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Zwölftes Kapitel.

Skizzen, besonders persönlicher Art.
1846.

Einige Skizzen nach dem Leben in Dickens' angenehmster Manier müssen jetzt aus derselben Reihe von Briefen mitgetheilt werden, und ich will einige weniger wichtige Notizen, ebenfalls meist persönlicher Art, voranschicken, welche charakteristische Bemerkungen über seine Ansichten enthalten.

Die innere englische Politik kritisirte er in einem Briefe vom 24. August so ziemlich in dem Sinne seiner letzten vortrefflichen Bemerkung über die protestantischen und katholischen Kantone; denn er fühlte keine Sympathie für das Verfahren der Whigs gegen Irland, nachdem diese Sir Robert Peel bei seiner Zwangsbill geschlagen und dann die Regierung wieder übernommen hatten. »Ich bin vollständig entsetzt über das Schwanken und die Feigheit der Whigs. Ihre Waffenbill dem Parlament vorzulegen, die Wucht des Angriffs dagegen auszuhalten, die mißliebigen Clauseln daraus zu entfernen, doch an der Bill festzuhalten und sie dann schließlich zurückzuziehen, scheint mir die erbärmlichste Politik, die man sich denken kann. Ich kann nicht an die Whigs glauben. Lord John Russell muß hülflos unter ihnen sein. Sie scheinen aus irgend welchem Grunde nie zu wissen, was für Karten sie in der Hand halten und sie mit verbundenen Augen auszuspielen. Der Contrast mit Peel (wie er zuletzt war) ist, ich stimme darin mit Dir überein, nicht günstig. Ich glaube jetzt nicht, daß sie die Korngesetze je abgeschafft haben würden, auch wenn sie es gekonnt hätten.« In demselben Briefe Er macht dort auch eine Bemerkung über eine Klasse von Verbrechern, welche noch immer ungenügend bestraft werden. »Ich hoffe, Du wirst Deinen Gedanken über den mangelhaften Zustand der Gesetze in Hinsicht auf die Frauen einige Bemerkungen über die ungenügende Bestrafung jenes Schurken nachfolgen lassen, den die Pennyscribenten leichtfertig den Heirathsspekulanten en gros nennen. Meine Meinung ist, daß er bei wohlgeordneten gesellschaftlichen Zuständen und einem vorgeschrittenen Geist der socialen Jurisprudenz mehr als einmal (privatim) geprügelt, und jedenfalls zur Transportation auf keine geringere Zeit, als den Rest seines Lebens verurtheilt werden würde. Der Mann, der die Frau aus dem Fenster warf, war jedenfalls nicht schlechter, wenn so schlecht.« spricht er von dem Widerstreben der öffentlichen Männer aller Parteien, Auswanderungsplänen den nöthigen Beistand zu gewähren, und schreibt dasselbe einem geheimen Glauben an »den gentilen national-ökonomischen Grundsatz zu, daß ein Ueberschuß der Bevölkerung darben müsse und solle« – einen Grundsatz, worin er selbst nie etwas Anderes sehen konnte, als Unglück für Alle, die darauf bauten. »Ich bin überzeugt, daß diese Philosophen jede, selbst die gerechteste Regierung, Sache, Lehre zu Grunde richten würden. Es lebt ein gesundes Gefühl und eine Menschlichkeit in der Masse des Volkes, vor der sie auf die Dauer nicht Stand halten können; und sie werden ihre Freunde immer scheitern lassen, wie sie sie bei der Durchführung der Armengesetze scheitern ließen. Nicht alle Zahlen, die Babbage's Rechenmaschine in zwanzig Generationen hervorbringen könnte, würden auf die Dauer gegen das allgemeine Gefühl Stich halten.« Diese Bemerkungen sind speciell gegen die Malthus'sche Lehre von der Bevölkerung gerichtet. Babbage ist der vor Kurzem gestorbene, angesehene englische Mathematiker, der unter anderm eine Rechnenmaschine erfand. – D. Uebers.

Unter andern in seinen Briefen berührten Gegenständen besitzen einige die vermehrte Anziehungskraft, welche Charakterzügen von persönlichem Interesse eigen ist, wenn dieselben mit Schicklichkeit gedruckt werden können. So spricht er über einen Roman von Hood. »Ich habe des armen Hood › Tylney Hall‹ gelesen: das außerordentlichste Gemisch von unmöglichen Excentricitäten und ungewöhnlichem Geist, das mir je vorgekommen. Der nach dem Leben gezeichnete Charakter des vom Nachdruck lebenden Buchhändlers ist wunderbar gut und seine Empfehlung an einen heruntergekommenen Universitätsmann, aus dem Nichts emporzusteigen, wie er, der Nachdrucker, es gethan, und in den Kirchen herumzugehen und sich zu erkundigen, ob nicht eine Stelle dort frei sei und nöthigenfalls als Pedell anzufangen, ist in ihrer Art eine der besten Sachen, die ich je gelesen.« Derselbe Brief enthält einen zarten kleinen Zug über den großen Herzog, rührend in seiner Einfachheit und werth, aufbewahrt zu werden. »Ich bekam gestern einen Brief von Tagart, der eine merkwürdige kleine Anekdote über den Herzog von Wellington enthielt. Sie hatten ein kleines Landhaus in Walmer und eines Tages – erst ganz vor Kurzem – begegnete der alte Mann ihrer kleinen Tochter Lucy, einem Kinde von Mamey's Alter, am Garten, und nachdem er sie geküßt und nach ihrem Namen gefragt hatte, und wer und was ihre Eltern wären, band er ihr eine kleine silberne Medaille mit einem rothen Band um den Hals und bat das Kind, dieselbe zum Andenken an ihn zu behalten. Es ist etwas Gutes und Altes und Seltsames darin – meinst Du nicht auch?«

Eine andere persönliche Bemerkung bezog sich auf Lord Grey, gegen dessen Redeweise und Charakter im Allgemeinen er immer eine stark ausgesprochene Abneigung fühlte, eine Abneigung, welche, nicht ganz unparteiisch und gerecht, aus den Tagen der Reaktion hervorging, die den Reformdebatten folgten, als die am wenigsten anziehenden Eigenthümlichkeiten des Führers der Whigs sich dem jungen Berichterstatter darstellten. »Es ist ein sehr intelligenter angenehmer Mensch, der besagte Watson« (er spricht von dem Mitgliede seines Lausanner Kreises, zu dem er später in die freundschaftlichsten Beziehungen trat); »er war Parlamentsmitglied für Northamptonshire zur Zeit der Reformbill und ist Obersheriff für seine Grafschaft, aber dabei ohne jeden Humbug und ein wirklich aufrichtiger Liberaler. Er hat eine allerliebste Frau, die gut zeichnet und für uns eine Skizze von Rosemont macht, welche in Paris Dein werden soll.« (Sie gehört schon, mit Erlaubniß des gegenwärtigen Besitzers, dem Leser und Allen, die für das kleine Puppenhaus in Lausanne, welches einen so berühmten Einwohner hatte, ein Interesse empfinden mögen.) »Er theilte mir neulich Abends, als wir Rackett spielten, einige gute Reminiscenzen über Lord Grey (den alten Lord Grey) mit und über die constitutionelle Unmöglichkeit, welche ihn und Lord Lansdowne und alle andern hinderte, während der ganzen Aufregung jener aufgeregten Zeit auch nur einen einzigen jungen Mann an die Parteiführer zu fesseln. Es war mir, indem ich ihm zuhörte, ein wahrer Genuß, mich an meine eigene Abneigung gegen seine Redeweise, seine fischartige Kälte, seine unsympathische Höflichkeit und sein unerträgliches, obschon äußerst gentlemännisches gekünsteltes Wesen zu erinnern. Die Form seines Kopfes (ich sehe sie jetzt vor mir) war Elend für mich, und lastete drückend auf meiner Jugend. . . .«

Die zweite Augustwoche hatte damals angefangen, und ehe er schließlich an das zweite Heft von Dombey ging, warf er wieder einen zögernden Blick nach seinem Weihnachtsbuch. »Es würde eine solche Erleichterung für mich sein, diese kleine Geschichte aus dem Wege geräumt zu haben.« Er war jedoch wieder weise genug, davon abzustehen und setzte Dombey weiter fort. Nachdem er einige Zeit daran gearbeitet, schilderte er mir (am 24. August) einen Besuch zweier englischen Reisenden, von deren Einem er mit leicht hingeworfenen Zügen ein sprechendes Bild entwarf. Zehn Tage vorher hatte er einen Besuch von Ainsworth und dessen Töchtern gehabt, die auf dem Wege nach Genf waren. »Ich frühstückte mit ihm am folgenden Morgen im Hotel Gibbon und sie dinirten später bei uns, und wir wanderten den ganzen Tag umher und redeten von unsern alten Tagen in Kensal-Lodge.« Derselbe Brief erzählte: »Wir hatten neulich in Ouchy eine Regatta, zu der hauptsächlich die Handvoll der hiesigen Engländer beigesteuert hatte. Sie schloß mit einer Ruderwettfahrt von Frauen, die sehr spaßhaft war. Ich wollte, Du hättest Roche auf dem See sehen können, wie er in einem gewaltigen Boote die Köchin, Anne, zwei Dienstmädchen, Katey, Mamey, Walley, Chickenstalker und Baby umherruderte, ohne Bootsleute oder andern entwürdigenden Beistand, und inmitten aller möglichen um ihn her plätschernden Schweizerkähne . . . Versuche nicht, Dich von Deinem Versprechen, nach Paris zu kommen, loszumachen, sondern sorge dafür, daß wir wirklich einige glückliche Stunden dort genießen. Kate, Georgy, Mamey, Katey, Charley, Walley, Chickenstalker und Baby grüßen Dich . . . Ich bin voll fieberhafter Unruhe, zu wissen, wie Dombey vom Stapel laufen wird.«

»Da ich Deinen Brief nicht wie gewöhnlich empfing, setzte ich mich gestern hin, um Dir auf Spekulation zu schreiben, verfiel aber in meiner Ungewißheit auf Dombey und arbeitete daran den ganzen Tag. Es regnete, wie schon seit vorigen Dienstag Morgen, ein unaufhörlicher regelmäßiger Bergregen. Nach dem Dîner, etwas nach sieben Uhr, ging ich unter der kleinen Colonnade im Garten auf und ab, und folterte mein Gehirn mit Dombeys und Kämpfen des Lebens, als zwei reisebeschmutzt aussehende Männer sich näherten, deren einer, in einem sehr hohen und melancholischen Strohhut, sich fortwährend tief vor mir verneigte, indem er den Gang heraufkam. Ich hatte keine Idee, wer sie waren und erst als ich ihnen ganz nahe war, erkannte ich A. und (in dem Strohhut) N. Sie waren mit dem Dampfschiff von Genf gekommen und hatten an Bord dinirt so gut es eben ging. Ich gab ihnen schonen Rheinwein und unzählige Cigarren. A. war in guter Laune und ganz wie zu Hause. N. war geziert, aber bei alledem vergnügt und gutmüthig. A. hatte eine Fünfpfundnote in der Tasche, die durch sorgloses Umhertragen bis auf zwei Drittel ihrer ursprünglichen Größe verkleinert und so zerlumpt war, daß die Fetzen auf dem Tische umherflogen als er sie hervorzog. ›O Himmel, wissen Sie – wahrhaftig – ganz wie Goldsmith, wissen Sie, – oder einer jener großen Männer!‹ sagte N., mit eben den Stößen der Stimme und Ausbrüchen der Rede, die Leigh Hunt an Cloten erinnerten . . . Die Wolken lagen, wie sie hier in solchem Wetter thun, auf der Erde, und unsere Freunde sahen nicht mehr vom Lemansee als vom Battersee. Allem Anschein nach hatten sie auch auf ihrem Wege hierher nicht mehr von dem Mer de Glace gesehen; wenigstens glich ihr Gerede darüber sehr demjenigen des Mannes, der nach dem Niagarafall gewesen war und sagte, es wäre nichts als Wasser.«

Sein nächster Brief schilderte einen Ausflug der Cerjats, Watsons und Haldimands in die benachbarten Berge, woran er, gegen seine Gewohnheit, wenn er bei der Arbeit war, theilgenommen hatte, weil er der Versuchung nicht widerstehen konnte. Sie gingen nach einem drittehalb Meilen entfernten Bergsee, dinirten in dem Wirthshause am See und kehrten zurück über Vevey, wo sie zum Thee blieben und wo eine angenehme Unterhaltung mit Mr. Cerjat zu Anekdoten über einen vortrefflichen, früher in Lausanne ansässigen Freund von uns führte, mit denen der Brief schloß. Unser Freund war ein ausgezeichneter Schriftsteller und ein Mensch von wahrhaft schöner Begabung, hatte aber die Gewohnheit, sich gelegentlich in einer rohen Redeweise gehen zu lassen, die, obgleich sein früheres Leben es ihm ebenso leicht gemacht hatte, dieselbe anzunehmen, als schwer, sich ihrer zu entschlagen, einer sehr männlichen, ehrenhaften und weichen Natur immer weniger als Gerechtigkeit widerfahren ließ. Er hatte ebenso viel wahrhaft trefflichen Stoff in sich, als ein Lieblingsheld Smollett's oder Fielding's, und mir ist nie ein Mensch vorgekommen, der mich so sehr an jene Charaktere erinnerte. »Nach Cerjat's Erzählung scheint es, daß er während seines Aufenthalts hier in seinem allgemeinen Unterhaltungstone noch unendlich viel schlimmer war als jetzt, so daß Cerjat immer unsägliche Angst ausstand, wenn er bei ihm zu Tische war, daß er sich nicht etwa vergessen (oder, wie ich bemerkte, sich seiner selbst erinnern) und in Gegenwart der Damen ausbrechen möchte. Nun lebte hier um jene Zeit ein stattlicher englischer Baronet und seine Frau, die zwei weibische Söhne hatten, hinsichtlich deren sie den Gedanken hegten, ihre Erziehung bis ins Mannesalter unter der Fortdauer so vollkommener Reinheit und Unschuld zu vollenden, daß sie kaum ihr eigenes Geschlecht kennen sollten. Sie wurden demnach in keine Schule und auf keine Universität geschickt, sondern hatten alle möglichen Lehrer zu Hause, und erreichten so etwa das neunzehnte Jahr in einem Zustande, den Falstaff eine Art männliche Grün-Krankheit nennt. In dieser Krise ihrer unschuldigen Existenz traf unser währwölfischer Freund diese Lämmer nebst ihrem Vater in Cerjat's Hause bei Tische und, als wäre er vom Teufel besessen, erging er sich in so entsetzlichen und haarsträubenden Unschicklichkeiten, – in dem ganzen Umkreis aller möglichen verbotenen Gegenstände, verbotenen Worte und skandalöser Anekdoten – daß Jahre der Erziehung in Newgate nichts gewesen sein würden im Vergleich mit den Erfahrungen jenes einen Nachmittags. Der Baronet, der immer blasser und immer steiniger geworden war, erhob sich endlich mit einem halbunterdrückten Schrei und floh. Aber die Söhne – von dem Währwolf festgebannt, blieben dort, statt ihrem Vater zu folgen, und sollen von dieser Stunde an dem Verderben geweiht gewesen sein. Ist das nicht eine gute Geschichte? Ich sehe unsern Freund und seine Schüler vor mir . . . Armer Mensch! Er scheint mir mit seiner Frau viel ausgestanden zu haben. Sie hatte nicht das geringste Interesse für ihre Kinder und war eine solche Furie, daß sie zuweilen, wenn sie sich angekleidet hatte um zum Dîner auszugehen, ohne jeden andern Vorwand als daß eine Nadel oder so derartiges nicht am rechten Platze war, über ihre kleine Kammerjungfer herfiel, sie so lange schlug bis sie nicht mehr stehen konnte, dann in hysterische Krämpfe fiel und sich zu Bette tragen ließ. Er wurde zum Märtyrer an ihr und scheint bei alledem in seiner gutmüthigen leichtlebigen Art und Weise gerade so gewesen zu sein, wie wir ihn jetzt kennen.«

Es kamen um diese Zeit einige neue reisende Engländer außerhalb des kleinen Dickens'schen Kreises in Lausanne an, und unter ihnen spielte ein anderer Baronet und seine Familie eine belustigende Rolle. »Wir haben noch eine englische Familie hier, einen Sir Joseph, nebst seiner Lady und zehn Kindern. Sir Joseph, ein großer Baronet in dem Grahamschen Styl, mit einer kleinen, geschwätzigen, plattköpfigen, abgelebt aussehenden alten jungen Frau. Sie lieben die Gesellschaft und könnten nicht gut weniger haben. Sie freuen sich an schönen Aussichten und wohnen in einer engen Straße in Ouchy, unten, zwischen betrunkenen Fischern und Lastwagen und Omnibussen, wo durchaus nichts zu sehen ist, als die im Hemmschuh gehaltenen Räder von Wagen, welche das unebene, steile Steinpflaster hinabscharren. Der Baronet spielt den ganzen Tag doppelten Strohmann mit einem unglücklichen Schweizer, den er zu diesem Zweck eingefangen hat; die Lady des Baronets macht Besuche und die Töchter des Baronets spielen ein Lausanner Piano, das man hören muß, um es zu würdigen . . .«

Eine andere Skizze in demselben Briefe berührt wenig mehr als die Exentricitäten (aber alles in gutem Geschmack und guter Laune) eines Mannes, dessen die englischen Bewohner Italiens wegen seiner gelehrten Freigebigkeit und wegen der dadurch der italienischen Literatur geleisteten Dienste noch immer dankbar gedenken. »Ein andrer merkwürdiger Mann geht hier ab und zu– ein Lord Vernon Dies war der vierte Lord Vernon, der 1829 den Titel erlangte und sieben Jahre nach Dickens' Beschreibung in seinem 74sten Jahre starb. – wohlunterrichtet, ein großer Kenner Dante's und ein sehr gutmüthiger Herr, der aber in die seltsame Bethörung verfallen ist, jedem in der Schweiz stattfindenden Schützenschießen beizuwohnen, und zwar in Begleitung zweier Männer, die nach einander die Büchsen für ihn laden, welche er häufig, zwei in der Minute, vierzehn Stunden lang in einem Zuge abgefeuert hat, ohne seine Stellung zu verändern oder den Schützenstand zu verlassen. Er gewinnt alle möglichen Preise: goldne Uhren, Flaggen, Theelöffel, Theebretter und so fort, und reist mit denselben fortwährend von Ort zu Ort umher, in einem wunderbaren Wagen, wo man eine Springfeder berührt und es fliegt ein Stuhl heraus; man berührt eine andere Springfeder und es erscheint ein Bett; man berührt wieder eine andere und es öffnet sich ein Cabinet mit Pickles, man berührt noch eine andere Springfeder und es enthüllt sich eine Speisekammer. Inzwischen übersteigt Lady Vernon (die schön und sehr gebildet sein soll) beständig in der Nacht bald diesen bald jenen Alpenpaß, um ihn auf seinen Ausflügen für einige Minuten auf dem Wege zu treffen, denn das sind die einzigen Gelegenheiten, wo sie ihn abfangen kann. Zuletzt sah er sie vor fünf bis sechs Monaten, als sie sich auf dem St. Gotthard trafen und dort zusammen soupirten! Bei ihm ist es natürlich eine Monomanie. Er ist ein ganz bemerkenswerther Mann, unterstützte eine von Lord Melbonrne's Thronadressen und hatte £ 20,000 jährliche Einkünfte, die jetzt auf £ 10,000 reducirt sind, aber sich jeden Tag verbessern. Er war vorigen Montag bei uns und kommt am nächsten Freitag aus irgend einem abgelegenen Orte zurück, um sich einem kleinen Picnic anzuschließen. Wie ich schon sagte, ist er die Gutmüthigkeit und Heiterkeit selbst, aber man kann nicht umhin, melancholisch zu werden, wenn man einen Menschen sein Leben an einen so seltsamen Wahn vergeuden sieht. Ist es nicht sonderbar? Er kennt meine Bücher sehr gut und scheint für alles darauf Bezügliche interessirt, wie er denn überhaupt sehr belesen und vielen eleganten Neigungen ergeben ist.«

Der angenehmsten Erweiterung ihres eigenen Kreises gedachte er jedoch in seinem ersten Septemberbriefe, grade als er mit dem zweiten Hefte von Dombey zum Abschluß gelangte. »Es sind zwei nette Mädchen hier, die Ladies Taylor, Töchter Lord Headfort's. Ihre Mutter war, glaube ich, eine Tochter Sir John Stephenson's und Moore widmete ihr einen Theil der ›Irischen Melodieen‹. Sie haben den musikalischen Geschmack geerbt und singen sehr gut. Es ist ein Plan im Werke, daß wir alle (16 stark) am Dienstag nach dem Gipfel des St. Bernhard aufbrechen. Aber es scheint, als wäre das schöne Wetter vorbei und als hätten die Herbstregen begonnen, was, wie ich sehnlich hoffe, den Ausflug verhindern wird. Derselbe würde grade jetzt ein ernstliches Hinderniß für mich sein; aber ich habe voreilig zugesagt. Kennst Du den jungen Romilly? Er kommt von Genf herüber wenn ›die Vorlesung‹ stattfindet und ist, wie es heißt, ein tüchtiger Mensch. Es ist hier ein nicht übles kleines Theater und es würde mir ganz gewiß gelungen sein, es mit einer Gesellschaft von Amateurs zu eröffnen, wären unser nicht so wenige, daß Alles was uns fehlt die Zuhörer sind.« . . . Die von ihm erwähnte ›Vorlesung‹ bezog sich auf das erste Heft von Dombey. Sie sollte stattfinden, sobald ich ihm die Correkturbogen schicken konnte, doch die noch nöthigen später zu erwähnenden Abänderungen verzögerten sie. Der Ausflug nach dem St. Bernhard, welchen Dickens, Angesichts der Arbeit an seinem Weihnachtsbuch, gern über Bord geworfen hätte, wurde verabredetermaßen ausgeführt, zum Glück für den Leser, der sonst eine seiner hübschesten Schilderungen würde verloren haben. Ehe ich dieselbe jedoch mittheile, mag noch eine kleine Charakterskizze eingeschaltet werden, welche an Zartheit der Ausführung keiner andern in seinen Werken nachsteht. In den Umrissen findet man Steele's Beobachtungsgabe, in der Färbung den Humor von Charles Lamb.

»Es leben hier zwei alte Damen (Engländerinnen), die mir für einige Zeilen Klatsch dienen mögen, – wie sie schon längst hätten thun sollen, hätte ich es nicht immer wieder vergessen. Es waren ursprünglich vier alte Damen, Schwestern, aber zwei davon sind im Verlaufe von achtzehn Jahren verblichen und an John Kemble's Seite auf dem Kirchhof verwittert. Sie sind sehr klein und sehr mager, und beide tragen eine Reihe falscher Locken, wie kleine Rollhölzer, so tief auf die Stirne nieder, daß gar kein Vorderkopf da ist, nichts über den Augenbrauen als eine tiefe horizontale Falte und dann die Locken. Sie leben von einer kleinen Leibrente. Dreizehn Jahre lang haben sie sehr gewünscht, nach Italien zu gehen, da die älteste alte Dame sagt, daß das Klima dieses Theils der Schweiz ihr nicht zusagt und niederdrückend auf ihre Stimmung wirkt; aber sie haben nie fortgehen können, wegen der Schwierigkeit der Fortschaffung ›der Bücher‹. Diese ungeheuere Bibliothek gehörte einmal dem Vater der alten Damen und umfaßt etwa fünfzig Bände. Ich habe nie sehen können, was für Bücher es sind, weil eine der alten Damen immer davor sitzt; aber von außen sehen sie aus, wie sehr alte Triktrack-Bretter. Die zwei verstorbenen Schwestern starben in der festen Ueberzeugung, daß dieser kostbare Besitz sich nicht über den Simplon schaffen lassen werde, ohne eine riesenhafte Anstrengung, welcher die ganze Familie nicht gewachsen sei. Die zwei hinterbliebenen Schwestern leben in demselben Glauben und werden auch darin sterben. Ich begegnete der ältesten gestern (offenbar in hinfälligem Zustande) und empfahl ihr, Genua zu versuchen. Sie blickte bedeutungsvoll nach dem Schnee hinüber, der grade jetzt die Aussicht in die Berge schließt und sagte, wenn der Frühling in Blüthe stehe und die Lavinen gefallen und die Pässe ganz offen seien, werde sie jenen Ort jedenfalls versuchen, falls sie im Laufe des Winters ein Mittel ausfindig machen könne, ›die Bücher‹ fortzuschaffen. Die ganze Bibliothek wird hier, wenn sie beide todt sind, für etwa einen Napoleon meistbietend versteigert werden und eine junge Frau wird sie in zwei Gängen in einem Korbe nach Hause tragen.«

Sein letzter Brief an mich, ehe er an seine selbstgestellte Weihnachts-Aufgabe ging, enthielt eine köstliche Schilderung des Ausfluges nach dem Großen St. Bernhard. Er war vom sechsten September datirt.

»Da das Wetter sich hartnäckig aufklärte, brachen wir vorigen Dienstag nach dem Großen St. Bernhard auf, von wo wir am Freitag Nachmittag zurückkehrten. Die Gesellschaft bestand aus elf Personen und zwei Dienern: Haldimand, Mr. und Mrs. Cerjat und eine Tochter, Mr. und Mrs. Watson, die beiden Ladies Taylor, Kate, Georgy und ich. Wir waren wunderbar einstimmig und heiter, fuhren von hier mit dem Dampfschiff ab, fanden an dessen Bestimmungsorte einen ganzen von dem Braven (der uns überall vorausreiste) bereit gehaltenen Omnibus, fuhren in demselben nach Bex, fanden dort zwei große Wagen in Bereitschaft, die uns nach Martigny brachten, schliefen dort und ritten den folgenden Tag mit Maulthieren den Berg hinauf. Obgleich das Kloster auf dem St. Bernhard, wie Du wissen wirst, mit einer einzigen Ausnahme der höchste bewohnte Ort in der Welt ist, ist die Ersteigung äußerst allmälig und ungewöhnlich leicht; in der That, sie bietet gar keine Schwierigkeiten dar, bis auf die letzte halbe Meile, wo die Steigung eine ›Thal der Einöde‹ genannte Strecke hinaufgeht, die höchst schrecklich und furchtbar ist, und verstreute Felsen und schmelzender Schnee die Straße beschwerlich machen. Das Kloster ist ein außerordentliches Gebäude, voll großer gewölbter Gänge, welche durch eiserne Gitter von einander getrennt sind und eine Reihe der erstaunlichsten kleinen Schlafzimmer enthalten, wo die Fenster so klein sind (wegen der Kälte und des Schnees), daß man nur mit Mühe den Kopf hinausstecken kann. Hier schliefen wir, nachdem wir, dreißig an der Zahl, in einem zu diesem Zweck bestimmten weitläufigen Zimmer, worin ein großes Holzfeuer brannte, zu Abend gegessen hatten, wobei ein finstrer Mönch mit einem hohen schwarzen spitzzulaufenden Hut, dessen Deckel einen Knopf trug, die Speisen vorlegte. Um fünf Uhr Morgens läutete die Glocke der Kapelle auf die trübseligste Weise zur Frühmesse und ich, der dicht neben der Kapelle schlief, und durch die feierliche Orgel und das Singen aufgeweckt wurde, glaubte einen Augenblick, ich sei in der Nacht gestorben und in die unbekannte Welt hinübergegangen.

»Ich wollte, Du könntest den Ort sehen. Eine große Vertiefung auf dem Gipfel einer Kette gewaltiger Berge, umgeben von zerklüfteten Felsen jeder Gestalt und Farbe, und in der Mitte ein schwarzer See, über den beständig gespenstische Wolken dahinziehen. Berggipfel und Spitzen und Ebenen ewigen Eises und Schnees begrenzen die Aussicht und schließen die Welt auf allen Seiten aus; der See spiegelt Nichts ab und keine menschliche Gestalt belebt die Landschaft! Die Luft ist so dünn, daß es schwer ist zu athmen, ohne sich außer Athem zu fühlen, und die Kälte so ausgesucht scharf, daß sie sich nicht beschreiben läßt. In dem ganzen Bilde nichts Lebendiges oder von lebendigem Interesse, als die grauen öden Mauern des Klosters. Keine Vegetation irgend welcher Art. Nichts wächst, nichts regt sich, Alles ist felsenumgürtet und eingefroren. Neben dem Kloster, in einem kleinen Außengebäude mit eiserner Gitterthür, befinden sich die Leichen von im Schnee gefundenen und nicht identificirten Menschen und wesen dahin – nicht hingelegt oder ausgestreckt, sondern aufrechtstehend in Ecken und an den Wänden: einige aufrecht und entsetzlich menschlich, mit deutlichem Ausdruck in den Zügen, andere auf die Kniee niedergesunken, andere auf die Seite gefallen, noch andere völlig zusammengebrochen zu einem Haufen von Schädeln und faserigem Staub. Es gibt in dieser Atmosphäre keinen andern Verfall und dort bleiben sie während der kurzen Tage und der langen Nächte, die einzige menschliche Gesellschaft im Freien, langsam verwesend und in gräßlichem Besitze des Berges, auf dem sie gestorben sind.

»Es ist der eigenthümlichste und individuellste Ort, den ich gesehen habe, selbst in diesem wunderbaren Lande. Was jedoch die heiligen Väter vom St. Bernhard und das Kloster angeht, so bedauere ich, daß sie ein so großes Stück schieren Humbugs sind, als es uns je in unsern jungen Jahren gelehrt wurde. Elende französische Sentimentalität und die Hunde (von denen beiläufig gesagt nur noch drei übrig sind) sind Schuld daran. Sie sind ein faules Volk, nicht sehr geneigt, selbst auszugehen; lassen die Straße, die als Paß seit hundert Jahren nicht wichtig gewesen oder viel benutzt worden ist, durch Diener offen halten; sind reich und machen ein gutes Geschäft als Wirthsleute; denn das Kloster ist, abgesehen von dem Schilde, in allem andern nichts, als eine gewöhnliche Schenke. Allerdings fordern sie für ihre Gastfreiheit keine Bezahlung; aber man wird an einen Kasten in der Kapelle gewiesen, in den Jeder mehr hineinthut, als mit dem leisesten Anschein von Berechtigung für die Bewirthung verlangt werden könnte und hieraus zieht die Anstalt ein gutes Einkommen. Was die Selbstverleugnung des Lebens da oben betrifft, so müssen sie freilich jung hinaufgehen, um sich an das Klima zu gewöhnen; allein andererseits führen sie ein unendlich viel anregenderes und abwechselnderes Leben, als irgend ein anderes Kloster es bieten kann, mit beständiger Veränderung und Gesellschaft während des ganzen Sommers, mit einem Hospital für Kranke unten im Thale, was eine andre Abwechselung gewährt, und mit einer jährlichen Bettelreise nach Genf und Lausanne und allen umliegenden Orten, für einen oder den andern Bruder, was eine weitere Abwechselung bietet. Der Bruder, welcher bei unserm Abendessen vorlegte, konnte etwas englisch sprechen und hatte grade Pickwick zum Geschenk bekommen! – Für was für einen Humbug wird er mich halten, wenn er versucht, ihn zu verstehen! Hätte ich ein anderes Buch von mir bei mir gehabt, würde ich es ihm gegeben haben, um wenigstens einige Aussicht zu haben, daß ich verstanden würde . . .«

 

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