den chinesischen Köpfen gesteckt. Trotz aller ihrer geduldigen und erfindungsreichen, aber nie fortschreitenden Kunst und trotz des reichen fleißigen Anbaues ihres Landes, haben sie nie einer Elfenbeinkugel eine neue Drehung oder Krümmung gegeben und kein Halm der Erfahrung ist gewachsen. Darin liegt eine echte Finalität; und wenn man hinter dem hölzernen Schirme hervorkommt, der den seltsamen Anblick verbirgt, um wieder den Fluß und die mächtigen Zeichen des Lebens, der Unternehmung und des Fortschritts an seinen Ufern zu betrachten, so ist die Frage, die sich zunächst aufdrängt, unzweifelhaft eine heimische. Ob auch wir etwa je in Stürmen rothen Lumpen vertrauen, oder Weihrauchstengel vor Götzenbildern verbrennen, oder mit Hülfe conventioneller Augen, die kein Gesicht haben, unsern Weg suchen, oder wesentliche Thatsachen absurden Formen aufopfern? Die unwissenden Matrosen des Keying weigerten sich, an der Fahrt theilzunehmen, ehe die Eigenthümer eine beträchtliche Menge Silberpapier, Staniol und Weihrauchstengel zum Zweck des Gottesdienstes herbeigeschafft hatten. Und ich möchte wissen, ob unsere Matrosen, nicht zu reden von unsern Bischöfen und Dekanen, sich in ihren Entschlüssen je durch Silberpapier, Staniol und Weihrauchstengel bestimmen lassen. Das Christenthum ist kein Chin-Teeism, und das ist vermuthlich der Grund, weshalb wir den Zweck nie über verächtlichen und nichtssagenden Zänkereien wegen der Mittel aus den Augen verlieren. Jedenfalls ist am Bord des Keying Stoff zum Nachdenken genug, um für die Heimreise nach England auszureichen.«

Andere, im Laufe des Sommers von Broadstairs geschriebene Briefe, werden dasjenige vervollständigen, was Dickens im vorhergehenden Jahre aus demselben Orte über Cruickshank's Bemühungen um die Sache der Mäßigkeit geschrieben hatte und mich in den Stand setzen, zu sagen, was in seiner Lebensgeschichte nicht fehlen sollte: daß nämlich sein ganzes Leben hindurch kein anderer Gegenstand eine stärkere Theilnahme bei ihm erregte als dieser. Niemand vertrat die Sache der Mäßigkeit und sogar, so weit als möglich, ihre Erzwingung durch die Gesetze, mit größerem Ernste als er; aber er machte wichtige Vorbehalte. Da er die Trunksucht nicht für ein angeborenes Laster oder für den Armen eigenthümlicher hielt als andern Leuten, wollte er nie zugeben, daß das Vorhandensein einer Branntweinschenke ihr Alpha und Omega sei. Während er die Trunksucht vor allen andern als das »nationale Gräuel« betrachtete, war er zugleich der Ansicht, daß viele mitwirkende Ursachen sie dazu gemacht hätten; und seine Einwände gegen die Mäßigkeitsagitation gingen aus dem Umstande hervor, daß diese Ursachen völlig unbeachtet gelassen wurden. Seiner Ansicht nach konnte die Branntweinschenke nicht billigerweise zu dem ausschließlichen Gegenstand des Angriffs erhoben werden, ehe die physischen und moralischen Versuchungen derjenigen Volksklassen, welche dieselbe vorzugsweise zu ihrem Versammlungsort machten, mit größerer Entschlossenheit in's Auge gefaßt seien. Zu jenen physischen Versuchungen zählte er üble Gerüche, ekelhafte Wohnungen, schlechte Arbeitslokale und schlechte Gewohnheiten in denselben, Mangel an Licht, Luft und Wasser, kurz die Abwesenheit aller bequemen Mittel des Anstandes und der Gesundheit; und zu den moralischen Versuchungen die dadurch beförderte geistige Müdigkeit und Abspannung, den Wunsch nach gesunder Erholung, das Verlangen nach irgend einer Anregung oder Aufregung, die bei einem auf solche Weise hingebrachten Leben nicht weniger nöthig ist als die Sonne selbst, und endlich, und alles Uebrige einschließend, die Unwissenheit und den Mangel an vernunftgemäßer geistiger Erziehung. An diesem Programm hielt Dickens consequent fest, so lange ich ihn kannte, und da ihm die Ausführung desselben nicht nur innerhalb des Bereiches, sondern innerhalb des Zweckes der Gesetzgebung zu liegen schien (eine Wahrheit, welche sogar unsere politischen Magnaten seit Kurzem entdeckt haben), so sah er in der Unmäßigkeit nur ein Resultat (und zwar das kläglichste) unter vielen andern, die aus der Abwesenheit einer entsprechenden Gesetzgebung hervorgehen. Er lieferte eine gährende vorwurfsvolle Geschichte der Trunksucht, welche derjenigen der Bühne der Trunksucht vorausging, und er betrachtete es als die erste Pflicht des Moralisten, dem die Vernichtung der Branntweinschenke am Herzen liege, jene früher heilbaren Uebel »tief zu treffen und nicht zu schonen«. Das war freilich nicht die Methode Cruickshank's, ebensowenig als die mancher vortrefflichen Leute, die sich an der Mäßigkeitsagitation betheiligen. Cruickshank's frühere Erzählung von der Flasche, wie sein bewunderungswürdiger Griffel dieselbe darstellte, war die Geschichte eines anständigen Arbeiters, des Vaters eines Knaben und eines Mädchens, der bis in seine mittleren Jahre hinein behaglich und wohlangesehen lebt, bis er eines Tages inmitten seiner gedeihenden Familie unglücklicherweise eine Gans zum Mittagessen hat, scherzhaft eine Flasche Wachholderbranntwein holen läßt und seine Frau, bis dahin das Bild einer guten Haushälterin, überredet, hinter dem Gefüllsel her einen Schluck zu trinken, von welchem Augenblick an die ganze Familie sich zu Tode trinkt. Die Fortsetzung: »Die Kinder des Trunkenbolds,« über welche Dickens mir damals schrieb, beschrieb das Leben des Knaben und des Mädchens nach dem Tode ihrer betrunkenen Eltern, durch Branntweinschenken, Bierschenken und Tanzsäle hindurch, bis zu ihrer Verurtheilung wegen einer Räuberei, worauf der Knabe zu Zwangsarbeit verurtheilt wird und an Bord des Gefangenenschiffes stirbt und das Mädchen, nach ihrer Freilassung trostlos und wahnsinnig, sich von der Londoner Brücke in den nachtumdunkelten Fluß hineinstürzt.

»Die Kraft jener Schlußscene,« sagte Dickens, »ist außerordentlich. Sie spukt in der Erinnerung wie eine furchtbare Wirklichkeit. Sie ist voll von Leidenschaft und Schrecken und ich zweifle sehr, daß irgend eine Hand außer der seinen, sie so hätte darstellen können. Es sind auch andere vortreffliche Sachen da. Die Sterbescene an Bord des Gefangenenschiffes; der Gefangene, der ihm die Augen schließt und der andere, der den Schirm um das Kopfende des Bettes zieht, scheinen mir Meisterstücke, des größten Malers würdig. Die Realität des Ortes und die Treue, mit welcher jeder kleinste denselben kennzeichnende Gegenstand wiedergegeben ist, sind überraschend. Ich halte mich für keinen schlechten Richter in diesen Dingen und ihre Ausführung ist durchweg bemerkenswerth. In der Gerichtsscene in Old Bailey kann das Auge in dem Saale umherwandern und Alles sehen, was zu dem Orte gehört. Selbst das Licht und die Luft sind treu wiedergegeben. Ebenso in der Branntweinschenke und der Bierschenke. Eine weniger begabte Hand würde ein Bruchstück der Wirklichkeit darstellen und alles Andere undeutlich lassen, aber hier ist jeder Fetzen ehrlich zur Anschauung gebracht. Der Mann hinter dem Ladentisch in der Branntweinschenke ist ebenso wirklich, als die Verbrecher auf den Gefangenenschiffen, oder die Advokaten um den Tisch in Old Bailey. Es war mir ganz seltsam zu Muthe, als ich das Buch schloß und mich an die Zahl der Gesichter von persönlicher Identität erinnerte, die ich darin gesehen und dachte, welche Aussicht sie haben zu leben, wie der spanische Mönch zu Wilkie sagte, wenn die Lebenden dahin gegangen sind. Aber alles das macht die hartnäckige Einseitigkeit der Darstellung nur um so erbitternder für mich. Wenn Jemand die Seite der Medaille, worauf das Volk mit seinen Fehlern und Verbrechen gestempelt ist, so eindringlich zeigt, ist er um so mehr verpflichtet, uns zu einem Anblick jener andern Seite zu verhelfen, worauf die Fehler und Laster der über das Volk gestellten Regierungen nicht weniger ernst eingeprägt stehen.«

Dies veranlaßte ihn zu einigen Bemerkungen über Hogarth's Behandlung solcher Gegenstände und es freut mich, diese treffliche Kritik jenes großen Engländers durch einen Schriftsteller, dessen Genius (wie eine andere Generation vermuthlich leichter entdecken wird als die unsere) dem seinen so sehr glich, aufbewahren zu können. »Hogarth vermied, wie ich glaube, eine Darstellung des ›Fortschritts des Trunkenbolds‹ gerade deshalb, weil die Ursachen der Trunksucht unter den Armen so zahlreich und so weit verbreitet waren, und so traurig tief und weit hinab in allem menschlichen Elend, aller menschlichen Verwahrlosung und Verzweiflung lauerten, daß selbst sein Griffel sie nicht billig und gerecht an's Licht bringen konnte. Es war nie sein Plan, sich nur mit der Darstellung der Wirkung zu begnügen. In dem Tode des geizigen Vaters, dessen Schuh neubesohlt ist mit dem Einbande seiner Bibel, ehe der junge Wüstling seine Laufbahn beginnt; in dem weltlichen Vater, der theilnahmlosen Tochter, dem verarmten jungen Lord und dem schlauen Advokaten des ersten Blattes der Marriage-à-la-mode in dem verabscheuungswürdigen Vorrücken durch die Stadien der Grausamkeit und in der abwärts führenden Entwicklung Thomas Idle's, sieht man allerdings die Wirkungen, aber auch die Ursachen. Er war nie geneigt, die Sorte von Trunksucht zu sparen, welche von ›respektablerem‹ Ursprung war, wie man in seiner modernen Mitternachtsunterhaltung, in den Wahlbildern, und an Haufen stupider Aldermen und anderer Schlemmer sieht. Aber nach einer unsterblichen Fahrt durch die Branntweingasse, wendete er sich voll Mitleid und Kummer ab – vielleicht in der Hoffnung, daß eines Tages bessere Gesetze und Schulen und Armenwohnungen bessere Zustände herbeiführen möchten – und kehrte nicht wieder dahin zurück. Der Schauplatz der Branntweingasse ist, wie Du weißt, die Straße, die soeben zur Erweiterung von Oxford-Street abgebrochen ist und die wir uns neulich betrachteten; und es scheint mir ein bemerkenswerther Zug in Hogarth's Bild, daß es, zugleich mit der Darstellung der Trunkenheit in ihren entsetzlichsten Gestalten, auch einen höchst verwahrlosten elenden Stadttheil und einen ungesunden, unanständigen, verworfenen Zustand des Lebens, der unsern Gesundheitsberichten von einem hundert Jahre späterem Datum als Frontispiz vorangesetzt werden könnte, der Aufmerksamkeit aufdrängt. Ich bin immer der Ansicht gewesen, daß der Zweck dieses schönen Bildes selbst von Charles Lamb nicht genügend erläutert worden ist. Wahr ist es, ›sogar die Häuser scheinen absolut zu taumeln;‹ aber in jenem wunderbaren Bilde dessen, was der Betrunkenheit folgt, haben wir eine ebenso mächtige Andeutung dessen, was unter den verwahrlosten Klassen dazu führt. Es ist kein Beweis da, daß irgend eine der handelnden Personen in der traurigen Scene je in viel besseren Umständen gewesen ist, als wir sie dort sahen. Die Besten verpfänden die gewöhnlichsten Lebensbedürfnisse und ihr Handwerksgeräth; und die Schlimmsten sind heimathlose Vagabunden, die uns keine Andeutung geben, daß sie in früheren Tagen etwas anderes gewesen sind. Alle leben und sterben auf elende Weise. Niemand bekümmert sich, weder um zu verhüten, noch um zu heilen, um die Generation, die vor unsern Augen zu Ende geht, oder um die Generation, welche in's Leben eintritt. Der Gemeindepedell ist, mit Ausnahme des Pfandverleihers, der einzige nüchterne Mensch in dem Bilde und es ist ihm gewaltig gleichgültig, daß das verwaiste Kind an dem Sarge seiner Mutter weint. Die kleinen Mädchen der Wohlthätigkeitsanstalt werden nicht so gut unterrichtet oder beaufsichtigt, daß sie nicht schon mit dem Branntweintrinken anfangen könnten. Die Kirche ist freilich sehr hervorragend und schön; aber da sie diese im Schatten ihres Thurmes vorgehenden Dinge in dem Bilde ganz passiv und kalt überblickt, kann ich nicht umhin, daran zu denken, daß zum erstenmal in diesem Jahre der Gnade 1848 ein Bischof von London die Meinung äußerte, die sociale Lage der Armen könne nicht sein wie sie sein solle; und ich werde dadurch in meinem Argwohn bestärkt, daß Hogarth viele Bedeutungen hatte, die innerhalb eines Jahrhunderts nicht veraltet sind.«

Eine andere Kunstkritik von Dickens muß hier hinzugefügt werden. Bei Gelegenheit einer besonderen Ausgabe einiger Lithographieen mit dem Titel: »Die heranwachsende Generation« von Leech, John Leech, der schon öfter erwähnte artistische Mitarbeiter des Punch, geb. 1817, gest. 1864. – D. Uebers. nach ursprünglich für den Punch angefertigten Zeichnungen, schrieb Dickens auf meine Bitte einen kleinen Essay, woraus einige Sätze neben seinem Briefe über den andern großen Carricaturisten seiner Zeit eine angemessene Stelle finden. Ich brauche, wie er, das Wort Carricaturist nur wegen des Mangels an einem besseren. Dickens gestand dem älteren und bedeutenderen Zeitgenossen allen seinen Ruhm zu, aber er war der Ansicht, daß auf diesem besonderen Gebiete der Illustration Leech der erste Engländer sei, welcher die Schönheit zu einem Theile seiner Kunst gemacht habe; und er hielt dafür, daß Leech durch das Betreten dieser Bahn und dadurch, daß er das erfolgreiche Beispiel gegeben, immer, auch in seinen launenhaftesten Stücken, schöne Gesichter oder gefällige Gestalten anzubringen, mehr gethan habe als irgend ein anderer seiner Zeitgenossen, einen Zweig der Kunst zu verfeinern, welchem die Bequemlichkeiten des Dampfdrucks und des Holzschnitts eine fast beispiellose Verbreitung und Popularität verleihen. Mit einem Worte, seine Ansicht über Leech war, daß er die Carricatur in Charakterdarstellung verwandle und keinen geringen Theil der Geschichte seiner Zeit und der Thorheiten derselben in unnachahmlich anmuthigen Skizzen hinterlassen werde.

»Wenn wir eine Sammlung der Werke Rowlandson's oder Gilray's betrachten, so werden wir, trotz des in vielen derselben entwickelten großen Humors, finden, daß sie langweilig und unangenehm werden durch eine gewaltige Masse persönlicher Häßlichkeit. Nun aber ist es nicht bloß ein kläglicher Plan, das, was satyrisirt wird, nach der Weise eines zornigen Kindes oder einer eifersüchtigen Frau, als nothwendig häßlich darzustellen; es dient auch keinem andern Zwecke, als der Hervorbringung eines unerfreulichen Resultats. Es ist kein Grund vorhanden, weshalb die Pächtertochter in der alten Carricatur, die zur Begleitung des Harpsichords schreit (beiläufig gesagt zu der innigen Freude ihres würdigen Vaters, dem zu gefallen ihre Pflicht ist), quatschig und häßlich sein sollte. Die Satyre auf ihre Erziehung, wenn eine solche überhaupt in dieser Carricatur vorhanden ist, würde eben so gut sein, wenn sie hübsch wäre. Leech würde sie hübsch gemacht haben. Die Pächtertöchter in England sind für gewöhnlich nicht unmögliche Fettklumpen. Es ist ebenso wahrscheinlich, daß man in einem Pächtershause ein hübsches Mädchen findet als ein häßliches und wir glauben mit Leech, daß dieser Kunststyl es mit dem hübschen zu thun hat. Sie ist kein erfreulicherer Gegenstand, aber wir empfinden mehr Interesse für sie. Es liegt uns mehr an dem, was sich für sie schickt und was sich nicht für sie schickt. Leech stellte vor Kurzem gewisse zarte Geschöpfe mit bezaubernden Gesichtern dar, eingepackt in mehrfache Varietäten jenes erstaunlichen Kleidungsstücks: des Damen-Paletots. Früher würden diese reizenden Geschöpfe so häßlich und abstoßend gemacht sein als möglich, und dann würde die Pointe verloren gegangen sein. Der Betrachter würde über die Absurdität der ganzen Gruppe gelacht und sich nicht viel darum gekümmert haben, wie solche ungeschlachte Geschöpfe sich verkleideten, oder wie lächerlich sie sich machten. – Um aber weibliche Schönheit darzustellen, wie Leech sie darstellt, muß ein Künstler eine äußerst zarte Empfänglichkeit für dieselbe besitzen und die Gabe, sie uns durch ein paar leichte sichere Pinselstriche vorzuführen. Dies Talent besitzt Leech in einem außerordentlichen Grade . . . Aus diesem Grunde erheben wir unsern Protest gegen diejenigen Mitglieder der heranwachsenden Generation, die vorzeitig darnach verlangen, der Gegenstand der Heiterkeit einer mitleid- und theilnahmlosen Welt zu werden. Wir haben nie einen Knaben gesehen, der mehr im Rechte war, als das junge Herrchen, das auf dem Stuhle kniet und seine hübsche Cousine um eine Haarlocke bittet, die er mit in die Schule nehmen könne. Wahnsinn ist in ihrer Schürze und Virgil, hundeohrig und entstellt, in ihren Locken. Man mag seine Zweifel hegen über die Selbstlosigkeit des andern jungen Herrn, der das hübsche Mädchen am Clavier betrachtet – Zweifel, welche aus seiner weltlichen Anspielung auf ›Zinn‹ entspringen; ›Zinn‹, als Studentenausdruck für ›Geld‹, ist, wie manche andere ähnliche Ausdrücke, in die familiäre Gesellschaftssprache übergegangen. – D. Uebers. aber selbst das kann aus dem bescheidenen Bewußtsein seiner eigenen Unfähigkeit, ein Haus zu halten, hervorgegangen sein; daß er sich jedoch ›ganz verteufelt versucht fühlt hinzugehen und den andern Kerl auszustechen‹, scheint uns eine der natürlichsten Erregungen der menschlichen Brust. Der junge Herr mit dem entfesselten Haar und den festgeschlossenen Händen, der die überirdische Schönheit mit dem Bouquet liebt, nicht ohne sie glücklich sein kann, ist uns ein vernichtendes und trostloses Schauspiel. Wer könnte glücklich sein ohne sie? . . . Die heranwachsenden Jünglinge sind nicht weniger glücklich aufgefaßt und angenehm dargestellt als die herangewachsenen Frauen. Das schmachtende kleine Geschöpf, das ›nicht getanzt hat, seit er ein kleiner Junge war‹, ist vorzüglich; und die Erregung der kleinen Tänzerin, die er sich weigert als Gefährtin aus den Händen der prächtigen alten Dame des Hauses zu empfangen (die kleinen Füße ganz bereit für die erste Position, das ganze Herz in die Quadrille hineingeworfen, und der Blick schüchtern, aus einem Schwanken von Zweifel und Hoffnung, dem Ersehnten zufliegend), ist ein ganz entzückender Anblick. Der intellektuelle Jüngling, der den furchtbaren Zorn einer Norma des Privatlebens erweckt, indem er die Frau für ein untergeordnetes Wesen erklärt, hält, wie wir hören, in dem gegenwärtigen Augenblick Vorlesungen über das Concrete im Zusammenhang mit dem Willen. Die Beine des jungen Philosophen, der Shakespeare für einen überschätzten Mann hält, sahen wir vorigen Dienstag über die Wand eines Omnibus niederbaumeln. Wir haben keine Bekanntschaft mit dem jungen Herrn, dem es klar ist, daß er, wenn sein Papa nicht mit seiner gegenwärtigen Lebensweise zufrieden ist, eine möblirte Wohnung und so und so viel wöchentlich haben muß; aber wenn er nicht bereits in Van-Diemens-Land ist, so wird er jedenfalls durch Newgate hindurch dort hinkommen. Nämlich als transportirter Verbrecher. – D. Uebers. Es würde uns äußerst unangenehm sein, persönliches Eigenthum in einem Geldkasten zu haben, in der Vorstadt Camberwell zu wohnen und in dem Verhältniß eines unverheiratheten Onkels zu diesem jungen Manne zu stehen . . . In allen seinen Darstellungen thut Leech das, was er thun will; die Zeichnung scheint uns vorzüglich und der angedeutete Ausdruck, obgleich durch die einfachsten Mittel hervorgebracht, ist genau der natürliche Ausdruck und wird sofort als solcher erkannt. Einige Formen unseres gegenwärtigen Lebens werden nie einen besseren Chronikanten haben. Sein Witz ist gutgelaunt und immer der Witz eines Gentleman. Er hat ein angemessenes Gefühl von Verantwortlichkeit und Selbstbeherrschung; er freut sich an dem, was angenehm ist; er theilt Dingen, die an sich nicht gefällig sind, aus sich heraus etwas Gefälliges mit; er ist anregend und reich an Stoff; und er wird immer besser. Sowohl in die Stimmung als in die Ausführung dessen, was er thut, hat er eine gewisse Eleganz gelegt, die völlig neu ist, ohne eine Benachtheiligung dessen zu bedingen, was wahr ist. Die volksthümliche Kunst in England hat keine ähnliche Bereicherung erfahren.« Dickens' Schlußanspielung bezog sich auf eine Bemerkung Ford's in einer Kritik ›Oliver Twist's‹, die schon früher erwähnt wurde. Vgl. Band I. S. 157. – D. Uebers. »Es sind jetzt acht oder zehn Jahre, seit ein Mitarbeiter der Quarterly Review sich über die Absurdität aussprach, einen Mann wie George Cruickshank von der Königlichen Kunstakademie auszuschließen, weil seine Werke nicht mit gewissen Materialien hervorgebracht sind, und bei ihren jährlichen Ausstellungen nicht einen gewissen Raum einnehmen. Werden nicht eines Tages die Namen von Mitgliedern mit ihren Büchern gefunden werden, deren Arbeiten mit Oel und Pinsel in das tiefste Dunkel versunken sind, wenn viele Bleistiftzüge Cruickshank's und Leech's noch in der Hälfte aller Häuser unseres Vaterlandes frisch sein werden?«

Von dem, was ihn sonst im Jahre 1848 in Broadstairs beschäftigte, ist nicht viel zu erwähnen, bis kurz vor dem Schlusse seiner Ferien. Er pflegte zu sagen, daß er nie auch nur für eine paar Tage sein Haus verlasse, ohne daß ihm etwas zustoße, was sonst nie Jemandem begegne; und sein Abenteuer in Broadstairs, während dieses Sommers, grenzte näher an die Tragödie als an die Komödie. Er kehrte eines Tages im August dorthin zurück, nachdem er seine Jungen in die Schule gebracht hatte, und es war verabredet, daß er sich mit seiner Frau in Margate treffen sollte. Aber er war in seiner Ungeduld weit über den für die Zusammenkunft festgesetzten Ort hinausgewandert, als er ihrer endlich ansichtig wurde, nicht in dem kleinen Einspänner, sondern in einem großen mit zwei Pferden bespannten Wagen, dem ein aufgeregter Haufe Menschen folgte, während der junge Mann, der den kleinen Pony hätte fahren sollen, blutrünstig und verbunden auf dem Bock hinter dem sich bäumenden Pferde saß. »Du kannst Dir einigermaßen meine Bestürzung vorstellen, als ich diesem Wagen begegnete und den fremden Leuten und Kate und dem Menschenhaufen und dem Verbundenen und allem Andern.« Und dann wurde das Vorgegangene mir in ein paar Zeilen beschrieben. »Auf der Höhe eines steilen Hügels, über den die Straße mit Gräben an beiden Seiten hinlief, riß der Pony aus – und was thut darauf John anders, als hinunterspringen. Er sagt, er sei abgeworfen, aber das kann nicht sein. Die Zügel wurden sofort in die Räder verwickelt und der Pony raste den Hügel nieder, während Kate drinnen im Wagen die Insel Thanet mit ihrem Geschrei erfüllte. Der Unfall hätte ein schreckliches Ende nehmen können, wäre nicht der Pony, als er an den Fuß des Hügels kam, glücklicherweise seitwärts gefallen, wobei er freilich den Schaft zerbrach und seine Hinterbeine verletzte, aber auf die außerordentlichste Weise für sich abseits stürzte. Er fiel hin, ein Bündel von Beinen mit dem Kopfe darunter, und ließ den Wagen auf der Straße stehen. Ein Capitän Devaynes und seine Frau fuhren in diesem Augenblick vorbei, sahen den Unfall, ohne ihn verhindern zu können, hoben Kate aus dem Wagen, legten sie aufs Gras und bewiesen sich unendlich freundlich. Ende gut, Alles gut; und ich glaube wirklich nicht, daß der Schreck ihr geschadet hat. John liegt im Bette, ziemlich stark geschunden, aber ohne gebrochene Knochen und wird wahrscheinlich bald hergestellt sein, obgleich er augenblicklich über und über mit Pflastern bedeckt und wie Squeers ein Packet braunes Papier ist, vollgestopft von Stöhnen. Die Frauen haben im Allgemeinen nicht das geringste Mitleid mit ihm; und das Kindermädchen ist entrüstet darüber, wie er habe fortgehen und ein schutzloses Weib im Stiche lassen können!«

Es fehlte auch nicht an andern Ferienbegebenheiten, aber keine derselben braucht uns hier aufzuhalten. Dieser Sommer war für Dickens wirklich eine Zeit der Muße; denn er füllte die Zwischenzeit zwischen zweien seiner wichtigen Unternehmungen; keine Zeitschrift machte schon Anforderungen an ihn und nur die Aufgabe, seinen Haunted Man zu Weihnachten zu beenden, lag vor ihm. Aber er that selbst sein Nichts auf wackere Weise und konnte, wenn die Gelegenheit es mit sich brachte, selbst gegen die Elemente tapfer kämpfen. Zu meinem Entsetzen schrieb er mir, er sei an einem einzigen Tage dreimal vollständig durchnäßt worden, habe sich viermal umgekleidet und finde alle möglichen, durch die Regengüsse an's Licht gebrachten Merkwürdigkeiten zwischen den Felsen am Meeresufer. Dann und wann skizzirte er mir auch Charakterstücke, von denen ich eins aufbewahren will. »F. ist philosophisch, vom Sonnenaufgang bis zum Schlafengehen; besonders in französischem Styl, über französische Frauen, die toll werden und in diesem Zustande zu ihren Männern kommen und sagen: › Mon ami, je vous ai trompé. Voici les lettres de mon amant.‹ Worauf die Männer die Briefe nehmen und sie für nutzloses Papier halten und extraphilosophisch werden, wenn sie finden, daß es wirklich die Ergüsse des Liebhabers waren – obgleich man nicht leicht sieht, was für Philosophie überhaupt darin ist, oder was es anders ist als Mangel an Gesundheit.« (Eine Bemerkung, die es nicht unangemessen sein möchte, der Beachtung Mr. Taine's zu empfehlen.) »Ebenso über dunkle Schatten, die in Gesellschaften über das Antlitz unserer verheiratheten Emmeline ziehen; und über F., der sie an den Wagen führt und sagt: ›Darf ich bis zu meinem Hause mitfahren?‹ und sie, die sich aus dem Fenster ihm zuneigt und flüstert: › Ich darf es nicht!‹ Und wie dann der Wagen schneller als der Blitz fortfährt, und F. philosophischer als je auf dem Pflaster zurückläßt.« Erst gegen Ende September hörte ich, in einem Briefe worin er mich neckte, weil ich mein Versprechen, ihn zu besuchen, nicht gehalten hatte, von sich aufdrängender Arbeit. »Wir sind ganz vergnügt, aber auf ländliche Weise; gehen Abends um zehn zu Bette und baden um halb acht Morgens und trinken nicht die schmutzigen und verdorbenen Wasser Lethe's, welche um die Grundlage der großen Pyramide fließen.« Dann, nachdem er Freunde genannt, die Broadstairs verlassen hatten: »Die Reflexion und das Nachsinnen kommen. Ich habe ›die Phantasie noch nicht mit einem Griffel von Licht auf die das Meer beherrschenden Felsen schreiben sehen,‹ würde mich jedoch nicht wundern, wenn sie es einen dieser Tage thäte. Dunkle Visionen verschiedener Dinge umschweben mich und ich muß mit dem Kopfe voran an die Arbeit gehen, wenn ich nach Hause komme. Es freut mich schließlich, daß ich hier nicht gearbeitet habe, denn diese Muße hat mir ohne Zweifel gut gethan . . . Roche war gestern Abend sehr krank und sieht heute Morgen aus wie Einer, der sein Gesicht der andern Welt zugewendet hat. Wann kommst Du? O was für Tage und Nächte habe ich hier während der letzten Woche verlebt!« Meine Einwilligung zu einem Vorschlag in seinem nächsten Briefe, ihm auf seiner Rückreise entgegenzukommen und ihn auf einer Fußtour in die Heimath zu begleiten, verschaffte mir volle Absolution für die Nichterfüllung früherer Versprechungen; und der Weg, den wir einschlugen, wird Freunde seines späteren Lebens, als er Herr von Gadshill war, an einen Gegenstand des Interesses erinnern, welchen zu zeigen ihm eine Freude war. »Du wirst ein Billet nach Maidstone nehmen (ich werde Dich in Paddock-Wood treffen) und wir werden zusammen dorthin fahren, auf einer wunderschönen kleinen Eisenbahn. Die anderthalb Meilen zu Fuß von Maidstone nach Rochester und der Besuch des Druidischen Altars am Wege sind reizend. Dies würde sich am Dienstag ausführen lassen; am Mittwoch könnten wir uns in Chatham umsehen und am Donnerstag über Cobham heimkehren . . .«

Seine ersten Ferien am Meere, im Jahre 1849, verlebte er in Brighton, wo er einige Wochen im Februar zubrachte und zwar (ich muß dies hinzufügen), nicht ohne daß das gewöhnliche ungewöhnliche Abenteuer seinen Besuch kennzeichnete. Er war noch keine Woche in seiner Miethwohnung gewesen, wo Leech und seine Frau sich ihm anschlossen, als sein Wirth und dessen Tochter wahnsinnig wurden und die Miethwohner in das Bedford Hotel getrieben wurden. »Hättest Du das Fluchen und Schreien der Beiden hören können; hättest Du sehen können, wie der Arzt und das Kindermädchen mit Lebensgefahr von dem Wahnsinnigen auf den Flur hinausgejagt wurden; hättest Du sehen können, wie Leech und ich dem Doktor zu Hülfe eilten; sehen können, wie unsere Frauen uns zurückhielten; sehen können, wie der Doktor vor Furcht halb ohnmächtig war; sehen können, wie drei andere Doktoren ihm zu Hülfe kamen, während eine Atmosphäre von Mrs. Gamps, Zwangsjacken, kämpfenden Freunden und Dienern das Ganze umgab; so würdest Du gesagt haben, daß es meiner ganz würdig sei und ganz zu meinen gewöhnlichen Erlebnissen stimme.« Der Brief schloß mit einem Worte über das, wovon seine Gedanken damals voll waren, wofür er aber noch keinen Namen gefunden hatte. »Heute ein Seenebel, aber gestern unaussprechlich schön. Mein Geist wogt wie eine hohe See nach Namen – ist aber noch nicht befriedigt.« Als er wieder vom Meere schrieb, zu Anfang Juli, hatte er einen Namen gefunden, hatte sein Buch vom Stapel gelassen und ›eilte nach Broadstairs‹, um das vierte Heft von › David Copperfield‹ zu schreiben.

In diesem Hefte kamen die Kindheitserinnerungen vor, die ihm einen so tiefen Eindruck hinterlassen hatten und über die es ihm ziemlich schwer wurde, die nothwendigen Verhüllungen zu werfen. »Drittehalb Meilen heute auf's Land,« hatte er mir am 21. Juni geschrieben, »über Heft vier nachdenkend!« Dennoch sah er seinen Weg nicht ganz klar vor sich. Drei Tage später schrieb er: »Als ich Dich gestern Abend verließ, fand ich mich citirt, heute bei einer Spezial-Jury in Queensbench zu erscheinen. Ich habe auf das Dokument keine Rücksicht genommen und erwarte stündlich, wegen Beleidigung des Gerichtshofs in ein Gefängniß geschleppt zu werden. Ich glaube, das würde mir ganz angenehm sein. Es könnte mir mit ein paar neuen Gedanken in meiner Verlegenheit helfen. Inzwischen werde ich heute Abend von 7–10 eine Wanderung durch die grünen Felder machen, wobei Du vielleicht Lust hast, Dich mir anzuschließen.« Seine Mühsale erreichten ihr Ende, als er nach Broadstairs kam, von wo er mich am 10. Juli benachrichtigte, daß er in Gemäßheit mit dem von uns erörterten Plane einen großen Theil seines Manuskripts in das Heft übertragen habe. »Ich glaube wirklich, daß ich es geschickt gemacht habe und mit einer sehr schwer zu entwirrenden Verwebung von Wahrheit und Dichtung. Vous verrez. Ich schreite fort wie ein brennendes Haus in Bezug auf Gesundheit und ditto ditto in Bezug auf das Heft.«

Mitte Juli war das Heft beinah fertig und er war noch unentschieden, wo er seine langen Sommerferien verleben sollte. Leech wünschte ihm Gesellschaft zu leisten und beide wollten einmal anderswohin als nach Broadstairs. Zuerst dachte er an Folkestone; aber Ungelegenheiten dort bewirkten eine plötzliche Veränderung seiner Pläne. »Ich beabsichtige (15. Juli) morgen mit dem Dampfschiff von Ramsgate nach London zu kommen und früh am folgenden Morgen nach Weymouth, oder nach der Insel Wight, oder nach beiden, abzureisen.« Einige Tage später war seine Wahl getroffen.

Er hatte ein Haus in Bonchurch An der Südküste der Insel Wight. – D. Uebers. gemiethet, wohin er durch einen Freund gezogen wurde, der während der letztverflossenen Jahre den Ort für ihn interessant gemacht hatte: den Reverend James White, mit dessen Namen und Erinnerung mein Geist viele der glücklichsten Stunden in Dickens' Leben verknüpft. Ihm einen angemessenen Tribut darzubringen, würde nicht leicht sein, wäre hier die Stelle dafür. Eine lebhafte Empfindlichkeit für Freude und Schmerz war das erste, was dem gewöhnlichen Beobachter in dem freundlichen, klugen, schottischen Gesichte auffiel. Heiterkeit und Melancholie fuhren so schnell darüber hin, daß Niemand über die Geschichte die sie erzählten in Zweifel bleiben konnte. Aber sein Genuß am Leben hatte dessen mehr als gewöhnlichen Antheil an Schmerzen überlebt, und ein origineller schlauer Humor, Liebe zu Scherz und Belustigung, vorzügliche Belesenheit und scharfsinnige Bemerkungen über die Menschen, machten seine Gesellschaft äußerst angenehm. Wie sein Leben, bestand sein Genius aus abwechselnder Heiterkeit und Melancholie. Zu einer Zeit versenkte er sich in jene finstersten schottischen Annalen, denen er seine Tragödien entnahm, zu einer andern floß er in Sir Frizzle Pumpkin's ausgelassene Posse über. Seine historischen Tragödien werden wahrscheinlich mit der vergänglichen Kunst des Schauspielers untergehen; aber drei kleine geschichtliche Ueberblicke, die er zu einer späteren Zeit in Prosa schrieb, mit einer sonnigen Klarheit der Erzählung und einem Glanze malerischen Interesses, die meines Wissens in Büchern von so geringen Ansprüchen einzig in ihrer Art sind, werden, hoffe ich, eine dauernde Stelle in unserer Literatur finden. Die Werke, auf welche der Verfasser hier anspielt, sind die Landmarks of History und Eighteen Christian centuries. – D. Uebers. Sie sind voll von glücklich gewählten Ausdrücken, von einer Breite der Einsicht und des Urtheils, von männlicher Ehrenhaftigkeit, ruhigem Scharfsinn und einer beständigen heiteren Frömmigkeit und Pietät, die schätzbar für Alle und unschätzbar sind für die Jugend. Noch ein Wort erlaube ich mir hinzuzufügen. Bei Dickens war White vor allem andern beliebt wegen seiner heitern guten Kameradschaft; und wenige Menschen brachten ihm mehr von dem, was er immer zu empfangen liebte. Aber White brachte nichts so Gutes mit sich, als seine Frau. »Er ist vortrefflich, aber sie ist besser,« war die charakteristische Bemerkung in Dickens' erstem Briefe aus Bonchurch, und die wahre Neigung und Achtung, welche daraus hervorgingen, werden ihr glücklicherweise noch von seinen Töchtern bewiesen.

Natürlich ist über die Ferien in Bonchurch etwas Seltsames zu berichten, aber dies kommt erst mehr gegen ihr Ende und hätte bei etwas größerer Berücksichtigung von Mrs. Malapropops' Rath: mit einer kleinen Abneigung anzufangen, vielleicht gar nicht kommen können. Dickens fing mit einem Uebermaß von Zuneigung an. Er war voll von Bewunderung für die Südküste der Insel. »Von dem Gipfel der höchsten Dünen,« schrieb er in seinem zweiten Briefe (28. Juli), »hat man Aussichten, welche nur an der genuesischen Küste des Mittelländischen Meeres ihres Gleichen haben; die Mannigfaltigkeit der Spaziergänge ist außerordentlich; das Leben ist billig und Jedermann höflich. Der Wasserfall macht einen vorzüglichen Eindruck und das Baden im Meere ist herrlich. Und was das allerbeste ist, der Ort ist jedenfalls im Sommer eher kalt als warm. Die Abende sind sogar frostig gewesen. White ist sehr jovial, und eifert dem Unnachahmlichen in Beziehung auf Gin-Punsch nach. Er hatte welchen gemacht für unsere Ankunft. Ha! ha! nicht schlecht für einen Anfänger . . . Ich habe heute Morgen zu arbeiten versucht und versuche es noch, aber es will mir nicht gelingen und ich will ausgehen, um zu denken. Ein berühmter Freund hat mich eingeladen, am ersten August mit Dir zu diniren, ich habe mich indeß mit der Entfernung und dem Umstande, daß ich ein Höhlenbewohner am Meere bin, entschuldigt – meine Speise: Bohnen, mein Getränk: das Wasser aus dem Felsen . . . Ich muß Muth fassen, an Jeffrey zu schreiben, über den ich gerade vor meiner Abreise durch Gordon keine sehr befriedigenden Nachrichten erhielt. Talfourd ist köstlich und erheitert mich gewaltig. Ich bin wirklich ganz entzückt über seinen Erfolg und denke mit ungewöhnlichem Vergnügen an sein Glück.« Unser Freund war damals zum Oberrichter ernannt worden; und er schmückte sein Amt durch Eigenschaften, welche mit Recht der Stolz seines Standes sind und durch Talente, welche an höchsten Stellen desselben seltener geworden sind, als sie es in früheren Zeiten waren. Seine Erhebung machte diese Tugenden nur besser bekannt. Talfourd nahm mit dem Hermelingewande des Oberrichters nichts an, als das Vorrecht eines häufigeren Verkehrs mit den Neigungen und den Freunden, die er liebte, und blieb der heiterste und unbefangenste Gefährte. Die kleinen Seltsamkeiten oder Schwächen, die er hatte, hatten ihn im Grunde Dickens nur lieber gemacht. In der That hatte dieser keinen Freund, an dem er mehr hing, und die vielen glücklichen Nächte, welche seine an hochherzigen Worten so reiche Zunge, sein von feurigem Empfinden so strahlendes Gesicht noch glücklicher machten, kehren mir jetzt schmerzlich wieder. »Taub das gepriesene Ohr, stumm die melodische Zunge.« Der Vers des Dichters hat eine doppelte Anwendbarkeit und einen doppelten Schmerz.

Dickens schrieb mir wieder am ersten August. »Ich habe gerade angefangen, in's Arbeiten hineinzukommen. Wir erwarten, daß die Königin bald in großem Staat hier vorbeikommt und werden ungezählte Kanonen abfeuern. Ich erhielt gestern Morgen einen Brief von Jeffrey, gerade als ich an ihn schreiben wollte. Er ist offenbar sehr krank gewesen und ich fange an, wegen seiner Wiederherstellung besorgt zu werden. In Bezug auf seinen Gemüthszustand ist es ein sehr pathetischer Brief; aber er sieht dem Tode mit einer ruhigen Sammlung entgegen, die mir sehr edel scheint.« Sein nächster, vier Tage später geschriebener Brief, sprach von ihm selbst als noch an der Arbeit, aber auch als theilnehmend an Dîners in Blackgang und »kolossalen erfolgreichen« Picnics auf den Dünen von Shanklin. Orte an der Südküste der Insel Wight. – D. Uebers. »Zwei Wohlthätigkeits-Predigten für die Schule sollen heute gehalten werden und ich werde in die am Nachmittage gehen. Die neuliche Examination besagter Schule war sehr spaßhaft. Sämmtliche Jungen machten Buckstone's Verbeugungen in dem »Rough Diamond« und einige recitirten auf sehr wunderbare Weise ein Gedicht über eine Uhr; und möchten wir doch sein wie die Uhr, die immer geht und ihre Pflicht thut und immer die Wahrheit sagt (vermuthlich vorausgesetzt, daß sie ein Chronometer ist, denn die amerikanische Uhr in der Schule log gerade entsetzlich); und nachdem sie mit dem Einmaleins zu Tode gequält waren, stärkte man sie durch einen öffentlichen Thee in Lady Jane Swinburne's Garten.« (In einem seiner Briefe, den ich aber verloren habe, fand ich eine Bemerkung über einen goldhaarigen Jungen der Swinburne's, mit dem seine eigenen Jungen zu spielen pflegten und der seitdem allgemeiner bekannt geworden ist.) Charles Algernon Swinburne, der Dichter der Atalanta in Calydon &c. – D. Uebers. »Der Regen stellte sich mit dem ersten Theetopf ein und ist seitdem ohne Aufhören thätig gewesen. Am Freitag hatten wir ein großartiges und, was besser ist, ein sehr gutes Dîner, beim Pastor Fielden, mit einigem auserlesenen Portwein. Am Dienstag werden wir an einem andern Picnic theilnehmen, bei dem auf mein besonderes Andringen die Materialien für ein Feuer und ein großer eiserner Topf zum Kochen von Kartoffeln mitgenommen werden. Diese Sachen und die Eßwaaren werden in einem Karren an Ort und Stelle geschafft. Gestern Abend amüsirten wir uns vortrefflich bei White, wo der angenehme Julian Young und seine Frau (die eine Meile von hier wohnen) einige komische neue Spiele zeigten« – und in meinem Freunde den Ehrgeiz weckten, eine »mächtige Zaubervorstellung für alle Kinder in Bonchurch zu geben,« wozu ich ihm die Materialien schickte und die in einem Tumult wilder Freude von statten ging. Zu den bekannten Namen in diesem Briefe will ich noch einen hinzufügen, obgleich es mich noch jetzt schmerzt, denselben mit einem Verluste zu verknüpfen. »Ein Brief von Poole ist mir zu Händen gekommen, seit ich diesen Brief anfing, mit Nachrichten, welche Dich sehr betrüben werden. Der arme Regnier (der Komiker) hat sein einziges Kind verloren, die hübsche Tochter, die an jenem netten Tage bei uns dinirte, als wir alle die Mutter erfreuten, indem wir sie so lebhaft bewunderten. Sie starb an einem plötzlichen Anfall von bösartigem Typhusfieber. Poole war bei dem Begräbniß zugegen und schreibt mir, er habe nie einen so tiefen Schmerz gesehen oder sich vorstellen können, wie den, welchen Regnier am Grabe zeigte. Wie man ihn darum liebt! Aber ist es nicht immer wahr, in der Komödie wie in der Tragödie, daß, je wirklicher der Mensch, um so vortrefflicher der Schauspieler?«

Einige Tage später hörte ich von dem Fortschritt seiner Arbeit, trotz aller Festlichkeiten. »Ich habe es zur Regel gemacht, daß der Unnachahmliche jeden Tag bis zwei Uhr unsichtbar ist. Ich werde hoffentlich morgen mit der ersten Hälfte des Heftes fertig werden. Ich habe hier noch nicht schnell gearbeitet, aber ich weiß nicht, was ich noch thun kann. Mannigfaches Nachdenken hat in Zwischenräumen meinen Geist hinsichtlich des dunkeln Planes beschäftigt.« Der Plan war die so oft bedachte Wochenschrift, über welche mein nächstes Kapitel mehr enthalten wird. Sein Brief schloß mit Andeutungen über unbequeme körperliche Zustände, einen hartnäckigen Husten und einen Entschluß, den er gefaßt hatte, täglich auf den Gipfel der Dünen zu steigen. »Es macht einen großen Unterschied im Klima, wenn man sich dort oben durchwehen läßt und dann wieder herunterkommt.« Dann hörte ich, daß der Doktor ihn stethoskopisch untersucht habe; von seiner Hoffnung, daß an dieser Stelle Alles in Ordnung sei, und daß ihm Reibungen à la St. John Long für seine Brust verordnet seien. Aber die vergnügte Stimmung dauerte noch fort. »Es ist ein Doktor Lankester in Sandown gewesen, ein sehr guter, lustiger Kumpan, der sich an unsern Picnics betheiligte und bei dem ich dinirt habe mit Danby, Leech und White.« Ein gegen Ende August geschriebener Brief war noch mehr in seinem gewöhnlichen Ton gehalten. »Wir hatten gestern Pfänderspiele bei White. David Roberts' hübsche kleine Tochter ist auf eine Woche mit ihrem Manne dort. Zuerst gab es ein Abschiedsdiner für Danby, der an eine andere Pfarrstelle geht; und wir waren sehr vergnügt. Mrs. White unverändert; White komisch verschieden in seinen Stimmungen. Talfourd kommt nächsten Dienstag herüber und wir denken am Montag nach Ryde zu fahren, in's Theater zu gehen, dort zu schlafen (ich meine nicht, im Theater) und den Richter mit zurück zu bringen. Browne kommt, wenn er mit seiner Monatsarbeit fertig ist. Möchtest Du die Alum Bay sehen, während Du hier bist? Wir müßten dann eine Nacht dort zubringen; aber ich glaube, es würde sehr angenehm sein und wenn Du derselben Meinung bist, will ich es sub rosa arrangiren, damit wir nicht, wie Bobadil, ›durch eine zu große Zahl bedrängt werden‹. Ich beabsichtige, Dich mit einem Wagen in Ryde zu erwarten; in Shanklin wollen wir aussteigen, um von dort hierher zu Fuße über den Bergsturz zu gehen, wo die Scenerie wunderbar schön ist. Stone und Egg kommen im nächsten Monat und wir hoffen Jerrold zu sehen, ehe wir fortgehen.« Solche Auszüge aus seinen Briefen mögen kaum der Aufbewahrung werth scheinen; aber sie tragen mit bei zu dem Bilde seiner wunderbaren Lebenskraft, so lange dem Schreiber in irgend welcher Lage Leben blieb. Auch würde dies Bild nicht vollständig sein ohne den Zusatz, daß, so sehr er jene Fülle und Mannigfaltigkeit der Genüsse in den Zwischenräumen der Arbeit liebte, doch für Niemanden auch jene ruhigeren Stunden des Denkens und des Redens wesentlicher waren, welche dem ›durch eine zu große Zahl Bedrängten‹ nicht erreichbar sind.

Mein Besuch war auf Anfang September festgesetzt; aber schon einige Tage früher kam die volle Enthüllung dessen, wovon zwei oder drei vorhergehende Briefe nur einen flüchtigen Schatten enthielten. »Ehe ich daran denke, mein nächstes Heft anzufangen, kann ich vielleicht nichts Besseres thun, als Dir eine unvollkommene Beschreibung der Folgen des Klimas von Bonchurch zu geben, wie ein mehrwöchentlicher Aufenthalt mich dieselben kennen gelehrt hat. Die erste heilsame Wirkung, deren der Patient sich bewußt wird, ist ein fast beständiges Gefühl von Uebelkeit, begleitet von großer körperlicher Schwäche, so daß seine Beine unter ihm zittern und seine Arme unsicher hin- und herfahren, wenn er etwas anfassen will. Eine außerordentliche Neigung zum Schlafen (außer des Nachts, wo seine Ruhe, falls er welche hat, durch unablässige Träume gestört wird) ist zugleich immer gegenwärtig; und wenn er irgend etwas zu thun hat, was Nachdenken und Aufmerksamkeit erfordert, so überwältigt ihn dies in so hohem Grade, daß er es nur stückweise thun kann und sich in den krampfhaften Zwischenzeiten auf's Bett wirft. Aeußerste Niedergeschlagenheit und eine Neigung, von Morgen bis Abend Thränen zu vergießen, entwickeln sich zu gleicher Zeit. Wenn der Patient vielleicht ein guter Fußgänger gewesen ist, findet er zwei Meilen eine unerträgliche Entfernung, bei deren Zurücklegung seine Beine so unsicher werden, daß er von einer Seite der Straße zur andern schwankt, wie ein Betrunkener. Wenn er je Energie von irgend welcher Art besessen hat, findet er dieselbe ausgelöscht in einer dumpfen, trüben Abgespanntheit. Er hat keinerlei Plan, Kraft oder Zweck. Wenn er sich Morgens das Haar bürstet, ist er so schwach, daß er dabei auf einem Stuhle sitzen muß. Er ist zu allen Zeiten unfähig zu lesen. Und sein Gallensystem ist so vollständig über den Haufen geworfen, daß eine Kugel von kochendem Fett immer hinter der Nasenwurzel zu liegen und zwischen seinen eingefallenen Augen zu brodeln scheint. Sollte er sich eine Erkältung zugezogen haben, so wird er es unmöglich finden, dieselbe los zu werden, da seine Konstitution völlig außer Stande ist, eine Anstrengung zu machen. Sein Husten ist tief, monoton und beständig. ›Des treuen Phylax ehrliches Bellen‹ ist im Vergleich damit nichts. Er läßt jeden Gedanken an seine baldige Befreiung davon fahren und begnügt sich damit, auf seine Blutgefäße zu achten, damit er wenigstens diese ganz und gesund behält. Des Patienten Name: der unnachahmliche B . . . . Es kann keinen größeren Irrthum geben. Unter allen Orten, in denen ich je war, ist keiner, wo es sich so schwer angenehm leben läßt. Neapel ist heiß und schmutzig, New-York fieberisch, Washington gallig, Genua aufregend, Paris regnerisch, – aber Bonchurch vernichtend. Ich bin fest überzeugt, ich würde sterben, wenn ich ein Jahr hier wohnte. Es ist nicht heiß, es ist nicht schwül, aber die niederdrückende Wirkung ist entsetzlich. Niemand hier hat die mindeste Vorstellung, was ich darüber denke; aber aus allen möglichen Andeutungen von Kate, Georgina und den Leeches geht hervor, daß sie alle mehr oder weniger auf dieselbe Weise afficirt sind und es sehr schwer finden, sich dagegen zu wehren. Ich mache kein Zeichen und thue, als wüßte ich nicht, was vorgeht. Aber sie haben recht. Ich glaube die Leeches werden bald fortgehen und verdienen wenig Tadel dafür! – Was mich betrifft, so muß ich, wenn ich zu Ende dieses Septembermonats von hier fortgehe, an irgend einen kalten Ort, wie z. B. Ramsgate – auf ein paar Wochen, oder ich glaube ganz im Ernst, daß ich die Nachwirkung noch lange spüren werde . . . Was ist Deine Ansicht darüber? . . Je länger ich lebe, um so mehr zweifle ich an den Doktoren. Ich bin fest überzeugt, daß für Leute, die an einer abzehrenden Krankheit leiden, diese Südküste völliger Wahnsinn ist. Die Doktoren, mit ihrer alten kläglichen Thorheit, nur ein Stück der Sache ins Auge zu fassen, nehmen die Lungen des Patienten und die Luft der Südküste und erklären feierlich, daß sie für einander passen. Aber der ganze Einfluß der Gegend, welcher darin besteht, die Lebenskraft zu schwächen und zu überwältigen, wird nie in Betracht gezogen. Ich hege nicht den mindesten Zweifel, daß ich ihm erliegen würde, wie dem Gewicht von ebenso viel Blei, das mich langsam zerdrückt. Ein Amerikaner, der viele Jahre in Paris gewohnt hat, sagte mir vorgestern, er habe immer eine Leidenschaft für das Meer gehabt, die er nie hinreichend habe befriedigen können; aber nachdem er einen Monat hier gewohnt habe, sei sein Anblick ihm unerträglich geworden; er könne sein Rauschen nicht mehr ertragen; er wisse nicht, woher es komme, aber es scheine mit dem Verfall seiner ganzen Lebenskraft im Zusammenhang zu stehen.« Das waren schwere Anklagen gegen einen der hübschesten Orte in England; aber ich wußte schon genug über den im allgemeinen niederdrückenden Einfluß des Klimas an der Südküste der Insel Wight auf gewisse Temperamente, um durch den Inhalt dieses Briefes zu sehr überrascht zu werden. Was Dickens zu schroff bei Seite setzt, ist die Thatsache, daß andere Leiden, als seine eigenen, dort gerade durch das gebessert werden, was die seinen verschlimmerte; aber mein Besuch lieferte mir den Beweis, daß er die auf ihn ausgeübte Wirkung in der That sehr wenig übertrieben hatte. Auch wenn (was er selbst zuweilen nicht that) gewisse Eigenthümlichkeiten und die Erregbarkeit, in der er sich immer befand, wenn er ein Unternehmen wie Copperfield in Händen hatte, in Betracht gezogen wurden, so bemerkte ich doch an ihm eine im höchsten Grade ungewöhnliche nervöse Neigung zu Befürchtungen und Besorgnissen, welche die gewöhnlichsten Dinge schwer zu machen schien; und obgleich er die ganze ursprünglich beabsichtigte Zeit dort blieb und Nichts mit fortnahm, was seine glücklicheren Beziehungen zu dem Orte und dessen Bewohnern nicht lange überlebte, kehrte er doch nie nach Bonchurch zurück.

Während des ihm noch bleibenden Monats vollendete er sein fünftes Heft, und zugleich mit den Correkturbogen erreichte mich die Antwort auf Fragen, von denen ich nichts weiter erinnere, als daß sie auf von mir geäußerte Zweifel Bezug hatten, deren einer seine Behandlung des armen Dick betraf. »Dein Vorschlag,« antwortete er (25. August), »ist vollkommen weise und treffend. Ich habe Gebrauch davon gemacht. Ich habe Dick auch, statt seiner Ochsen- und Porcellanladen-Täuschung, den Gedanken gegeben, daß, als man dem Könige Karl I. den Kopf abschlug, etwas von des Königs Leiden herausgenommen und in seinen (Dick's) Kopf hineingethan wurde.« Sein nächster Brief brachte Nachrichten, die mir sehr willkommen waren, wegen der Freude für ihn selbst, welche sie bedingten. »Browne hat für das nächste Heft einen ungewöhnlich charakteristischen und vortrefflichen Micawber entworfen. Ich hoffe, das gegenwärtige Heft ist gut. Ich höre nichts als angenehme Berichte allgemeiner Befriedigung.« Derselbe Brief erwähnte seine Absicht, nach Broadstairs zu gehen; aber wie man gleich sehen wird, erlitt die Ausführung einen Aufschub. Da ihm die Arbeit rasch von statten ging, hatte er sich übrigens in Bonchurch wohler gefühlt und sie waren Alle sehr vergnügt gewesen. »Ja,« schrieb er am 23. September, »wir haben, seit ich das Heft beendete, ein ganz heiteres Leben geführt, und haben jeden Nachmittag große Gesellschaftsspiele gespielt, wobei ganz Bonchurch zusah; aber ich fange an, mich nach etwas Frieden und Einsamkeit zu sehnen. Und nun meine weniger angenehme Neuigkeit. Die See ging sehr hoch und Leech wurde beim Baden, durch einen häßlichen Schlag einer großen Welle auf die Stirn, zu Boden geworfen. Er liegt im Bette und hat heute Morgen zwanzig seiner Namensvettern auf der Stirne. Nämlich Blutegel, zu englisch leeches. – D. Uebers. Als ich soeben von ihm hörte, schlief er – was er die ganze Nacht nicht gethan hat.« Er schloß seinen Brief hoffnungsvoll, aber am folgenden Tage (24. September) erhielt ich einen weniger günstigen Bericht. »Leech ist, seit ich Dir schrieb, sehr krank gewesen an Gehirnentzündung, und da er noch immer furchtbare Schmerzen hat, wird ihm fortwährend Eis auf den Kopf gelegt, abgesehen von Aderlässen am Arme. Beard und ich saßen die ganze Nacht bei ihm auf.« Am 26. schrieb er: »Meine Pläne sind durch Leech's Krankheit über den Haufen geworfen, da ich diesen Ort natürlich nicht verlassen mag, so lange ich ihm und seiner guten kleinen Frau von irgend welchem Nutzen sein kann. Aber alle Besucher sind heute fortgegangen und Winterbourne ist noch einmal der interessanten Familie des unnachahmlichen B. überlassen. Seit ich Dir schrieb, ist es mit Leech bedenklich schlimmer gegangen und man hat wieder einen starken Aderlaß mit ihm vorgenommen. Die vorletzte Nacht befand er sich in einem so beängstigenden Zustand von Unruhe, welche nichts stillen konnte, daß ich Mrs. Leech vorschlug, Magnetismus zu versuchen. Ich machte mich daher mitten in der Nacht an die Arbeit, und brachte ihn, nach einem sehr angreifenden Kampfe, auf eine Stunde und fünfunddreißig Minuten zum Schlafen. Während des Schlafes trat eine Veränderung in seinem Zustande ein und er ist jetzt entschieden besser. Ich sprach mit der erstaunten Mrs. Leech über ihn hinüber, als wäre er ein Haufen Heu gewesen . . . Was meinst Du, wenn ich in das magnetische Geschäft ginge, mit einem großen Messingschild an meiner Thür, worauf zu lesen stände: ›Fünfundzwanzig Guineen per Schlaf?‹« Als er am 30. wieder schrieb, hatte er sein sechstes Heft vollendet; und sein Freund befand sich so offenbar auf dem Wege der Besserung, daß er mit seiner Frau, deren Schwester und den beiden kleinen Mädchen am folgenden Tage nach Broadstairs gehen wollte. »Ich will nur noch die dringende Bitte hinzufügen, daß Du Thackeray« (der um diese Zeit eine gefährliche Krankheit gehabt hatte) »freundlich von mir grüßest; daß ich, wie ich glaube, über die Zeitschrift im Reinen bin, und daß ich Dir unter dem niederdrückenden und unbehaglichen Einfluß des Abbezahlens des Haufens von Rechnungen schreibe, welche, am Ende eines Aufenthalts wie des unsern, auf einen unglücklichen Mann mit einer jungen Familie einstürmen. Daher für heute nichts weiter von dem angeekelten, obgleich noch immer unnachahmlichen und stets liebevollen B.«

Er blieb in Broadstairs, bis er sein siebentes Heft vollendet hatte, und außerdem beschäftigten ihn besonders Gedanken an die Zeitschrift, über welche sogleich ein Bericht gegeben werden soll. »Solch einen Regentag und eine Regennacht,« lautete sein erster Brief, »hat, glaube ich, der älteste Einwohner nie gesehen! und doch (ich weiß nicht, wie es kommt) mache ich mir in dem alten vertrauten Broadstairs nicht so viel daraus. Die Ortveränderung hat Mamey unendlich gut gethan und ich meinerseits habe wieder angefangen zu schlafen. Nach Neuigkeiten könntest Du mich ebenso gut fragen als nach Delphinen. Niemand der der Rede werth wäre ist in Broadstairs; jedenfalls Niemand in Ballard's Hotel. Wir wohnen in dem an das Hotel stoßenden Hause, demselben, das wir einmal drei Jahre hintereinander hatten, und es ist noch ebenso ruhig und gemüthlich wie damals. Ich glaube nicht, daß ich vor dem 20. oder so, wenn das Heft beendet ist, zurückkehren werde; aber es ist möglich, daß ich in einer unbeständigen Laune schon vorher zu Dir eile. Vorläufige Depeschen und Ankündigungen sollen in jedem Falle in die duftige Nachbarschaft des Clare-Markts und des Begräbnißplatzes bei Portugal-Street befördert werden.« Das war seine höfliche Bezeichnung meines Wohnorts, zu dem er nichtsdestoweniger eine geheime Zuneigung hatte. »Auf der Eisenbahn von Portsmouth hierher traf ich Kenyon; auf der ditto ditto in Reigate begegnete ich dem jungen Dilke und nahm ihn in's Schlepptau bis Canterbury. Auf der ditto ditto in ditto (was Reigate bedeutet) begegnete ich Fox, dem Parlamentsmitgliede für Oldham, und seiner Tochter. Alles innerhalb einer Stunde. Der junge Dilke sprach begeistert über die in Vorschlag gebrachte Ausstellung unter der Leitung Sr. Königlichen Hoheit des Prinzen Albert und zeigte, was mir sehr angenehm war, unbegrenztes Vertrauen zu unserm alten Freunde, seinem Vater.« Nach diesem kam noch ein Brief, der sich, in Zusammenhang mit dem »vom Flaminischen Thore« ausgesandten pomphaften Hirtenbrief Dr. Wiseman's, ziemlich düster über den Stand der öffentlichen Angelegenheiten und betrübt über gewisse Familienangelegenheiten äußerte; und unterzeichnet war: »Dein verzagender und angeekelter Wilkins Micawber« – jedes Wort in eine Reihe für sich geschrieben.

Sein Besuch in dem kleinen Badeort, während des folgenden Jahres, war bezeichnet durch die Vollendung des berühmtesten seiner Romane, und außerdem beschäftigten seine Briefe sich mit den ausführlichen Vorbereitungen für die theatralischen Aufführungen in Knebworth. Aber wieder stürzte die Plage wandernder Musikanten ihn in solche Fieber der Aufregung, daß er endlich beschloß, dort nie wieder den Versuch zu der Ausführung einer wichtigen Arbeit zu machen; und der Sommer von 1851, als er nur mit vermischten Schriften beschäftigt war, war der letzte seiner regelmäßigen Aufenthalte in Broadstairs. Er vermiethete dann sein Haus für den kurzen Rest seines Miethtermins, entfloh zu Ende Mai, als ernster Familienkummer ihn betraf, dem Menschengedränge und der Unruhe der Großen Internationalen Ausstellung und wohnte, mit Zwischenräumen der Abwesenheit, besonders bei den Aufführungen der »Gilde der Literatur und Kunst«, in seinem Lieblingshause an der See bis zum Oktober, als er von Tavistock-House Besitz nahm. Aus seinen Briefen will ich einige Bemerkungen über diese letzten Ferien in Broadstairs hinzufügen, an das er sich immer mit Vergnügen erinnerte und dem er in der kurz vor seiner Abreise geschriebenen Skizze »Unser Seebad« ein heiteres Lebewohl sagte.

»Es ist hier schöner« (1. Juni) als ich sagen kann. Das Korn wächst, die Lerchen singen, der Garten ist voll von Blumen – von dem Meere weht frische Luft. O, es ist wundervoll! Warum kannst Du nicht nächsten Sonnabend mit Deiner Arbeit hierherkommen und am Mittwoch mit mir zu dem Copperfield-Banquet zurückkehren? In Beziehung auf letzteres sage ich natürlich zu Talfourd's freundlichem Vorschlage: Ja. Lemon muß jedenfalls dabei sein. Und glaubst Du nicht auch Browne? Wer sonst noch Talfourd angenehm ist, wird mir angenehm sein.« Groß war der Erfolg dieses Banquets. Der Schauplatz war das Star und Garter Hotel in Richmond; Thackeray und Alfred Tennyson nahmen an der Feier Theil; und der hochherzige Wirth war in seiner besten Stimmung. Ich habe Dickens selten glücklicher gesehen, als in dem Sonnenschein jenes Tages. Jerrold und Thackeray fuhren mit uns nach London zurück, und eine kleine Debatte zwischen ihnen über den Nutzen des Geldes führte zu einem Geständniß von Dickens über sich selbst, dem ich die Bestätigung aller Jahre unseres Verkehrs hinzufügen kann. »Niemand,« sagte er, »legt dem Besitz des Geldes weniger Bedeutung und dem Mangel daran weniger Schande bei, als ich.«

Eine unbestimmte Erwähnung eines »nächsten Buches« entschlüpfte ihm in einem Briefe von Ende Juli, worauf ich längere Enthaltsamkeit anrieth. »Guter Rath,« erwiderte er, »ist schwer; ich wollte, Du kämest zu uns und predigtest eine andere Art von Enthaltsamkeit. Stelle Dir vor, daß die Zollbeamten vorgestern eine Menge Brandy in Fässern auf den Felsen hier fanden! Natürlich weiß Niemand etwas über die Fässer. Sie hatten mit der nächsten Flut an's Land gebracht und während der Ebbe gerade vom Meere bedeckt bleiben sollen. Aber da die Ebbe ungewöhnlich weit hinaus ging, wurden die Deckel der Fässer den Zollhaus-Teleskopen sichtbar und der Brandy wurde mit Beschlag belegt. Dergleichen kommt hier herum ohne Zweifel fortwährend vor. Und natürlich würde B. nichts davon bekommen haben. O bewahre! Ganz gewiß nicht.«

Seine Lektüre war in diesen Arbeitspausen beträchtlich und mannigfaltig, und in dem Sommer, von welchem hier die Rede ist, umfaßte sie sämmtliche kleineren Erzählungen, sowie die Dramen Voltaire's, mehrere der Romane (alle Lieblinge von ihm) Paul de Kock's, Ruskin's Lamps of Architecture und eine erstaunliche Zahl afrikanischer und anderer Reisebeschreibungen, an denen er einen unersättlichen Geschmack hatte; aber in seinen Briefen finden sich über dies Alles nur wenige Bemerkungen. »Beiläufig bemerke ich, indem ich Carlyle's wunderbares Buch über die ›französische Revolution‹ zum 500sten Male wieder lese, daß er, der Alles weiß, nicht weiß was Mumbo Jumbo ist. Es ist kein Götzenbild. Es ist ein unter den Männern gewisser afrikanischer Stämme gehütetes und nie enthülltes Geheimniß über die Bestrafung ihrer Frauen. Mumbo Jumbo kommt in häßlicher Gestalt aus dem Walde, oder dem Sumpf, oder dem Fluß, oder irgend sonst woher und prügelt eine Frau, die den allgemeinen Frieden durch Ohrenbläserei, oder Gezänk oder durch irgend eine andere häusliche Unbilde gestört hat. Carlyle scheint ihn mit dem gewöhnlichen Fetisch zu verwechseln; aber er ist etwas ganz anderes. Er ist ein verkleideter Mann und alles was ihn angeht, ist ein Freimaurergeheimniß unter den Männern. . . . Ich beendete gestern den Scarlet Letter. Er verliert sehr an Interesse nach der schönen Eröffnungsscene. Der psychologische Theil der Geschichte ist übertrieben und, wie mir scheint, nicht naturgetreu. Ihre plötzliche Begegnung und Uebereinkunft, zusammen fortzugehen nach allen jenen Jahren, ist sehr dürftig. Ebenso Mr. Chillingworth. Das Kind ist ganz gegen die Natur. Und Mr. Dimmisdale kann sie jedenfalls nie erzeugt haben.« An Hawthorne's früheren Büchern hatte Dickens besonderes Gefallen gefunden und sein Mosses from an Old Manse war das erste Buch, das er nach seiner Rückkehr aus Amerika in meine Hände legte, mit wiederholten Aufforderungen, es zu lesen. Ich will eine Bemerkung von ihm über einen Roman eines andern populären Autors hinzufügen, weil dieselbe treffend die Art von Talent bezeichnet, welche den höchsten Punkt der Begabung nicht erreicht, sondern nur gerade an ihrer Grenze stehen bleibt. »Der Roman ist wirklich ausgezeichnet, allein alles Beste, dessen er fähig ist, ist versäumt. Er zeigt genau, wie weit diese Art von Talent gehen kann. Es ist mehr wie eine Notiz über die zu Grunde liegende Idee, als irgend etwas anderes. Es kommt mir vor, als wäre er von Jemandem geschrieben, der mehr neben den Leuten an, als in ihnen wohnte.«

Ich besuchte ihn zur Zeit der Regatta im August und verlebte mit ihm zwei angenehme Wochen. Sein Artikel »Unser Seebad« erschien, während ich dort war und groß war die lokale Aufregung darüber. Seine eigenen rastlosen Phantasieen über ein neues Buch waren damals über jede Beschränkung hinausgewachsen und eine Zeit lang hegte er den lebhaften Wunsch es in jenem hübschesten, eigenthümlichsten Stück englischer Landschaft, dem Thale von Strood, anzufangen, das ihn immer an die Scenerie der Schweiz erinnerte. Ich hatte ihn noch nicht viele Tage verlassen, als die nachstehenden Zeilen mir folgten. »Ich war nahe daran, vorgestern meinen Koffer zu packen und allein in die Schweizer Berge zu ziehen. Ich bin noch das Opfer einer unerträglichen Unruhe und sollte mich garnicht wundern, wenn ich Dir einen dieser Morgen vom Fuße des Mont Blanc schriebe. Von Zeit zu Zeit setze ich mich hin und denke an einen neuen Roman und indem der Gedanke zu wachsen anfängt, ergreift mich ein so qualvolles Verlangen anderswo zu sein, als wo ich bin, und fortzugehen, ich weiß nicht wohin, und ich weiß nicht warum, daß mir ist, als würde ich fortgetrieben. Hätte ich einen Paß, ich bin fest überzeugt, ich wäre vorgestern Abend nach der Schweiz gegangen. Ich würde mich an unsere Verabredung erinnert haben, – vielleicht in Paris, und würde zum Behuf derselben zurückgekommen sein; aber mit dem nächsten Schnellzuge würde ich wahrscheinlich wieder fortgegangen sein.«

Zu Ende November, als er sich in seiner neuen Londoner Wohnung eingerichtet hatte, wurde das Buch angefangen und zwar, wie gewöhnlich, obschon immer zufällig, bei den wichtigeren Vorkommnissen seines Lebens der Fall war, angefangen an einem Freitage.

 

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