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Fünfzehntes Kapitel.

Drei Monate in Paris.
1846–1847.

Niemand konnte einen kurzen Aufenthalt in einem Hotel mehr genießen als Dickens; aber »einige Tonnen Gepäck, andere Tonnen von Domestiken und noch andere Tonnen von Kindern«, sind keine wünschenswerthen Zugaben zu dieser Lebensweise; und sein erster Tag in Paris ging nicht zu Ende, ehe er sich nach einer passenden Wohnung umgesehen hatte. An jenem selben Abend machte er einen »colossalen« Spaziergang durch die Stadt, deren Glanz und Helle ihn beinah erschreckten, und unter andern Dingen, die seine Aufmerksamkeit fesselten, befand sich »ein ganz gutes Buch, das in dem Fenster eines Buchhändlers als Les Mystères de Londres par Sir Trollopp angekündigt wurde. Kennst Du ihn?« Ein mir besser bekannter Landsmann hatte ihn schon vorher begrüßt. »Der erste, der mich in der Straße gleich an der Thür zu fassen bekam, war Lord Brougham, in seinen karrirten Hosen und ohne die gehörige Knopfzahl an seinem Hemde. Er sagte mir, er gehe heute Morgen fort, komme aber in zwei Monaten zurück und wir wollten dann zusammen diniren – an einem Orte, welcher ihm und der Fama bekannt ist.«

Am folgenden Tage machte er wieder einen langen Spaziergang durch die Straßen und verirrte sich fünfzigmal. Dies war ein Sonntag und er wußte kaum, was er darüber, wie er ihn dort und damals beobachtet sah, sagen sollte. Gegen die bittere Beobachtung dieses Tages erklärte er sich immer mit Schärfe, denn er glaubte, etwas verständiges Vergnügen sei weder der Ruhe noch der Religion zuwider; aber hier kam etwas anderes zum Vorschein. »Die schmutzigen Kirchen, und das Rasseln der Karren und Wagen, und die offenen Läden (ich glaube nicht, daß ich während meines ganzen Hin- und Herwanderns an mehr als fünfzig vorbeikam, die geschlossen waren), und die Werktagskleider und die alltägliche Plackerei sind nicht behaglich. An offene Theater und so fort bin ich jetzt natürlich lange gewöhnt; aber so viel Mühe und Schweiß an einem Tage, den man, ganz abgesehen von religiösen Observanzen, gern zu einem vernünftigen Feiertage machen möchte, ist schmerzlich.«

Dieser Brief war vom 22. November datirt und hatte drei Nachschriften. Die erste, vom Montag Nachmittag, benachrichtigte mich, daß er ein Haus gemiethet habe; daß, falls der Contrakt nicht durch eine unvorhergesehene Prügelei zwischen Roche und der Agentin (»einer französischen Mrs. Gamp«) gebrochen werde, ich meine Briefe an ihn Nr. 48 Rue de Courcelles, Faubourg St. Honoré adressiren solle und daß er über die Wohnung jetzt weiter nichts sagen wolle, als daß sie seiner Meinung nach »die lächerlichste, außerordentlichste, unerhörteste und abgeschmackteste« in der ganzen Welt sei, etwas zwischen einem Puppenhaus, einem Weinkeller, einem verwunschenen Schloß und einer tollen Art von Uhr. »Sie gehört einem Marquis Castellan und Du wirst vor Lachen sterben, wenn Du hindurch wanderst.« Das zweite P. S. erklärte, seine Lippen sollten versiegelt bleiben, bis ich die Wohnung selbst sähe. »Beim Himmel, der Geist des Menschen kann sich so etwas nicht vorstellen!« Das dritte P. S. beschloß den Brief. »Ein Zimmer ist ein Zelt. Ein anderes Zimmer ist ein Hain. Ein anderes Zimmer ist eine Scene in dem Victoria-Theater. Die Zimmer im oberen Stock sind wie die halbrunden Fenster über Hausthüren. Die Kinderzimmer – doch nein, nein, nein, nichts weiter! . . .«

Sein folgender Brief brachte nichtsdestoweniger Weiteres, sogar in Form einer wiederholten Versicherung, daß das Haus nicht beschrieben werden solle, ehe ich ihn sähe. »Ich will nur bemerken, daß es fünfzig Ellen lang und achtzehn hoch ist, und daß die Schlafzimmer ganz genau wie Opernlogen sind. Es hat seinen kleinen Hof und Garten, und seine Portierswohnung, und den Strick zum Oeffnen der Thür und so fort, und ist ein Pariser Palast im Kleinen. Im Salon ist etwas aufglimmende Vernunft. Da es das Haus eines Gentleman und nicht zum Vermiethen möblirt ist, sind einige sehr merkwürdige Sachen darin, einige der wunderlichsten Sachen, die Du je in Deinem Leben gesehen, und eine Unendlichkeit von Armstühlen und Sophas . . . – Schlechtes Wetter. Es schneit stark. Es gibt hier keine Thür und kein Fenster – doch das will Nichts sagen! es gibt keine Thür und kein Fenster in ganz Paris, – die ordentlich schließen; nicht eine Spalte unter den Billionen und Trillionen von Spalten in der Stadt, die verstopft werden kann, um den Luftzug zu vermeiden. Und die Kälte! – Doch Du sollst für Dich selbst urtheilen. Und auch dieses abgeschmackte Eßzimmer, die Erfindung Henry Bulwers, der, nachdem er sie zur Ausführung gebracht hatte (er wohnte hier längere Zeit) über das was er gethan erschrak, wie er wohl mochte, und fortging . . . Der Brave rief mich am Sonnabend Abend bei Seite und zeigte mir eine Verbesserung, die er in Bezug auf Dekoration angebracht hatte. ›Was‹, sagte er, ›Mis'r Fors'er sehr überraschen wird, wenn er kommt.‹ – Du sollst zu dem Glauben verführt werden, daß eine Perspektive von Zimmern, von zwanzig Meilen Länge, sich aus dem Salon öffnet.«

Für meinen Besuch war indeß die Zeit noch nicht gekommen und zunächst mag das erzählt werden, was ihn inzwischen beschäftigte oder interessirte. Er war erst zwei Tage in Paris gewesen, als ein Brief seines Vaters ihn über die Gesundheit seiner ältesten Schwester sehr besorgt machte. »Ich wollte in's Theater gehen (ein Melodrama in acht Akten, fünf Stunden lang), aber hatte nach dem Brief meines Vaters nicht den Muth, das Haus zu verlassen, und schickte Georgy und Kate allein hin,« schrieb er am 20. November. »Es scheint kein Zweifel darüber, daß Fanny an der Schwindsucht leidet.« Sie war bei dem Versuch, in einer Gesellschaft in Manchester zu singen, zusammengebrochen und eine spätere Untersuchung durch den Sohn Sir Charles Bell's, der zugegen war und sich sehr für sie interessirte, brachte eine nur zu traurige Enthüllung der Ursache. »Er rieth, weder ihr noch Burnett« (ihrem Manne) »die Wahrheit mitzutheilen und mein Vater hat dieselbe nicht entdeckt. In äußerer Beziehung leben sie sehr behaglich und genießen einer hohen Achtung. Sie scheinen zusammen glücklich zu sein und Burnett hat als Lehrer viel zu thun. Du erinnerst Dich meiner Besorgnisse ihretwegen, als sie zu Alfred's Hochzeit in London war und daß ich sagte, sie sähe aus, als habe sie die Auszehrung. Kate brachte sie zu Elliotson, der sagte, ihre Lungen seien augenblicklich jedenfalls nicht afficirt. Und sie weinte vor Freude. Glaubst Du nicht, es würde besser für sie sein, wenn sie wo möglich nach London käme, um Elliotson noch einmal zu sehen? Ich bin sehr, sehr traurig darüber.« Dieser Vorschlag kam zur Ausführung, und eine Zeit lang schien Raum zur Hoffnung da; doch das Ende wird sich zeigen. In demselben Briefe hörte ich, daß der arme Charles Sheridan, den wir beide gut kannten, an derselben schrecklichen Krankheit sterbe. Sheridan's Chef, Lord Normanby, Damaliger englischer Gesandter in Paris. – D. Uebers. dessen vielfache Beweise der Sympathie und Freundlichkeit Dickens eine aufrichtige Achtung eingeflößt hatten, hatte er schon »so formlos und gutmüthig wie je, aber nicht so heiter wie gewöhnlich gefunden, mit einer besorgten und müden Art und Weise, die den Eindruck hervorbringe, als seien seine Verantwortlichkeiten größer als er erwartet.« Auch hatte Dickens nicht weit nach Gründen hierfür zu suchen, als einige Muße ihn in den Stand setzte, Etwas von dem zu sehen, was während jenes letzten Jahres von Louis Philipp's Regierung in Paris vorging. Was zuerst einen ungünstigen Eindruck auf ihn hervorbrachte, war ein flüchtiges Sehen des Königs in den Champs Elysées, als er vom Lande nach Paris kam. »Es waren zwei Wagen da. Er war von Garden zu Pferde umgeben. Man fuhr sehr schnell und er lehnte sich, Du kannst mir's glauben, sehr tief in die Wagenecke zurück. Es war für einen Engländer seltsam, zu sehen, wie der Chef der Polizei mehrere hundert Schritt vor dem Zuge herritt, den Kopf beständig von einer Seite zur andern drehte, wie eine Figur in einer holländischen Uhr, und Jeden und Alles forschend ansah, als beargwöhne er alle Zweige an allen Bäumen der langen Allee.«

Aber diese und andere politische Anzeichen waren nur, wie gewöhnlich der Fall ist, die äußeren Symptome tiefer liegender Krankheiten. Er sah fast überall Zeichen des Krebses, der sich in das Herz des Volkes selbst hineinfraß. »Es ist ein böser und abscheulicher Ort, trotz aller seiner Anziehungskraft, und es gibt am Ende keine bessere Bezeichnung dafür, als Hogarth's unerwähnbare Phrase.« Er schickte mir keinen Brief ohne neue, charakteristische Bemerkungen und Beobachtungen. Zuerst ging er ziemlich oft nach der Morgue, bis etwas so Widerwärtiges ihn entsetzte, daß er lange nicht den Muth hatte, zurückzukehren; und bei eben dieser Veranlassung hatte er bemerkt, daß der Wärter am Fenster eine kurze Pfeife rauchte »und einem Hänfling in seinem Käfig etwas frisches Gras gab«. Ueber den Zustand der Straßen im Allgemeinen gab er unbefriedigende Berichte; die Quais am andern Ufer der Seine seien nach dem Dunkelwerden nicht sicher; und Folgendes war sein eigenes nächtliches Erlebniß in einem der besten Quartiere der Stadt. »Ich ging vorgestern Abend mit Georgy aus, um ihr das Palais Royal in Erleuchtung zu zeigen; und auf dem Boulevard, einer Straße, die so hell ist, als der hellste Theil des Strand oder Regentstreets, sahen wir, dicht vor uns, einen Mann über den andern herfallen und versuchen, ihm den Mantel abzureißen. Es war in einer kleinen dunkeln Ecke bei der Porte St. Denis, die mitten in die Straße hinausragt. Nach einem kurzen Kampfe floh der Dieb (Tausende von Leuten wanderten dort umher) und wurde gerade an der andern Seite der Straße gefangen.«

Ein Vorfall dieser Art konnte viel oder wenig bedeuten; aber was er weiter über die gewöhnlichen Pariser Arbeiter und die kleineren Kaufleute bemerkte, war von ernsterer Art, und mag vielleicht noch jetzt eine nicht unwichtige Illustration zu der Geschichte des Vierteljahrhunderts liefern, welches seitdem verflossen ist, ja selbst zu den furchtbaren Ereignissen der letzten zwei Jahre desselben. »Es ist außerordentlich, was für einen Unsinn die Engländer über fremde Länder reden, schreiben und glauben. Die so viel verschrieenen Schweizer sind zu allen Gefälligkeiten bereit, wenn man nur offen und höflich gegen sie ist, sie sind aufmerksam und pünktlich in allen ihren Geschäften, und man kann sich eben so fest auf sie verlassen, als auf die Engländer. Die Pariser Arbeiter und die kleineren Kaufleute sind den Amerikanern ähnlicher (und unähnlicher), als ich für möglich gehalten hätte. Mit der amerikanischen Gleichgültigkeit und Sorglosigkeit verbinden sie einen Geist des Aufschubs und einen Mangel an der geringsten Achtsamkeit, ihr Versprechen zu halten, die jedenfalls in Neapel nicht übertroffen werden. Sie haben auch die amerikanische, halb sentimentale Unabhängigkeit und nichts von der amerikanischen Energie und Entschiedenheit. Wenn man in Frankreich je den Freihandel einführt (wie vermuthlich eines Tages geschehen wird), müssen diese Theile der Bevölkerung auf Jahre hinaus ruinirt werden. In Concurrenz mit den englischen Arbeitern würden sie die Mittel zum Lebensunterhalt nicht finden können. Ihre geringere Geschicklichkeit mit der Hand, ihre trägen Gewohnheiten, ihre völlige Unzuverlässigkeit und angewohnte Insubordination würden sie in einem solchen Wettstreite sofort zu Grunde richten. Sie taugen zu nichts, als zum Soldatenhandwerk – und insofern haben, wie ich glaube, die Anhänger der Politik Deines Freundes Napoleon die Vernunft auf ihrer Seite. Eh bien, mon ami, quand vous venez à Paris, nous nous mettrons à quatre épingles, et nous verrons tous les merveilles de la cité, et vous en jugerez. Beim Himmel, ich bitte Dich um Verzeihung! Es kommt mir so natürlich.«

Am 30. schrieb er mir, er habe seine Papiere in Ordnung gebracht und hoffe an jenem Tage zu beginnen. Aber derselbe Brief benachrichtigte mich auch von der schon damals eingetretenen Abänderung seiner halbgefaßten Pariser Pläne. Drei Monate eher, als er ursprünglich beabsichtigt, werde er aus Familiengründen nach London zurückkehren, werde sich auf einen viermonatlichen Aufenthalt im Auslande beschränken müssen, und da sein eigenes Haus erst im Juli frei werde, genöthigt sein, von Ende März an eins zu miethen. »Unter diesen Umständen werde ich Charley nach Weihnachten wahrscheinlich nach King's College schicken. Eine große öffentliche Schule in London. – D. Uebers. Es thut mir leid, daß er dadurch so viel Französisch verlieren wird. Aber glaubst Du nicht, es wäre schade, noch einmal ein Schulhalbjahr zu unterbrechen? Aus freien Stücken würde ich ihn gar nicht nach King's College schicken, sondern anderswohin. Doch ich glaube Miß Coutts weiß es am besten. Wir werden dies Alles besprechen, wenn ich nach London komme.« Die Anerbietung, die Erziehung seines ältesten Sohnes zu übernehmen, war Dickens durch jene wahrhafte Freundin aufgenöthigt worden, auf deren zarte und edle Theilnahme für ihn es mir kaum anstehen würde, hier eine andere Anspielung zu machen. So großmüthig jedoch diese Freundlichkeit war, so bildete sie doch nur den kleinsten Theil der Verbindlichkeiten, welche Dickens dieser Dame verdankte, deren hochherzigen Plänen für die vernachlässigten und unversorgten Klassen der Bevölkerung, Plänen, mit welchen er auf's tiefste sympathisirte, er viele Jahre hindurch mit einer eben so selbstlosen Aufopferung als ihrer eigenen, den unbeschränkten Dienst seiner Zeit und seiner Arbeit widmete. Sein in diesem Briefe erwähnter Plan zu einem baldigen Besuche in London hatte den Zweck, der Probe seiner von Albert Smith für Mr. und Mrs. Keeley dramatisirten Weihnachtsgeschichte im Lyceum-Theater beizuwohnen, und mein beabsichtigter Besuch in Paris sollte Mitte Januar stattfinden. »Es wird dann die Höhe der Saison sein und eine gute Zeit, die unbegreifliche französische Eitelkeit auf die Probe zu stellen, die wirklich meint, es gäbe keine Nebel hier, sondern sie seien alle in London.« Einige kleinere Items von Familiennachrichten befanden sich in demselben Briefe. »Mamey und Katey haben Pariser Kleider bekommen und sehen sehr stattlich aus. Sie sind nicht stolz und lassen bestens grüßen. Skittles bekommt Zähne und wird gegen Abend verdrießlich. Frankey ist kleiner als je und Walter sehr groß. Charley in statu quo. Alles ist ungeheuer theuer. Brennmaterialien ganz erschrecklich. Nur beim Auslüften des Hauses verbrannten wir in einer Woche für fünf Pfund Sterl. Holz. Wir mischen das Holz jetzt mit Kohlen, wie wir es in Italien thaten und finden diese Sorte Feuer viel wärmer. Um das Haus vollständig zu erwärmen, erfordert diese eigenthümliche Wohnung Feuer im untersten Stockwerk. Wir brennen drei . . .«

Der Anfang seines nächsten Briefes, der vom 6. Dezember datirt war, und dessen amüsante Fortsetzung, werden hinreichend für sich selbst sprechen. »Die Kälte ist schneidend. Das Wasser in den Wasserkrügen in unserm Schlafzimmer friert zu festen Massen von oben bis unten, zersprengt die Krüge mit kanonenartigem Knall und rollt hart wie Granit auf die Waschtische. Ich halte an meinem Schauerbade fest, bin aber in hoffnungslos schlechter Laune gewesen – Schreibelaune nämlich. Konnte an dem fremden Orte nicht anfangen; faßte eine leidenschaftliche Abneigung gegen mein Studirzimmer und ging in den Salon hinunter, konnte keine Ecke finden, die mir paßte, verfiel in düstere Betrachtungen über den dahin schwindenden Monat, saß sechs Stunden ununterbrochen da und schrieb ebenso viele Zeilen &c. . . . Sodann weißt Du, was für Anordnungen mit den Stühlen und Tischen nothwendig sind und dann, was für Correspondenz es zu erledigen galt und dann, wie ich versuchte, an meinem Pult zur Ruhe zu kommen und darum herumging, und mir von allen Seiten daran zu thun machte, wie ein Vogel an einem Stück Zucker. Kurz, ich habe gerade angefangen; etwa fünf Druckseiten sind fertig; und ich hoffe, daß ich diese Woche mit einer bessern Stimmung gesegnet werde, oder ich werde in Rückstand gerathen. Ich werde versuchen, tüchtig weiter zu kommen. Ich kann nicht mehr thun . . . In dieser Straße wohnt ein ganz bemerkenswerther Mann und ich habe eine Correspondenz mit ihm gehabt, die für Deine Durchsicht aufbewahrt wird. Sein Name ist Barthélemy. Er trägt einen gewaltigen spanischen Mantel, einen breitkrämpigen Filzhut, einen ungeheuern Bart und langes schwarzes Haar. Er machte mir neulich einen Besuch und ließ seine Karte zurück. Erlaube mir, die Karte beizulegen, da sie Originalität und Verdienst hat.

M. Barthélemy's Visitenkarte

»Roche sagte, ich wäre nicht zu Hause. Gestern schrieb er mir, auch er sei ein Littérateur – er sei gekommen, aus Anerkennung meines ausgezeichneten Rufes – › qu'il n'avait pas été reçu - qu'il n'était pas habitué à cette sorte de procédé - et qu'il pria Monsieur Dickens d'oublier son nom, sa mémoire, sa care, et sa visite, et de considérer qu'elle n'avait pas été rendu!‹ Ich schickte ihm sofort eine sehr höfliche Antwort, indem ich ihm gutgelaunt bemerkte, er irre sich vollständig und es seien immer zwei Wochen am Anfang jedes Monats, wo M. Dickens ne pouvait rendre visite à personne. Er erwiederte, er sei mehr als zufriedengestellt, es sei gerade so mit ihm am Ende jedes Monats und könne, wenn er selbst beschäftigt sei, nicht bloß keine Besuche empfangen oder machen, sondern › tombe, généralement, aussi, dans des humeurs noires qui s'approchent de l'anthropophagie!!!‹ Das ist wirklich ganz hübsch.«

Er hielt sich acht Tage in London auf, vom 15. bis 23. Dezember, und zu den Beschäftigungen seines Besuchs gehörte (abgesehen davon, daß er seine kleine Geschichte auf der Bühne vom Stapel ließ) die Entscheidung über die Form einer billigen Ausgabe seiner Schriften, welche im folgenden Jahre begann. Dieselbe sollte in Doppelspalten gedruckt und wöchentlich in Heften zu anderthalb Pence ausgegeben werden, sie sollte neue Vorreden haben, aber keine Illustrationen, und für jedes Buch sollte etwas weniger als ein Viertel des ursprünglichen Preises angesetzt werden. Der Erfolg war sehr befriedigend, kam aber demjenigen der späteren Ausgaben seiner Werke bei Weitem nicht gleich. Seine eigene Empfindung in Hinsicht auf diesen Punkt war, obgleich jedes Mißlingen ihn für den Augenblick aus andern Gründen afficirte, stets ein ruhiges Vertrauen und er hatte diesem Vertrauen in einer beabsichtigten Widmung eben dieser Ausgabe Ausdruck gegeben, welche schließlich aus andern Ursachen bei Seite gelegt wurde. Hier verdient sie aufbewahrt zu werden. »Diese billige Ausgabe meiner Bücher ist dem englischen Volke gewidmet, in dessen Billigung die Bücher leben werden, wenn sie wahr sind, und aus dessen Andenken sie sehr bald aussterben werden, wenn sie falsch sind.«

Nach seiner Rückkehr nach Paris erhielt ich häufige Berichte über den Fortschritt seines berühmten fünften Heftes, nach dessen Vollendung ich ihn besuchen sollte. Der Tag schien zu einer Zeit zweifelhaft. »Es würde kläglich sein, müßte ich arbeiten, wenn Du hier bist. Doch ich mache so plötzliche ruckweise Fortschritte und bin so erfüllt von dem, was ich thun will, daß die Furcht sich als ganz grundlos erweisen mag, und sollte eine Abänderung Dir unbequem sein, so wollen wir unter allen Umständen an dem 13. festhalten.« Die von ihm geschilderte Kälte war so durchdringend und der Preis der Feuerung so ungeheuer, daß, obgleich das Haus nicht halb erwärmt war (»Du wirst dasselbe sagen, wenn Du es fühlst«), es ihn fast ein Pfund Sterl. per Tag kostete. Bettelbriefschreiber hatten » Monsieur Dickens, le romancier célèbre« entdeckt und lauerten ihm an der Thür und in der Straße ebenso zahlreich auf als in London; doch ihre auszeichnende Eigenthümlichkeit bestand darin, daß sie fast alle Chevaliers de la Garde Impériale de sa Majesté Napoléon le Grand waren, und daß ihre Briefe ungeheure Siegel mit Wappen von der Größe von Fünf-Schillings-Stücken trugen. Seine Freunde, die Watsons, verlebten den Neujahrstag mit ihm auf ihrem Wege von Lausanne nach Rockingham und erklärten, obgleich die Schweiz von Schnee bedeckt sei und der Nordwind wüthig darüber hinwehe, sei die Kälte doch nichts im Vergleich mit der von Paris. An dem Tage, welcher das alte Jahr beschloß, war Dickens in die Morgue gegangen und hatte einen alten Mann mit grauen Haaren dort liegen sehen. »Es schien das seltsamste Ding von der Welt, daß es irgend welche Mühe gekostet haben konnte, ein so schwaches, abgezehrtes, erschöpftes Stück Leben zu enden. Es wurde gerade dunkel, als ich hineinging; der Ort war leer und er lag da ganz allein, wie eine Personifikation des winterlichen Achtzehnhundertsechsundvierzig . . . Ich finde, ich werde unnachahmlich, höre daher auf.«

Als die Zeit für meine Reise herankam, empfing ich erfreuliche Beweise der in's Kleinste gehenden rücksichtsvollen Fürsorge, welche in allen Dingen für ihn charakteristisch war. Mein Dîner war auf die Sekunde in Boulogne bestellt, mein Platz in der Post genommen, und diese und andere Dienste wurden mir in einem Briefe angekündigt, welcher auch seinen Antheil an dem freundschaftlichen Werk der Vorbereitung hatte, indem er in Französisch ausbrach. Dickens sprach das Französische nie sehr gut, sein Accent war mangelhaft, aber durch Uebung kam er dahin, es mit bemerkenswerther Leichtigkeit und Geläufigkeit zu schreiben. »Ich habe an das Hôtel des Bains in Boulogne geschrieben, daß man nach Calais schicken und für Dich einen Platz in der Post nehmen soll . . . Du weißt natürlich, daß Du am Landungsplatz von allen Hotel-Agenten in Boulogne mit furchtbarem Schreien empfangen werden wirst und natürlich wirst Du durch sie hindurchgehen, wie die Prinzessin, die dem redenden Vogel den Berg hinauf folgte; aber vergiß nicht, Dir ruhig den Commissionär des Hôtel des Bains auszusuchen. Die folgenden Umstände werden sich dann zutragen. Meine Erfahrung ist frischer als die Deinige und ich will sie in eine dramatische Form kleiden. Man läßt Dich in das kleine Bureau hineinsickern, wo einige Soldaten sind und ein Herr mit einem schwarzen Bart und Feder und Dinte hinter einem Ladentisch sitzt. Barbe Noir (zu dem Lord von J. F.) Monsieur, votre passeport. Monsieur. Le voici! Barbe Noir. Où allez vous Monsieur? Monsieur. Monsieur, je vais à Paris. Barbe Noir. Quand allez-vous partir, Monsieur? Monsieur. Monsieur, je vais partir aujourd'hui. Avec la malle-poste. Barbe Noir. C'est bien. (Zum Gensdarmen). Laissez sortir monsieur! Gensdarme. Par ici, monsieur, s'il vous plaît. - Le gensdarme ouvert une très petite porte. Monsieur se trouve subitement entouré de tous les gamins, agents, commissionnaires, porteurs et polissons en général de Boulogne, qui s'élancent sur lui, en poussant des cris épouvantables. Monsieur est, pour le moment, tout-à-fait effrayé et bouleversé. Mais monsieur re prend ses forces et dit, de haute voix: ›Le Commissionnaire de l'Hôtel des Bains!‹ Un petit homme (s'avançant rapidement, et en souriant doucement). Me voici, monsieur. Monsieur Fors-Tair n'est-ce pas? . . . Alors . . . Alors monsieur se promène à l'Hôtel des Bains, où monsieur trouvera qu'un petit salon particulier, en haut, est déjà préparé pour sa réception, et que son dîner est déjà commandé, aux soins du brave Courier, à midi et demi . . . Monsieur manger son dîner près du feu, avec beaucoup de plaisir, et il boira de vin rouge à la santé de Monsieur de Boze, et sa famille intéressante et aimable. La malle-poste arrivera au bureau de la poste aux lettres à deux heures ou peut-être un peu plus tard. Mais monsieur chargera le commissionnaire de l'y accompagner de bonne heure, car c'est beaucoup mieux de l'attendre que de la perdre. La malle-poste arrivée, monsieur s'assiera, aussi comfortablement qu'il le peut, et y restera jusqu'à son arrivé au bureau de la poste aux lettres à Paris. Parceque, le convoi n'est pas l'affaire de monsieur, qui continuera s'asseoir dans la malle-poste, sur le chemin de fer, jusqu'il se trouve à la basse-cour du bureau de la poste aux lettres à Paris, où il trouvera une voiture qui a été dépêché de la rue de Courcelle, quarante-huit. Mais monsieur aura la bonté d'observer: Si le convoi arriverait à Amiens après le départ du convoi à minuit, il faudra y rester, jusqu'à l'arrivé d'un autre convoi à trois heures moins un quart. En attendant, monsieur peut rester au buffet, où l'on peut toujours trouver un bon feu et du café chaud, et de très bonnes choses à boire et à manger, pendant toute la nuit. - Est-ce que monsieur comprend parfaitement toutes ces règles pour sa guidance? - Vive le Roi des Français! Roi de la nation la plus grande, et la plus noble et la plus extraordinairement merveilleuse, du monde! A bas les Anglais!«

»Charles Dickens,            
Français naturalisé et Citoyen de Paris.«

Wir verlebten vierzehn Tage zusammen und drängten so viel in dieselben hinein, wie bei einem so kurzen Zeitraum fast unmöglich scheinen möchte. Mit furchtbarer Unersättlichkeit machten wir die verschiedenartigsten Sehenswürdigkeiten durch: Gefängnisse, Paläste, Theater, Hospitäler, die Morgue und St. Lazare, sowie den Louvre, Versailles, St. Cloud und sämmtliche Stätten, welche die erste Revolution denkwürdig gemacht hat. Der ausgezeichnete Komiker Regnier, den wir durch Macready kannten und der uns durch manche Freundlichkeiten lieb wurde, ein Mann von unvergleichlicher Kenntniß der Stadt und unermüdlich in freundschaftlichen Dienstleistungen, verschaffte uns Zutritt zu dem Foyer der Schauspieler des Théâtre Français, wo wir, am Geburtstage Molière's, dessen ›Don Juan‹ wieder auf die Bühne gebracht sahen. In dem Conservatorium waren wir Zeugen des meisterhaften Unterrichts Samson's; sahen im Odéon ein neues, mittelmäßig aufgeführtes Stück Ponsard's; in den Variétés ›Gentil-Bernard‹, mit vier Grisetten, die aus einem Gemälde von Watteau hervorgetreten schienen; im Gymnase ›Clarisse Harlowe‹, mit einer Sterbescene Rose Cheri's, die mir, durch die Ferne der Zeit, als die vortrefflichste Leistung eines reinen und edeln Bühnenpathos, deren ich mich erinnere, ins Gedächtniß zurückkehrt; in der Porte St. Martin ›Lucretia Borgia‹ von Hugo; im Cirque Scenen aus der großen Revolution und alle Schlachten Napoleons; in der Opéra Comique ›Gibby‹; und im Palais-Royal das übliche Neujahrsstück, in welchem Alexander Dumas in seinem Studirzimmer neben einem fünf Fuß hohen Haufen von Quartbänden erschien, was sich als das erste Tableau des ersten Aktes des ersten Stückes herausstellte, welches an dem ersten Abend seines neuen Theaters gespielt werden sollte. Wir sahen auch dies neue Theater, das Historique, einer sehr kurzlebigen Vollständigkeit zueilen, und wir soupirten mit Dumas selbst und mit Eugène Sue und begegneten Théophile Gautier und Alphonse Karr. Auch Lamartine sahen wir und hatten viel freundschaftlichen Verkehr mit Scribe und mit dem freundlichen, wohlwollenden Amadée Pichot. Eines Tages besuchten wir in der Rue du Bac den kranken, leidenden Chateaubriand, bei dem wir eine Aehnlichkeit mit Basil Montagu Der gelehrte Herausgeber der Werke Lord Bacon's, auch bekannt als Freund von Coleridge und Mitarbeiter Romilly's und Mackintosh' an der Reform des Criminalrechts. Er starb 81jährig in Boulogne, 1851. – D. Uebers. fanden; gelangten zu dem entgegengesetzten Extrem der Ansichten in dem Atelier David D'Angers' und beschlossen jenen Tag im Hause Victor Hugo's, von welchem Dickens mit unendlicher Höflichkeit und Grazie aufgenommen wurde. Der berühmte Schriftsteller bewohnte damals ein Stockwerk in einem stattlichen Eckhaus der Place Royale, dem alten Quartier Ninon L'Enclos und der Leute der Regentschaft, an welche die prächtigen Tapeten, die gemalten Decken, die wunderbaren Schnitzarbeiten und die alten vergoldeten Meubeln, unter denen ein Thronhimmel aus irgend einem Palast des Mittelalters sich befand, uns seltsam und großartig gemahnten. Er selbst war jedoch das Beste was wir sahen und ich finde es schwer, die Attitüden und die Erscheinung, in welcher die Welt ihn vor Kurzem angestaunt hat, mit der ruhigen Anmuth und dem besonnenen, ruhigen Ernst jenes Abends vor fünfundzwanzig Jahren zu vereinigen. Louis Philippe hatte ihn gerade damals geadelt, aber seinen wahren Adelsbrief hatte er von der Natur empfangen. Etwas unter Mittelgröße, von fester, strammer Gestalt, das reiche schwarze Haar frei über das ganz abrasirte Gesicht niederfallend, sah ich in so geistvollen Zügen nie eine so milde und gewinnende Anmuth, und nie habe ich die französische Sprache mit der malerischen Deutlichkeit sprechen hören, welche Victor Hugo ihr verlieh. Er sprach von seiner Kindheit in Spanien, und daß sein Vater zur Zeit der Napoleonischen Kriege Gouverneur des Tajo gewesen; äußerte sich mit Wärme über das englische Volk und seine Literatur, erklärte, daß er der Melodie und der Einfachheit in der Musik vor dem damals am Conservatorium herrschenden Geschmack den Vorzug gebe, redete freundlich über Pousard, lachte über die Schauspieler, die seine Tragödie im Odéon gemordet hatten, und drückte seine Sympathie für Dumas' dramatisches Unternehmen aus. An Dickens richtete er allerliebste Schmeicheleien im besten Geschmack, und mein Freund erinnerte sich lange an jenen genußreichen Abend.

Es bleibt wenig über unsere Ferien in Paris hinzuzufügen, wenn überhaupt nicht schon zu viel darüber gesagt ist. Wir hatten ein Abenteuer mit einem betrunkenen Kutscher, dessen Folgen wenigstens die Energie und Entschiedenheit der Polizei in Bezug auf Miethwagen Dickens' erster Brief nach meiner Rückkehr beschrieb mir dieselben. »Erinnerst Du Dich, daß ich einen Brief über jenen Kutscher an den Polizeipräfekten schrieb? Ich hörte nichts darüber bis auf den heutigen Tag« (12. Februar), »wo, in demselben Augenblick, als Dein Brief ankam, Roche den Kopf in die Thür hereinsteckte (ich war gerade in dem freiherrlichen Salon mit Schreiben beschäftigt) und sagte: ›Hier ist dieser Cocher!‹ – Sir, er war die ganze Zeit im Gefängniß gewesen und wurde nach seiner Freilassung heute Morgen von der Polizei zu mir geschickt, um die anderthalb Franken zurückzuzahlen und um Verzeihung zu bitten, und eine Bescheinigung zu bringen, daß er dies gethan, weil er sonst sein Geschäft nicht wieder anfangen konnte. Ist das nicht bewunderungswürdig? Aber der Höhepunkt der Geschichte (es hätte bei Niemandem vorkommen können außer bei mir) ist, daß er betrunken war als er kam! Nicht sehr, allein sein Auge starrte und er schwankte in seinen Stiefeln und roch nach Wein, und bemerkte in unzusammenhängender Weise gegen Roche, er würde es nicht gethan haben (nämlich sich gegen mich vergangen), hätte das Volk ihn nicht dazu angetrieben. Er schien verwirrt durch eine phantastische Vorstellung, als habe ganz Paris sich an jenem Abend in der Rue St. Honoré um uns versammelt und ihn mit wildem Geschrei aufgehetzt . . . Schnee, Frost und Kälte . . . Der Herzog von Bordeaux befindet sich sehr wohl und dinirt morgen in den Tuilerieen . . . Wenn ich fertig bin, werde ich Dir einen glänzenden Brief schreiben . . . Herzliche Grüße von Allen . . . Dein blau und goldenes Bett sieht verödet aus.« – Die Anspielung auf den Herzog von Bordeaux sollte mich an ein hübsches Versehen erinnern, das er selbst während unserer Unterredung mit Chateaubriand gemacht hatte, indem er, in Verlegenheit dem alten Royalisten etwas Interessantes zu sagen, auf den Gedanken kam, sich mit Sympathie zu erkundigen, wann Chateaubriand den Repräsentanten der älteren Linie der Bourbons zuletzt gesehen habe, – als hätte derselbe damals in Paris gewohnt. während jener letzten Tage der Orleans'schen Monarchie erkennen ließen. In der Bibliothèque Royale interessirte es uns sehr, unter vielen andern Schätzen Gutenberg's Typen, Racine's Anmerkungen zu seinem Exemplar des Sophokles, Rousseau's Noten und Voltaire's Bemerkungen zu dem Briefe Friedrichs von Preußen zu sehen. Ich darf auch nicht vergessen zu erwähnen, daß in demjenigen, was Dickens selbst mir damals über seine geringen Erfahrungen hinsichtlich der socialen Zustände von Paris erzählte, ganz dieselbe Krankheit erschien, welche später durch das zweite Kaiserreich wüthete. Nicht viele Tage nach meiner Abreise drängte ganz Paris sich zu der Versteigerung der Hinterlassenschaft einer Dame der Demi-Monde, Marie Du-Plessis, die das glänzendste und verworfenste Leben geführt, und die feinsten Meubeln und die üppigsten und prachtvollsten Bijouterieen hinterlassen hatte. Dickens hatte einmal die Absicht, die Moral dieses Lebens und Todes, über welche in Paris viel gesprochen wurde, während wir dort zusammen waren, darzustellen. Die Krankheit der Sättigung, die nur weniger oft als Hunger für ein gebrochenes Herz gilt, hatte sie getödtet. »Was wünschen Sie?« fragte der berühmteste der Pariser Aerzte, außer Stande, sich ihr eigentliches Leiden zu erklären. Endlich antwortete sie: »Meine Mutter zu sehen.« Man ließ dieselbe holen und es kam eine einfache bretagnische Bauerfrau, in dem eigenthümlichen Kostüm ihrer Provinz, die an ihrem Bett betete, bis sie starb. Staunenswerth war die allgemeine Bewunderung und Sympathie und sie erreichte ihren Höhenpunkt, als Eugène Sue bei der Auktion ihr Gebetbuch kaufte. Unsere letzte Unterredung vor meiner Abreise von Paris, nach einem Dîner in dem Gesandtschaftshotel, bezog sich auf die Gefahren, welche diesem Allen zu Grunde lagen und auf die ebenfalls überall sichtbaren Zeichen des Napoleon-Cultus, den die Orleanisten selbst am meisten begünstigt hatten. Der Zufall brachte Dickens vierzehn Tage später nach England; und wir trafen damals in Gore-House wieder den verschlossenen, schweigsamen Mann, dessen zweifelhafte Erbschaft ihm so zu raschem Anheimfallen zubereitet wurde.

Der ›Zufall‹ bestand darin, daß Dickens zwei Seiten zu wenig für sein Heft von Dombey geschrieben hatte und daß keine Zeit dazu war, dieselben nachzuholen, außer, wenn er nach London kam und sie dort schrieb. »Ich bin entsetzt zu finden, daß das erste Kapitel mindestens zwei Seiten weniger ausmacht als ich gedacht hatte, und ich habe eine schreckliche Ahnung, daß nicht genug Manuskript für das Heft da sein wird! Da nun das Heft keinesfalls zu kurz ausgegeben werden darf und da es ebenso unmöglich ist, daß man mich ersucht, in diesem kurzen Monat zu ersetzen was etwa fehlt, so bin ich – nachdem der erste Ausbruch von Aufregung vorüber ist – entschlossen, diesem Brief morgen früh mit der Diligence zu folgen. Die Briefpost ist für eine Reihe von Tagen besetzt. Ich hoffe im Laufe des Freitags bei Dir zu sein.« Dickens an Forster. Paris, Mittwoch, 17. Februar 1847. Dies geschah demnach; aber eine neue Unruhe folgte. Er war kaum nach Paris zurückgekehrt, als sein ältester Sohn, den ich mit nach England genommen und zu Dr. Major, dem damaligen Principal der Kings-College-Schule in's Haus gebracht hatte, am Scharlachfieber krank wurde. Dies brachte Dickens' Aufenthalt in Paris vorzeitig zum Abschluß . . . Aber obgleich er und seine Frau sofort herüberkamen und die Kinder und deren Tante einige Tage später nachfolgten, konnte die Absperrung des kleinen Kranken doch nicht sobald durchbrochen werden. Sein Vater sah ihn endlich, fast einen Monat vor den andern, in einem Logis in Albany-Street, wo seine Großmutter, Mrs. Hogarth, sich seiner Pflege gewidmet hatte; und ein Vorfall bei diesem Besuche, der uns alle sehr belustigte, wird nicht unpassend den Gegenstand einleiten, der mich in meinem nächsten Kapitel erwartet.

Eine in dem Logis beschäftigte alte Scheuerfrau hatte bei der Familiennoth so viel Sympathie bewiesen, daß Mrs. Hogarth ihr besonders von dem bevorstehenden Besuch erzählte, und wer es sei, der in das Krankenzimmer komme. ›O Gott, Madam‹, sagte sie. ›Ist der junge Herr oben der Sohn des Mannes, der Dombey zusammengesetzt hat?‹ In Bezug auf diesen Punkt beruhigt, erklärte sie ihre Frage, indem sie bemerkte, sie habe nie gedacht, es gebe einen Mann, der Dombey hätte zusammensetzen können. Als man sie weiter befragte, was denn ihre Ansicht über dies Dombey-Mysterium sei (denn man wußte, daß sie nicht lesen konnte), ergab es sich, daß sie in dem Hause eines Tabakshändlers, Namens Douglas, wohne, wo noch andere Miethwohner seien, und daß am ersten Montag jedes Monats ein Thee stattfinde und daß der Wirth das Monatsheft von Dombey vorlese, wobei nur diejenigen Miethwohner, die für den Thee subscribirten, diesen Luxusartikel genössen, aber alle an dem Vergnügen der Vorlesung theilnehmen dürften; und der auf die alte Scheuerfrau hervorgebrachte Eindruck enthüllte sich in der Bemerkung, mit welcher sie ihren Bericht schloß. ›Bei Gott, Madam! Ich glaubte, drei oder vier Männer müßten Dombey zusammengesetzt haben!‹

Nach Dickens' Meinung lag darin eine Art von Compliment und er war nicht undankbar.

 

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