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Elftes Kapitel.

Schweizer Volk und Land.
1846.

Was ihm sofort als der wunderbarste Charakterzug der Berglandschaft aufgefallen war, war ihr ewig wechselnder und doch unveränderlicher Anblick. Sie erschien ihm nie zweimal als ganz dieselbe. Fünfzigmal täglich anders und neu, vorrückend und zurückweichend, war sie unverändert nur in ihrer Großartigkeit. Auch der See hatte jede Art wechselnder Schönheit für ihn. Bei Mondschein war er unbeschreiblich feierlich, und beim Herannahen eines Gewitters zeigte er, während der Himmel noch klar und der Abend hell blieb, eine seltsame Unruhe, die einen besonders geheimnißvollen und ergreifenden Eindruck machte. Ein solches Gewitter war unter seinen frühesten und freudigsten Erlebnissen, denn ein Grad von Hitze, schlimmer als in Italien selbst, Außerdem litt er auch, obgleich keine Moskitos dort waren, wie in Genua, zuerst durch eine Fliegenplage, die noch unerträglicher war als in Albaro. »Sie bedecken alles Eßbare, fallen in alles Trinkbare, taumeln in die nasse Dinte frisch geschriebener Worte und hinterlassen ihre Spuren auf dem Schreibpapier, stecken ihre Beine in den Seifenschaum an Deinem Kinn, während Du Dich Morgens rasirst, und treiben Dich zur Verzweiflung, so oft Du einmal bei Tageslicht einschläfst.« hatte ihn gleich Anfangs zu jeder Anstrengung unfähig gemacht, bis Blitz, Donner und Regen erschienen. Der Brief, worin er mir hiervon erzählte (5. Juli), beschrieb das Obst in der kleinen Farm als so reichlich, daß die Bäume des Obstgartens vor seinem Hause sich unter der Last beugten, sprach von einem an dem Seitenfenster seines Eßzimmers sich hinziehenden Waizenfelde als schon gemäht und eingeheimst und bemerkte, daß die von dem Regensturm entblätterten Rosen schöner und in größerer Zahl zurückkehrten als je.

Ueber das Schweizer Volk im Allgemeinen hatte er von Anfang an eine hohe Meinung gefaßt, die durch Alles, was er während seines Aufenthalts sah, bestätigt wurde. Es schien ihm die größte Ungerechtigkeit, sie »die Amerikaner des Continents« zu nennen. In seinen ersten Briefen sagte er von den Bauern in der Umgegend von Lausanne, sie seien so angenehme Leute als nur möglich. Er begegnete nie einem Manne, einer Frau oder einem Kinde, ohne daß man ihn grüßte, und Grobheit oder Unfreundlichkeit bemerkte er bei ihnen nie. »Sie haben,« fuhr er fort, »nicht die Milde und Anmuth der Italiener oder die angenehmen Manieren der besseren Sorte der französischen Bauern, aber sie sind vortrefflich erzogen (die Schulen dieses Cantons sind außerordentlich gut, auch in dem kleinsten Dorfe) und immer bereit, eine höfliche und gefällige Antwort zu geben. Es gibt kein größeres Mißverständniß. Ich sprach neulich mit meinem Hausherrn Sein vorhergehender Brief hatte mir seinen Hausherrn skizzirt. »Neulich Abends fand bei dem Signal ein Jahresfest für Kinder statt, das von der Stadt gegeben wurde. Es war schön, etwa hundert Paare Kinder in einem gewaltigen Kreise in einem grünen Walde tanzen zu sehen. Unsere drei ältesten waren dabei, unter dem Schutze meines Hausherrn, der 18 Jahre in der englischen Flotte gedient hat und jetzt Unterpräfekt der Stadt ist – ein sehr guter Mensch, ganz ein Engländer. Unsere Hausherrin, die doppelt so alt ist als er, hielt früher das Gasthaus (ein berühmtes) in Zürich, und nachdem sie £ 50,000 damit gemacht hatte, stattete sie einen jungen Gemahl damit aus. Sie hätte etwas Schlechteres thun können.« darüber und er sagte, er könne nicht begreifen, wie es entstanden sei; aber nach seiner Rückkehr aus einem achtzehnjährigen Dienst in der englischen Flotte habe er das Volk vermieden und kein Interesse dafür gefühlt, bis es allmälig seinen wirklichen Charakter seiner Beachtung aufgezwungen. Wir haben hier einen Kutscher und eine Köchin, die wir auf gut Glück aus der Stadt hernahmen, und ich habe nie gefälligere Diener oder Leute, die ihre Arbeit mit so aufrichtigem Ernst thaten, gesehen. Und in Bezug auf Reinlichkeit, Ordnung und Pünktlichkeit auf den Augenblick sind sie unvergleichlich. . . .«

Die erste große Versammlung der Schweizer Bauern sah er in der dritten Woche nach seiner Ankunft bei einem ländlichen Fest, das an einem ›Das Signal‹ genannten Orte stattfand, einem tief grünen Walde, an den Abhängen und auf dem Gipfel eines hohen Berges, welcher die Stadt und die ganze Umgegend beherrschte, und er gab mir eine sehr hübsche Beschreibung davon. »Es waren verschiedene Buden mit Speisen und Getränken und für den Verkauf von Schmucksachen und Süßigkeiten da; und an einem Platze wurde ein großer Kreis offengehalten, worin die gewöhnlichen Leute ohne Aufhören zur Begleitung einer Musikbande walzten und polkaten. Es war ein großes Carroussel für Kinder da (o meine Sterne! was für eine Familie war Eigenthümerin desselben! Ein sonnverbrannter Vater und Mutter, ein buckeliger Junge, ein großer Pudel, der alle möglichen Künste verstand und ein junger Mörder von siebenzehn Jahren, der die Maschine drehte); und man hatte Spiele des Zufalls und der Geschicklichkeit unter den Bäumen. Es war sehr hübsch. In einigen der Trinkbuden sangen Gesellschaften deutscher Bauern, zu je zwanzig oder so, nationale Trinklieder und machten einen äußerst erheiternden und musikalischen Chorus, indem sie ihre Becher und Gläser nach einer regelmäßigen Melodie auf dem Tische klirren ließen und einander zutranken. Du kennst das als ein Bühnenspiel, aber in der Wirklichkeit macht es sich vortrefflich. Weiter bergab hielten andere Bauern ein Preisschießen mit Büchsen, nach Scheiben, die zwei- bis dreihundert Schritte entfernt, an der gegenüberliegenden Seite einer tiefen Schlucht aufgestellt waren. Es war erstaunlich die wunderbare Genauigkeit zu sehen, womit sie zielten und wie, jedesmal wenn eine Büchse den zehntausendfachen Wiederhall der grünen Waldschlucht erweckt hatte, Leute, die sich hinter einer kleinen Mauer unmittelbar vor den Scheiben verborgen hielten, hervorsprangen und große Zahlen in den Händen emporhielten, um anzudeuten, wo die Kugeln das Centrum getroffen hatten, und dann in einem Augenblick wieder verschwanden. In einem Kreise in der Nähe dieser Schützen stand eine andere Gesellschaft von Deutschen, die vierstimmig höchst melodische Jagdlieder sangen. Und unten in der Ferne lag Lausanne und hob sich mit allen möglichen gespenstisch aussehenden Thürmen gegen das glatte Wasser des Sees und einen ganz rothen, und goldenen und hellgrünen Abendhimmel ab. Als es ganz finster wurde, wurden sämmtliche Buden erleuchtet, und das Flimmern der Lampen durch die Bäume des Waldes war schön.« Diesem hübschen Bilde fügte ein Brief von etwas späterem Datum, der eine Hochzeit auf der Farm schilderte, einige komische Illustrationen der Neigung der Schweizer zum Scheibenschießen und auch sonst allerlei launische Charakterzüge hinzu. »Eins von den Familienmitgliedern des Farmers, – eine Schwester glaube ich – verheirathete sich hier neulich. Es ist wunderbar zu sehen, wie selbst die kleinsten Mädchen von Natur für Heirathen Interesse haben. Katey und Mamey waren in solcher Aufregung, als wären sie achtzehn. Die Liebe der Schweizer zum Schießpulver bei interessanten Gelegenheiten ist eine der komischsten Thatsachen. Schon drei Tage vorher stürzte sich der Farmer selbst, inmitten seiner verschiedenen ländlichen Arbeiten, etwa einmal jede Stunde aus einer kleinen Thür bei meinen Fenstern heraus, und feuerte eine Büchse ab. Ich glaubte, er schösse Ratten, die die Weinstöcke verdürben; aber wie es schien, machte er nur seinen Gedanken hinsichtlich der herannahenden Hochzeit Luft. Die ganze darauf folgende Nacht feuerten er und ein kleiner Kreis von Freunden fortwährend Büchsen ab unter den Fenstern des Brautgemachs. Eine Braut kleidet sich hier immer in schwarze Seide; aber diese Braut trug Merino von dieser Farbe, und bemerkte, als sie es kaufte, gegen ihre Mutter (die alte Dame ist 82 Jahre alt und arbeitet auf der Farm): ›Du weißt, Mutter, ich werde gewiß bald Trauer für Dich tragen müssen, und dann wird dasselbe Kleid dafür gut sein.‹«

Inzwischen rückte er Tag auf Tag beständig mit seinem ersten Hefte weiter. Zuweilen empfand er den Mangel an Straßen in einer außerordentlichen nervösen Aufregung, die es kaum möglich ist, zu beschreiben und die ihn überkam, nachdem er den ganzen Tag geschrieben hatte; aber zu allen Zeiten fand er die Stille des Ortes dem Fleiße sehr günstig. »Ich schreibe zuerst natürlich langsam« (5. Juli), »aber ich hoffe, binnen zwei Wochen spätestens wird das erste Heft beendet sein. Das erste Kapitel ist fertig und das zweite habe ich angefangen. Von dem Verdienst der Arbeit bis hierher sage ich Nichts, auch von dem allgemeinen Plane nichts, als was Du schon weißt, weil ich lieber möchte, daß Du es so unvorbereitet als möglich läsest. Ich werde am Ende des vierten Heftes jedenfalls eine große Ueberraschung für die Leute haben, und wie mir scheint, ist eine neue und eigenthümliche Art von Interesse darin, welche eine zarte Behandlung nothwendig macht, worüber ich Dir später einmal meine Gedanken mittheilen werde. Wenn ich mit diesem Hefte fertig bin, mache ich vielleicht einen Ausflug nach Chamounix . . . Meine Aufmerksamkeit ist natürlich von dem Weihnachtsbuch abgelenkt worden. Wenn ich mit dem ersten Dombey fertig bin, werde ich mich wohl daran machen, sobald die Idee mir lebendig vor die Seele tritt. Ich halte noch fest an der Schlachtphantasie, obgleich es bis jetzt nichts als eine Phantasie ist.« Eine Woche später schrieb er mir, er hoffe das erste Heft in etwa einer Woche zu beendigen und werde sich dann nach seinem Weihnachtsbuch in den Gletschern von Chamounix umsehen. Sein Fortschritt bis zu diesem Punkte hatte ihm gefallen. »Ich glaube, Dombey ist ein sehr dankbarer Gegenstand, – der Grundgedanke einer großen Entwicklung fähig, eine Menge Charaktere, die wahrscheinlich Eindruck machen werden und etwas ausgelassener Humor, nicht zu reden von Pathos. Doch ich hoffe, Du wirst bald selbst darüber urtheilen können und ich weiß, Du wirst sagen, was Du denkst. Ich bin sehr fleißig bei der Arbeit gewesen.« Der Schluß dieses Briefes schickte Familiengrüße in charakteristischer Form. »Kate, Georgy, Mamey, Katey, Charley, Walley, Chickenstalker und Sampson Braß empfehlen sich Euer Gnaden liebendem Andenken.« Der vorletzte, der jenen Namen lange fortführte, war Frank, der letzte, der, wie man sehen wird, bald einen andern bekam, war Alfred. Sechs Tage später hörte ich, er habe noch acht Seiten zu schreiben und habe Chamounix eine Woche aufgeschoben.

Aber obgleich das vierte Kapitel noch unvollständig war, konnte er doch den Wunsch, mir zu schreiben was er arbeitete, nicht länger unterdrücken (18. Juli). »Ich glaube, der Grundgedanke von Dombey ist interessant und neu, und enthält einen großen Stoff. Aber ich mag nicht mit Dir darüber reden, ehe Du das erste Heft gelesen hast, aus Furcht, die Wirkung könnte dadurch verdorben werden. Wenn es fertig ist – hoffentlich Mittwoch oder Donnerstag – will ich es in zwei Posttagen schicken, sieben Briefe jeden Tag. Wenn Du es sogleich drucken läßt (ich fürchte, Du würdest es nicht anders als gedruckt lesen können), wirst Du, ich weiß es, von Bradbury und Evans die strengste Verschwiegenheit fordern. Auch das bloße Bekanntwerden des Namens würde verderblich sein. Die Illustrationen und die dabei nöthige ungeheure Sorgfalt verursachen mir viel Unruhe. Der Mann für Dombey, wenn Browne Harold Browne, der schon mehrfach erwähnte Illustrator von Dickens' Werken. – D. Uebers. ihn sehen könnte, der Repräsentant seiner Klasse bis auf ein Härchen, ist Sir A. E. von D's. Große Sorgfalt wird bei Miß Tox nothwendig sein. Die Familie Toodle muß nicht zu sehr carrikirt werden, wegen Polly. Ich möchte, daß Browne über Susan Nipper nachdächte, die in dem ersten Hefte noch nicht vorkommen wird. Nach dem zweiten Hefte werden Alle neun oder zehn Jahre älter sein, aber das wird keine große Veränderung in den Charakteren bedingen, mit Ausnahme der Kinder und Miß Nipper's. Wie herrlich, daß ich Dir alle diese Namen so vertraulich nenne, während Du noch nichts über sie weißt. Es ist ein wahrer Genuß für mich. Beiläufig gesagt, ich hoffe, die Einführung Salomon Gills' Der Verfertiger mathematischer Instrumente, den Taine als Trödelwaarenhändler beschreibt. wird Dir gefallen. Ich glaube er wohnt in einem ganz guten Hause . . . Noch ein Wort. Was denkst Du, wenn ich als Titel für das Weihnachtsbuch wählte: Der Kampf des Lebens? Es ist kein Titel, über den ich viel nachgedacht habe, aber er kam mir grade in Verbindung mit jener nebelhaften Idee in den Sinn. Wenn ich klar darüber sehe, werde ich es wol zuerst vornehmen und damit aufräumen. Wüßtest Du, wie es mir im Sinne liegt, so würdest Du gewiß derselben Meinung sein. Es würde eine gewaltige Erleichterung sein, wäre ich damit fertig und stände dann dem Fortschritt Dombey's weiter nichts im Wege.«

Binnen der angegebenen Zeit wurde das erste Heft fertig; aber zwei kleine Zwischenfälle gingen dem Ausflug nach Chamounix noch voraus. Der erste war ein Besuch Hallam's Henry Hallam, der berühmte Verfasser der Constitutional History of England. – D. Uebers. bei Mr. Haldimand. »Himmel! wie Hallam gestern redete! Ich glaube nicht, daß ich ihn je so furchtbar gesehen habe. Sehr gutmüthig und angenehm, auf seine Weise, aber, o Himmel! wie er redete! Jener berühmte Tag, dessen Du und ich uns erinnern, war nichts dagegen. Sein Sohn war bei ihm und seine Tochter (die eine schwere Zunge hat, als wäre die Natur entschlossen, diese Fähigkeit in der Familie im Gleichgewicht zu erhalten) und seine Nichte, eine hübsche Frau, die Frau eines Geistlichen, und eine Freundin Thackeray's. Ich glaube beinah, sie muß ›die kleine Frau‹ sein, zu der er uns einmal zum Thee führen wollte, in Golden-Square. Erinnerst Du Dich nicht? Sein großer Liebling? Jedenfalls ist sie eine allerliebste Person.« Ich hoffe, man wird mir verzeihen, wenn ich eine Meinung aufbewahre, welche durch spätere nähere Bekanntschaft bestätigt wurde, und die der Dame, in Bezug auf welche sie ausgedrückt wird, jetzt wohl kaum etwas Anderes gewähren kann als Vergnügen. Auf den zweiten Zwischenfall spielt er noch kürzer an. »Da Mr. Haldimand und Mrs. Marcet und die Cerjats aus morgen eine kleine Bergtour für uns veranstaltet hatten, möchte ich Chamounix nicht im Wege stehen lassen. Wir gehen daher zuerst mit ihnen und brechen am Dienstag auf eigene Hand auf. Unser Verkehr mit diesen Leuten ist äußerst angenehm.« Der Schluß desselben Briefes (25. Juli) deutet unter Erwähnung zweier Lokalneuigkeiten auf die Gefahren hin, die von allen Schweizerreisen unzertrennlich sind, und auf die besondern Vorsichtsmaßregeln, welche für die Ferien, die er sich jetzt in den Bergen machen wollte, nothwendig waren. »Meine erste Neuigkeit ist, daß ein Crocodil aus dem zoologischen Garten in Genf entwischt sein, und jetzt an dem See ›herumzickzacken‹ soll. Aber ich vermag nicht zu entdecken, ob dies eine große Thatsache ist oder ein frommer Betrug, um zu vieles Baden und viele Unfälle zu verhindern. Die andere Neuigkeit ist von ernsterer Art. Eine englische Familie, deren Namen ich nicht kenne, bestehend aus Vater, Mutter und Tochter, kam hier vorigen Montag im Hotel Gibbon an und brach in einem der hiesigen Landwägen zu einer Tour in die Berge auf. Die Straße war nichts als ein Leinpfad und hätte nur mit Mauleseln bereist werden sollen; aber der Engländer bestand darauf (wie Engländer thun), in dem Wagen weiter zu fahren, und als Antwort auf die Vorstellungen des Kutschers, daß kein Wagen je dort hinaufgefahren sei, bemerkte er, er brauche nicht zu fürchten, daß man ihm nicht dafür bezahlen werde und so fort. Der Kutscher stieg demnach ab und ging zu Fuß neben den Pferden her. Es war glühend heiß und nach vielem Zerren und Bäumen, fingen die Pferde an zurückzuweichen und fielen, wie sie da waren, mit Wagen und Allem in eine tiefe Schlucht hinab. Die Mutter wurde auf der Stelle getödtet, Vater und Tochter liegen in einem benachbarten Hause und man zweifelt an ihrem Aufkommen.«

Sein nächster Brief (geschrieben am 2. August) schilderte seine eigenen ersten wirklichen Erfahrungen im Bergreisen. »Ich fange meinen Brief heute Abend an, aber ich fange ihn auch nur an, denn wir sind soeben zu rechter Zeit für das Dîner von Chamounix zurückgekehrt und einigermaßen erschöpft. Wir gingen über einen Bergpaß, der von Damen nicht oft überschritten wird, den Col de Balme, wo Deine Einbildungskraft sich Kate und Georgy zehn Stunden lang in einem Zuge auf Mauleseln vorstellen muß, an den schrecklichsten Abgründen au- und niederreitend. Wir kehrten zurück über den Paß der Tête Noire, den Talfourd kennt und der von anderer Art, aber auch erstaunlich schön ist. Mont Blanc und das Thal von Chamounix, und das Mer de Glace, und alle Wunder dieser wunderbaren Gegend gehen weit über die wildesten Erwartungen hinaus. Ich kann mir in der Natur nichts Großartigeres und Erhabeneres vorstellen. Müßte ich jetzt etwas darüber schreiben, ich würde ganz toll dabei werden – so mächtige Eindrücke regen sich in mir . . . Du wirst Dir denken können, daß das Reisen mit Mauleseln ziemlich naturwüchsiger Art ist. Jede Person führt einen an den Maulesel angeschnallten Reisesack vor oder hinter sich, und das ist alles Gepäck, das man mitnehmen kann. Ein Führer, ein ächter Mann der Berge, geht den ganzen Weg zu Fuße und führt den Maulesel der Dame, ich sage der Dame par excellence, als Compliment für Kate; und alle andern arbeiten sich vorwärts so gut sie eben können. Die Cavalcade hält in der Mitte des Tages bei einer einsamen Hütte an und macht von Allem was sie bekommen kann ein glänzendes Gabelfrühstück. Ueber jenen Col de Balme-Paß zurückkehrend, klimmt man aufwärts, aufwärts, aufwärts, fünf Stunden lang und mehr, und blickt – von einem ungeschützten bloßen Saume von Pfad, an der Seite des Abgrunds – in solche furchtbare Thäler, daß man endlich fest wird in dem Glauben, man sei über Alles in der Welt emporgestiegen, und nichts Irdisches könne mehr zu Häupten sein. Gerade wenn man zu diesem Schlusse gekommen ist, weht Einem eine andere (und o Himmel! was für eine freie und wunderbare) Luft ins Gesicht; man überschreitet eine Schneekette und vor Einem liegt (bis dahin ganz ungesehen), sich in den fernen Himmel aufthürmend, der gewaltige Bergzug des Mont Blanc, mit daneben liegenden Bergen, die, durch seine majestätische Größe zu bloßen Zwergen verkleinert, sich in zahllose schroffe, gothische Zinnen zuspitzen; Wüsten von Eis und Schnee; Tannenwälder an den Abhängen der Berge, ganz unscheinbar in der ungeheuern Scene; Dörfer tief in den Schluchten, die man mit einem Finger bedecken kann; Wasserfälle, Lavinen, Pyramiden und Thürme von Eis, Waldströme, Brücken, Berg auf Berg, bis der Himmel selbst ausgeschlossen wird und man zu Häupten blicken muß, um ihn zu sehen. Großer Gott, was für ein Land ist die Schweiz! und was für eine Concentration dieses Landes kann man von jener Stelle aus schauen! Und (stelle Dir das in Whitefriars und Lincolns-Inn vor!) am Mittag des zweiten Tages von hier (und der erste Tag ist beiläufig bemerkt nur ein halber und voll der seltensten Schönheit) lagerst Du Dich auf jener Schneekette und siehst das Alles! . . . Ich glaube, ich muß wieder hin (einerlei, ob Du kommst oder nicht!) und es noch einmal sehen, ehe das schlechte Wetter eintritt. Wir haben Sonnenschein gehabt, Mondschein, eine vollkommen durchsichtige Atmosphäre ohne eine Wolke, und das große Plateau auf dem Gipfel des Mont Blanc selbst so klar bei Tag und Nacht, daß es schwer war, an die dazwischen liegenden Klüfte und Abgründe zu glauben und fast unmöglich, dem Gedanken zu widerstehen, daß man hinauseilen und leicht emporklimmen könne. Ich ging an alle möglichen Orte, bewaffnet mit einer Sprungstangen-ähnlichen großen Stange mit eiserner Spitze, und Eisenspitzen an meine Schuhe geschnallt, und ich fühle mich gründlich abgemattet. Ich wünschte sehr, den Ausflug nach einem Punkte zu machen, welcher «der Garten« heißt: ein grüner, blumenbedeckter Fleck, der sich durch das Mer de Glace und zwischen den furchtbarsten Bergen hinzieht; aber ich konnte in den Hotels keinen Engländer finden, welcher ein gleiches Verlangen fühlte, und der Brave wollte nicht gehen. Nein, Sir! Er erklärte sich rund heraus dagegen (eine Kletterpartie am Tage vorher hatte ihn schrecklich mitgenommen) und es gehe über seine Kräfte. Er ist ohne Frage für eine solche Arbeit zu schwer. Der arme Mensch. Er hatte eine versteckte Herzkrankheit, die sich nach Dickens' Rückkehr nach England rasch entwickelte. In allen andern Beziehungen hat er sich, wie mir scheint, auf dieser Reise selbst übertroffen, und hättest Du ihn sehen können, wie er auf einem sehr kleinen Maulesel einen Weg, gerade wie die zerbrochenen Treppen von Rochester-Castle, hinaufritt, eine Branntweinflasche über die Schulter geschlungen, eine kleine Pastete in seinem Hute, ein gebratenes Huhn aus seiner Tasche heraussehend, und einen Bergstecken von sechs Fuß Länge quer über dem Sattel vor ihm – Du würdest dasselbe gesagt haben. Er war (nächst mir) die Bewunderung von Chamounix, aber auf der Reise löschte er mich völlig aus.«

Auf dem Rückwege, einen Tag ehe dieser Brief geschrieben wurde, hatte ein kleines Abenteuer stattgefunden. Dickens klingelte langsam den Tête Noir-Paß hinauf (sein Maulesel hatte siebenunddreißig Glocken um den Kopf) und ritt gerade ganz allein, »als ein Engländer aus einem kleinen Châlet an einer äußerst unzugänglichen und außerordentlichen Stelle hervorstürzte und sehr vergnüglich sagte: ›Es hat hier ein Unfall stattgefunden, Sir!‹ Ich hatte an irgend etwas ganz Anderes gedacht und da ich keinen Grund hatte, ihn, abgesehen von seiner Sprache, die in der Verwirrung nicht mitzählte, für einen Engländer zu halten, stammelte ich eine Antwort auf Französisch und starrte ihn in sehr feuchtem Hemd und Hosen an, während er mich in einem ähnlichen Kostüm anstarrte. Als er die Ankündigung wiederholte, begann eine Ahnung von gesundem Menschenverstand in mir aufzudämmern und so gelangte ich zu einer Erkenntniß der Thatsache, daß nicht weit davon eine deutsche Dame von ihrem Maulthier abgeworfen worden, ein Bein gebrochen und in großen Schmerzen ihren Weg nach jener Hütte gefunden habe, wo gleich darauf der Engländer, ein Preuße und ein Franzose sich eingefunden hatten, und daß der Franzose, merkwürdig genug, glücklicherweise ein Wundarzt war. Sie kamen alle von Chamounix, und die drei letzteren reisten zusammen. Es war äußerst erfreulich zu sehen, wie aufmerksam sie waren. Die Dame kam von Lausanne, wohin sie von Frankfurt gekommen war, um mit ihren zwei Knaben, die hier in der Schule sind, während der Ferien Ausflüge zu machen. Sie hatte sonst keinen Begleiter und die Jungen weinten und ängstigten sich. Der Engländer war voller Freude, daß er eben ein weißes Kleid, zwei Hemden und drei Taschentücher zu Bandagen zerschnitten hatte; der Franzose hatte das Bein geschickt eingesetzt; der Preuße hatte einen benachbarten Wald nach Leuten durchsucht, die sie weiter tragen könnten und alle waren hinter der Hütte beschäftigt, eine Art Handkarren zu machen, um sie darauf fortzuschaffen. Als der Karren fertig war, wurde sie darauf gelegt; man bedeckte ihren armen Kopf mit einem Taschentuche und trug sie weg, und wir Alle leisteten ihnen Gesellschaft: Kate und Georgy trösteten die Leidende, die sehr muthig war, aber ihren Mann erst vor einem Jahre verloren hatte.« Mit derselben köstlichen Beobachtungsgabe, und ohne Auslassung irgend eines freundlichen Charakterzugs, der jeder der handelnden Personen ihre Stelle in der kleinen Scene anweisen konnte, wird beschrieben, was weiter folgte; doch es ist nicht nöthig, mehr hinzuzufügen. Man hoffte, die arme Dame durch frische Leute aus Martigny am kühleren Abend noch vier Meilen weiter, bis an die Seespitze tragen und sie von dort auf das Dampfboot bringen zu können; aber sie war zu erschöpft, um weiter als bis zum Gasthofe getragen zu werden und dort mußte sie bleiben, bis Verwandte aus Frankfurt zu ihr kamen.

Nach seiner Rückkehr gönnte er sich einige Ruhetage, ehe er das zweite Heft von Dombey anfing und ehe dies letztere vollendet und die Weihnachtsgeschichte in Angriff genommen ist, weihe ich den Leser nicht in das volle Geheimniß seiner schriftstellerischen Arbeit ein. Aber es gab andere Dinge, die ihn bis zu jenem Zeitpunkt unterhielten und beschäftigten, sowohl wenn er müßig, als wenn er an der Arbeit war, und diesen ist in seinen Briefen ein so charakteristischer Ausdruck gegeben, daß sie hier passend eine Stelle finden.

Zwischen dem zweiten und dem neunten August ging er eines Abends, fünf Minuten nach Sonnenuntergang, als der Himmel mit finstern schwarzen Wolken bedeckt war, die sich im Wasser spiegelten, an den See hinab und sah das Schloß Chillon. Seiner Meinung nach war dies von allen Orten, die er gesehen, derjenige, dessen Ruhm am wenigsten übertrieben war, und der ihn am meisten verdiente. »Die unerträgliche Einsamkeit und Oede der weißen Mauern und Thürme, der träge Graben und die träge Zugbrücke und die einsamen Wälle – ich habe nie etwas Aehnliches gesehen. Aber im Innern ist ein Hof, von Gefängnissen, Oublietten und alten Folterkammern umgeben, so schrecklich traurig, daß der Tod selbst nicht trauriger sein kann. Und o! eines bösen alten Herzogs Schlafzimmer oben im Thurme, von wo eine geheime Treppe in die Kapelle führt, wo die Fledermäuse umherschwirren; und Bonnivard's Kerker; und eine entsetzliche Fallthür, von wo die Gefangenen in den See hinabgeworfen wurden; und ein Marterpfahl, ganz verbrannt und zerspalten, der noch in dem Folter-Vorzimmer zu dem Hofe der Gerechtigkeit (!) steht – was für furchtbare Orte! Guter Gott, das größte Mysterium auf der ganzen Erde ist für mich, wie oder warum die Welt während der guten alten Zeiten von ihrem Schöpfer geduldet, und nicht in Trümmer zerschellt wurde.«

Am neunten August schrieb er mir, es solle an diesem Tage in Lausanne ein großartiges Fest stattfinden, zu Ehren des ersten Jahrestages der Proclamation der Neuen Verfassung: Aus der mit den öffentlichen Festlichkeiten verknüpften Aufregung entstanden einige häusliche Unbequemlichkeiten. Ich will eine derselben erwähnen. »Fanchette, die Köchin, verwirrt durch das herannahende Fest, weigerte sich auf's Aeußerste, gestern eine Ente zu kaufen, wie der Brave ihr befohlen, und ein Kampf auf Leben und Tod zwischen jenen beiden Mächten war die Folge. Die Ansicht des Braven ist, daß ›diese Frau verrückt geworden sei‹. Aber heute scheint sie ruhig und wird, glaube ich, die Familie nicht vergiften.« »Es fängt an bei Sonnenaufgang mit dem Abfeuern der großen Kanonen, und zweimal zweitausend Flintenschüssen durch zweitausend Mann; sodann folgen um elf Uhr feierlicher Gottesdienst und Reden in der Kirche; und endlich Abends ein großer Ball in der öffentlichen Promenade und eine allgemeine Erleuchtung der Stadt.« Die Behörden hatten ihn auf einen Ehrenplatz bei der Ceremonie eingeladen und obgleich er nicht hinging (»da ich bis drei Uhr Morgens auf gewesen war und zu der festgesetzten Zeit in tiefem Schlafe lag«), drückte die Antwort, worin er sich bedankte, seine Sympathie aus. Er war hierzu um so bereiter, als er bei der »alten oder gentlemännischen« Partei des Ortes (»natürlich mit Einschluß der anwesenden Engländer, die immer Tories sind, hol' sie der Henker!«) eine so wunderbar gereizte Stimmung gegen die so gefeierte Revolution entdeckt hatte, daß die Mehrzahl, um das Fest zu vermeiden, den Tag vorher mit dem Dampfschiff fortgegangen war, und die Zurückbleibenden Angriffe auf die unerleuchteten Häuser und andere Excesse weissagten. Dickens hatte keinen Glauben an solche Vorhersagungen. »Das Volk ist immer so vollkommen gut gelaunt und ruhig, wie ein Volk sein kann. Ich weiß nicht, wie die letzte Regierung gewesen sein mag, aber sie scheinen mir unter der gegenwärtigen sehr gut vorwärts zu kommen und vernünftig und billig behandelt zu werden. Wollte man glauben, was die Unzufriedenen behaupten, so könnte man an keinen einzigen Mann und an keine einzige Frau mit einem Korn von Güte und Höflichkeit glauben. Ich finde nichts als Höflichkeit; und ich durchwandere alle möglichen abgelegenen Orte, wo die Leute in einsamen Hütten ein hinreichend rauhes Leben führen.« Von dem Resultat erzählte er in zwei Nachschriften zu seinem Briefe und dasselbe zeigte, daß er so weit recht hatte. »P. S. 6 Uhr Nachmittags. Das Fest geht unter starker Betheiligung weiter. Nicht einer von ›der alten Partei‹ ist zu sehen. Ich ging vor dem Dîner mit einem Mitgliede derselben nach dem Festlokal, aber nichts konnte ihn bewegen, mich durch die Barrièren zu begleiten. Und doch war das, was man eine Revolution nennt, Nichts als eine Veränderung der Regierung. Sechsunddreißigtausend Leute in diesem kleinen Kanton petitionirten gegen die Jesuiten – Gott weiß, mit gutem Grunde. Die Regierung hielt es für passend sie als ›Pöbel‹ zu bezeichnen. Um daher zu beweisen, daß sie kein Pöbel seien, zwangen sie die Regierung abzutreten. Ich ehre sie dafür. Sie sind ein tüchtiges Volk, diese Schweizer. Es ist besserer Stoff in ihnen, als in allen Sternen und Streifen der schwülstigen Banner der sogenannten und fälschlich so genannten Vereinigten Staaten. Sie sind ein Dorn im Fleische der europäischen Despoten und ein gutes, gesundes Volk, und es ist gut daß sie, neben Jesuitengeplagten Königen auf der sonnigeren Seite der Berge, wohnen.« P. P. S. 10. August . . . Das Fest lief so ruhig ab, als ich erwartet hatte und man tanzte die ganze Nacht.«

Diese Ansichten fanden eine bemerkenswerthe Erläuterung in einem späteren Briefe, wo er eine ähnliche Revolution schildert, die sich in Genf zutrug, ehe er die Schweiz verließ, und nichts könnte besser seinen praktischen Scharfblick in solchen Dingen beweisen. Die Schilderung soll weiter unten mitgetheilt werden. Inzwischen setze ich eine nicht minder bemerkenswerthe Aeußerung von ihm über meine Antwort auf seinen Bericht über das antijesuitische Fest in Lausanne hierher: »Ich weiß nicht, ob ich schon erwähnt habe, daß man in dem nahegelegenen Thale des Simplon, da, wo bei der Brücke von St. Moritz über die Rhone dieser protestantische Kanton endet und ein katholischer Kanton anfängt, zwei völlig verschiedene und getrennte Zustände der Menschheit von einander absondern könnte, indem man mit dem Stock eine Linie durch den staubigen Boden zieht. Auf der protestantischen Seite: Reinlichkeit, Heiterkeit, Fleiß, Erziehung, beständiges Streben wenigstens nach besseren Dingen. Auf der katholischen Seite: Schmutz, Krankheit, Unwissenheit, Armuth und Elend. Ich habe dies so regelmäßig beobachtet, seit ich zuerst das Ausland bereiste, daß eine trübe Ahnung mich füllt, daß die Religion Irlands ebenso tief an der Wurzel alles seines Elends liegt, als selbst die englische Mißregierung und die toryistische Schurkerei.« Fast das gerade Seitenstück zu dieser Bemerkung findet sich in einer der späteren Schriften Macaulay's.

 

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