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Siebentes Kapitel.

Reisen in Italien.
1844.

So geschah es demnach. Er nahm, wie er mir in seinem ersten Briefe aus Ferrara sagte, Mittwoch, 6. November, Abschied von seiner untröstlichen Frau; ließ sie in ihrem Palaste eingeschlossen wie die Dame eines Barons in den Zeiten der Kreuzzüge, und machte seine ersten wirklichen Erfahrungen über die Wunder Italiens. Er sah Parma, Modena, Bologna, Ferrara, Venedig, Verona und Mantua. Die Eindrücke darüber, die er zuerst in seinen Briefen an mich niederlegte, sind mehr oder weniger in den gedruckten Bildern aus Italien wiedergegeben. Sie sind äußerst anziehend. Da ist die Skizze eines Cicerone in Bologna, die in seinen Büchern ihren Platz behaupten wird, als einer der vielen entzückenden Beweise seines wahren und liebevollen Verständnisses für jede schöne, himmlische, zarte Seele, unter welcher conventionellen Hülle sie immer auf der Erde wandert – ob als Waise in einem Armenhause, als Schreiber bei einem Advokaten, als Zögling eines Architekten in Salisbury, oder als heiterer kleiner Führer nach den Gräbern in Bologna. Und da ist eine andere denkwürdige Schilderung, die in Form eines Traumes vorgeführte Rembrandt'sche Skizze von den schweigenden, unirdischen Meereswundern Venedigs. Diese letztere wurde erst geschrieben nachdem er von seinem Besuche in London zurückkehrte, war aber in dem, was er sofort an Ort und Stelle schrieb, so lebendig vorgebildet, daß diese Stellen aus seinem Briefe »Ich begann diesen Brief, mein lieber Freund« (er schrieb ihn aus Venedig, Dienstag Abend, 12. November), »mit der Absicht, Dir den ganzen Verlauf meiner Reise zu beschreiben. Aber ich habe so viel gesehen und bin so schnell gereist (ich habe selten dinirt und war fast immer vor Tagesanbruch auf), daß ich meine Skizzen für die größere Muße des Palazzo Peschiere aufsparen muß, nachdem wir uns gesehen haben, und ich wieder dorthin zurückgekehrt bin. Sobald ich mir das Bild eines Ortes eingeprägt habe, eile ich hinweg – zu so wunderbaren Zeiten und mit so unerwarteten Wendungen, daß der brave C. immer wieder starrt. Allein auf diese Weise und indem ich darauf bestehe, daß Alles, unter allen Umständen, einerlei ob es der gewöhnlichen Ordnung widerspricht oder nicht, mir gezeigt wird, komme ich wunderbar vorwärts.« Zwei Tage früher hatte er mir, nach der wunderhübschen Schilderung der Weinberge zwischen Piacenza und Parma, die man in den Bildern aus Italien finden wird, aus Ferrara geschrieben. »Solltest Du etwa ein Gegengift hierzu brauchen, so kann ich Dir sagen, daß ich in diesem Augenblick aufstand, um das Fenster zu schließen; und die Straße sah einer Nebengasse in Whitechapel, oder – ich sehe wieder hin – Wych Street, bei dem kleinen Barbierladen hinunter, auf derselben Seite des Weges wie Holywell Street, oder – ich sehe wieder hin – Holywell Street selbst – so ähnlich, als je eine Straße in dieser Welt der andern ähnlich war oder sein wird.«[Die genannten Londoner Straßen sind bekannt wegen ihrer Enge und ihres ärmlichen Aussehens. – D. Uebers.] noch mit ganz unvermindertem Interesse gelesen werden können. »Ich muß,« sagte er, »mir selbst nicht vorgreifen. Aber, mein Lieber, nichts in der Welt, was Du je über Venedig gehört hast, kommt der prachtvollen und überwältigenden Wirklichkeit gleich. Die wildesten Visionen aus Tausend und eine Nacht sind nichts im Vergleich mit dem Markusplatz und dem ersten Eindruck des Innern der Kirche. Die glänzende und wunderbare Wirklichkeit Venedigs geht über die Einbildungskraft des wildesten Träumers hinaus. Opium könnte einen solchen Ort nicht bauen, und Zauberei könnte ihn nicht in einer Vision vor die Seele führen. Alles was ich darüber gehört, was ich in Wahrheit oder Dichtung davon gelesen oder mir vorgestellt habe, bleibt Tausende von Malen dahinter zurück. Du weißt, daß ich in solchen Dingen leicht Gefahr laufe, wegen zu großer Erwartungen enttäuscht zu werden, aber Venedig geht über Alles was die menschliche Phantasie sich vorstellen kann, weit hinaus. Es ist nie hinreichend gewürdigt worden. Es ist etwas, bei dessen Anblick Du Thränen vergießen würdest. Als ich gestern Abend hier an Bord kam (nach einer zweistündigen Fahrt in einer Gondel, worauf ich aus irgend welchem Grunde durchaus nicht vorbereitet war), als ich, nachdem ich die Stadt wie ein Licht, auf dem fernen Wasser gleich einem Schiffe hatte ruhen sehen, durch die stillen und verlassenen Straßen plätscherte, war mir, als seien die Häuser Wirklichkeit, das Wasser Fieberwahnsinn. Aber als ich an dem hellen, kalten, erfrischenden Tage heute Morgen auf dem Markusplatz stand, beim Himmel, da war der Glanz des Ortes unerträglich! Und indem ich von dort in sein Laster und seine Dunkelheit, in seine tief unter dem Wasserspiegel liegenden Gefängnisse, seine Gerichtssäle, seine geheimen Thüren und tödtlichen Winkel hinabtauchte, wo die Fackeln, die man mitnimmt, blinzeln als könnten sie die Luft nicht ertragen, wo diese furchtbaren Scenen aufgeführt wurden; und indem ich wieder in den strahlenden, wesenlosen Zauber der Stadt hinaufstieg, und wieder untertauchte in gewaltige Kirchen und alte Gräber, kam eine neue Empfindung, ein neues Gedächtniß, ein neuer Geist über mich. Venedig ist von dieser Zeit an ein Stück meines Gehirns. Mein lieber Forster, könntest Du mein Entzücken theilen (wie Du thun würdest, wenn Du hier wärest), was wollte ich nicht dafür geben! Ich komme mir grausam vor, Kate und Georgy nicht mitgenommen zu haben, geradezu grausam und schlecht. Canaletti und Stanny sind wunderbar in ihrer Wahrheit. Turner ist sehr edel. Aber die Wirklichkeit geht über jede Darstellung hinaus. Ich habe noch nie etwas gesehen, zu dessen Beschreibung mir der Muth fehlte. Aber zu sagen, was Venedig ist, empfinde ich als eine Unmöglichkeit. Und hier sitze ich allein und schreibe dies, ohne daß irgend etwas mich drängt oder anregt, mir die Vorstellung zu bilden, die ich mir bilden würde, könnte ich zu einem geliebten Wesen darüber sprechen und seine Antwort darauf vernehmen. In der nüchternen Einsamkeit eines berühmten Gasthauses, wo die große Glocke der Markuskirche mir ihr Zwölf unmittelbar in die Ohren schlägt. Drei Bogenfenster in meinem Zimmer (zwei Stock hoch) sehen hinaus auf den großen Canal und darüber hinaus, bis dahin wo die Sonne heute Abend in Gluten unterging. Und indem ich wieder an jene schweigenden redenden Gesichter Titian's und Tintoretto's zurückdenke, schwöre ich (unabgekühlt durch irgend welchen Humbug den ich gesehen), daß Venedig das Wunder und die neue Sensation der Welt ist. Könnte man, ohne je davon gehört zu haben, plötzlich hineingestellt werden, so würde es dasselbe sein. Mit Deinem Fuß auf seinen Steinen, seine Gemälde vor Deinen Augen und seine Geschichte in Deinem Geiste ist es etwas, was über alles Schreiben oder Sprechen, ja fast über alles Denken hinausgeht. Du könntest nicht mit mir in diesem Zimmer reden, oder ich mit Dir, ohne daß wir uns die Hände drückten und sagten: ›Guter Gott, daß wir dies noch zusammen erlebt haben!‹«

Fünf Tage später, Sonntag, den 17., war er in Lodi, von wo er mir schrieb, er sei wie Liegh Hunt's Schwein »durch alle möglichen Straßen« gewandert, seit er seinen Palast verlassen; mit einer Ausnahme habe er in keiner Nacht mehr als fünf Stunden dem Schlafe gewidmet; alle Tage, zwei ausgenommen, sei das Wetter schlecht gewesen (»die beiden letzten so nebelig wie die Blackfriarsbrücke an dem Lord-Mayorstage«), und die Kälte niederdrückend. Aber was für helle, scharfe, beobachtende Augen er überall mit hinnahm, und durch welch' ein zartes Spiel der Einbildungskraft die Vollständigkeit und Genauigkeit seiner gewöhnlichen Anschauung, inmitten der neuen und ungewohnten Scenen, auf welche kein vorhergängiges Studium ihn vorbereitet hatte, erhöht und verfeinert wurde, zeigen, wie mir scheint, die wenigen ungekünstelten Stellen, die ich aus diesen freundschaftlichen Briefen aufbewahre, auf schlagende Weise. Er sah alles auf eigene Faust, und die Intuition seines Genies bewahrte ihn dabei in den meisten Fällen vor den falschen Urtheilen, vor welchen alle Gelehrsamkeit der Welt gewöhnliche Menschen nicht bewahren kann. Er hat daher kaum irgend eine Aeußerung über dies vielbetretene und zum Ueberdruß besuchte, aber ewig schöne und interessante Land gethan, die sich nicht des Anhörens verlohnt.

»Ich bin schon zum Ueberfließen voll von Gerede über Gemälde und werde Dich, so ausführlich als Du wünschen magst, über die verschiedenen Schulen belehren. Es scheint mir, daß die abgeschmackte Uebertreibung, worin unsere Landsleute in Beziehung auf Italien Gefallen finden, sich kaum auf das wirklich Gute erstreckt. Vier Monate später, nachdem er die Galerieen in Rom und anderen großen Städten gesehen hatte, schickte er mir eine Bemerkung, die seitdem durch Kritiker von unläugbarer Autorität eine beredte Bestätigung erfahren hat. »Die berühmtesten Oelgemälde im Vatikan kennst Du durch die schönsten Stahlstiche der Welt und ich glaube beinahe, hättest Du einige derselben mit mir gesehen, Du würdest der Ansicht sein, daß Du wenig verloren hättest, indem Du sie bisher nur in jener Uebertragung gekannt. Wo die Zeichnung schwach und dünn, oder durch die Zeit beschädigt ist, und das ist sie und muß sie oft sein, obgleich es unzweifelhaft eine Ketzerei ist, so etwas anzudeuten – stellt der Stahlstich die Formen und die Idee in einer einfachen Majestät dar, welche solche Mängel verringern. Wo dies nicht der Fall und Alles stattlich und harmonisch ist, liegt es doch irgendwie in dem Wesen und der Eigenthümlichkeit eines schönen Stahlstichs (wie mir scheint), Dir die äußerste dem Original angehörende Zartheit, Vollendung und Kunst anzudeuten. Wenn daher das Gemälde Dich in diesem letzteren Falle auch sehr anzieht und interessirt, so überrascht es Dich doch nicht. Du bist schon im Voraus auf die größte Vortrefflichkeit, deren es fähig ist, vollkommen vorbereitet.« In demselben Briefe schrieb er über etwas, was ihm noch in der Erinnerung immer eine Freude blieb: den Reiz der Privatsammlungen. Er fand prachtvolle Porträts und Gemälde in den Privatpalästen, wo sie, seiner Meinung nach, einen besseren Eindruck machten als in den öffentlichen Galerieen, weil sie nicht durch so große Zahl das Auge verwirrten. »Da sind unzählige Porträts von Titian, Rubens, Rembrandt und Van Dyk, Köpfe von Guido, und Domenichino, und Carlo Dolce; Gemälde von Raphael, und Correggio, und Murillo, und Paul Veronese, und Salvator, die es schwer sein würde, zu hoch oder hinreichend zu rühmen. Es macht mich froh, zu denken, daß sie von den tiefen Kennern, die nach der längsten vorhergängigen Ankündigung und unter den unvernünftigsten Verhältnissen darüber in Krämpfe fallen, nicht empfunden werden können wie sie empfunden werden sollten. Von einigen wohlerinnerten Stellen an den Wänden dieser Galerieen glänzt eine Zartheit und Anmuth, eine edle Größe, Reinheit und Schönheit auf mich nieder, die mein gequältes Gedächtniß von Legionen winselnder Mönche und wächserner heiliger Familien befreit. Ich verzeihe vom Grunde meiner Seele ganzen Orchestern irdischer Engel und ganzen Hainen Heil. Sebastians, die nach dem Muster so voll von Pfeilen stecken wie das Nadelkissen einer Wöchnerin von Nadeln. Und ich bin nicht einmal in der Stimmung, jene priesterliche Verblendung oder priesterliche Zähigkeit zu bekämpfen, die darauf besteht, jedem Mysterium der Religion eine buchstäbliche Darstellung auf der Leinwand zu geben, welche der Vernunft wie der Empfindung jedes denkenden Menschen zuwiderläuft.« Viel liegt es in ihrem Wesen, daß sie da hinter der Wahrheit zurückbleibt. Ich habe nie ein Lob von Titian's großem Gemälde der Transfiguration der Jungfrau in Venedig gesehen, das sich halb so hoch erhebt als die schöne und staunenswerthe Wirklichkeit. Es ist vollkommen. Auch Tintoretto's Gemälde von der Versammlung der Seligen, ebenfalls in Venedig, das mit allen seinen Linien (es ist von gewaltiger Größe und die Figuren zahllos) majestätisch und pflichtgemäß zu dem allmächtigen Gott in der Mitte emporstrebt, ist höchst großartig und edel. Außerdem sind mehrere wunderbare Porträts dort; und einige verworrene und hastige und mörderische Schlachtscenen, in denen man mit Vergnügen bei der überraschenden Kunst verweilt, welche die Generale so vor die Augen bringt, daß es fast unmöglich ist, sie nicht zu sehen, obgleich sie sich mitten im Gewühl des Kampfes befinden. Ich habe einige entzückende Gemälde gesehen, und einige (in Verona und Mantua), die wirklich zu abgeschmackt und lächerlich sind, als daß man auch nur darüber lachen könnte. Hampton Court ist im Vergleich mit ihnen thöricht – und o, es gibt dort einige äußerst seltsame Bilder, mein Freund. Einige äußerst seltsame . . . Zwei Dinge sind mir schon klar. Das eine ist, daß die Regeln der Kunst viel zu sklavisch befolgt werden, so daß es gradezu peinlich für Dich wird, wenn Du einen Tag nach dem andern in die Galerieen gehst, so genau zu wissen, wo diese Figur sich umwenden und jene Figur sich niederlegen, und jene andere sich eine gewaltige Masse von Gewandung umschlagen wird und so fort. Man bekommt förmliches Alpdrücken davon. Das zweite ist, daß diese großen Männer, die nothwendigerweise sehr in den Händen von Mönchen und Priestern waren, viel zu oft Mönche und Priester malten. Ich sehe fortwährend in Bildern von gewaltiger Kraft Köpfe, die völlig unter dem Gegenstande und unter dem Maler stehen, und ich bemerke ohne Ausnahme, daß diese Köpfe den Klosterstempel tragen und ihren vollständigen Widerpart in den gegenwärtigen Insassen der Klöster haben. Ich sehe die Porträts von Mönchen, die ich in Genua kenne, in allen lahmen Theilen starker Gemälde; ich bin daher ein für allemal zu der Ansicht gekommen, daß in solchen Fällen die Lahmheit nicht die Schuld des Malers war, sondern die der Eitelkeit und Unwissenheit seiner Arbeitgeber, die unter allen Umständen Apostel auf der Leinwand sein wollten.«

In demselben Briefe beschrieb er die Gasthäuser. »Es ist bei englischen Reisenden ein Hauptpunkt – etwas ganz Selbstverständliches – die italienischen Gasthäuser herunter zu machen. Natürlich findet man keine Bequemlichkeiten, an die man in England gewöhnt ist, und wenn man allein reist, speist man immer in seinem Schlafzimmer. Was gegen unsere Gewohnheiten ist. Aber sie sind unvergleichlich viel besser als man denken sollte. Die Kellner sind sehr schnell, sehr pünktlich und wenn man freundlich mit ihnen spricht, so gefällig, daß man eine Bestie sein müßte, wollte man nicht vergnügt aussehen und Alles heiter nehmen. Ich schreibe dies in einem Zimmer wie ein Vorderzimmer im zweiten Stock eines unfertigen Hauses in Eaton-Square; die Wände selbst geben mir ein Gefühl, als wäre ich ein Maurer, dem Cubitt Ein bekannter Londoner Bauunternehmer. – D. Uebers. die Gunst erwiesen, das Haus zur Bewachung zu übergeben. Die Fenster lassen sich nicht öffnen und die Thüren nicht schließen, und diese letzteren (eine Katze könnte zwischen ihnen und dem Fußboden hereinkommen) sind dem Luftzuge einer Säulenhalle ausgesetzt, welche in der Nacht offen steht, so daß mir die Pantoffeln thatsächlich von den Füßen geweht werden und kleine Kreise im Zimmer beschreiben – wie Blätter. Ein sehr aschiges Holzfeuer brennt auf einem ungeheuern Herde ohne Gatter (welche es in Italien überhaupt nicht gibt); und dieser kennt nur zwei Extreme: eine qualvolle Hitze, wenn man Holz auflegt und eine qualvolle Kälte, wenn es zwei Minuten darauf gelegen hat. Es befindet sich auch ein ungemüthlicher Fleck an der Wand, wo die fünfte Thür (die nicht streng unentbehrlich war) vor einigen Jahren zugemauert und nie übergemalt wurde. Aber das Bett ist rein und ich habe ein vortreffliches Dîner gehabt; und ohne unterwürfig oder knechtisch zu sein, was durchaus kein Charakterzug des Volkes von Norditalien ist, sind die Kellner so liebenswürdig geneigt, kleine Aufmerksamkeiten zu erfinden, die sie für englisch halten, und so heiter und gutgelaunt, daß es ein Vergnügen ist, mit ihnen zu thun zu haben. So ist es aber mit dem ganzen Volke. Das Vetturino-Reisen macht in der Mitte des Tages ein Anhalten von zwei Stunden nöthig, um die Pferde zu füttern. Um diese Zeit gehe ich immer zu Fuße weiter. Wenn die Straße viele Biegungen macht, muß ich mich natürlich sehr oft nach dem Wege erkundigen, und die Männer sind solche Gentlemen und die Frauen solche Ladies, daß es ein förmlicher Austausch von Höflichkeitsbezeigungen ist.«

Von den Bequemlichkeiten, die er seinem Courier verdankte, brachte mir fast jeder Brief launige Proben; aber der Courier erscheint zu oft in dem veröffentlichten Buche, um hier solcher Anerkennung zu bedürfen. Er ist jedoch eine wesentliche Figur in zwei kleinen Scenen, welche Dickens in Lodi für mich skizzirte und ich will denselben die Bemerkung voranschicken, daß Louis Roche aus Avignon bis zuletzt die hohe Meinung, welche sein Herr von ihm hatte, rechtfertigte. Er wurde später noch einmal fast ein Jahr lang in der Schweiz in Dienst genommen und bald nachher fiel der arme Mensch, obgleich von einer jovialen Rüstigkeit des Aussehens und einer Breite der Brust, die ein ungewöhnlich langes Leben verhieß, einer Herzkrankheit zum Opfer. »Der wackere C. Abkürzung für Courier. – D. Uebers. fährt fort, sich als Wunder zu erweisen. Er packt meine Kleidungsstücke in jedem Gasthofe aus, als wollte ich zwölf Monate dort bleiben, ruft mich jeden Morgen auf den Augenblick, steckt das Feuer an ehe ich aufstehe, bemächtigt sich gebratener Hühner und holt sie im Wagen in hungrigen Momenten hervor, wenn wir aller andern Aushülfe fern sind und ist unschätzbar für mich. Zudem ist er ein so guter Kerl, daß kleine Belohnungen ihn nicht verderben. Ich gebe ihm immer, nachdem ich gespeist habe, ein großes Glas Sauterne oder Hermitage, oder was ich sonst habe; zuweilen (wie gestern), wenn wir um elf Uhr sehr kalt in ein Wirthshaus kommen, nachdem wir vor Tagesanbruch abgereist sind und Nichts zu uns genommen haben, lasse ich ihm mit mir zusammen Frühstück geben und dies macht ihn nur eifriger als je zuvor, mir durch Verdoppelung seiner Aufmerksamkeit zu zeigen, daß er denkt, er habe einen guten Herrn. . . . Ich habe Dir noch nicht erzählt, daß wir den Tag vor meiner Abreise von Genua ein Dîner gaben – unser englischer Consul und seine Frau, der Banquier, Sir George Crawford und seine Frau, die De la Rues, Mr. Curry und einige andere, vierzehn im Ganzen. Um etwa neun Uhr Morgens fragten zwei Männer in gewaltigen Papiermützen nach dem braven C., der sie sofort im Triumph als die Köche des Gouverneurs einführte, seine persönlichen Freunde, die gekommen seien, um das Dîner zu bereiten. Jane wollte sich dies jedoch nicht gefallen lassen und so mußten wir ablehnen. Dann kamen, in Zwischenräumen von einer halben Stunde, sechs Herren, die wie englische Geistliche aussahen, andere persönliche Freunde, die gekommen waren, um aufzuwarten . . . Wir nahmen ihre Dienste an, und nie habe ich eine so hübsche und ruhige Bedienung gesehen. Er hatte es sich als besondere Auszeichnung erbeten, die oberste Controle über den Nachtisch zu haben, und hatte Eis in Form von Früchten machen lassen, hatte Porzellangeschirr oberst zu unterst gekehrt, so daß es aussah wie anderes Porzellangeschirr, das in diesem Theile von Europa nicht existirt, und trug einen Kasten mit Zahnstochern in der Tasche. Dann war es seine Freude, sich hinter Kate an einem Ende des Tisches hin zu stellen, mich am andern anzusehen und zu Georgy, so oft er ihr etwas reichte, mit leiser Stimme zu sagen: ›Was denkt der Herr von dieser Anordnung. Ist er zufrieden?‹ Könntest Du sehen was diese Couriere sind, wenn ihre Familien sich nicht auf der Reise befinden, so würdest Du fühlen was für ein Schatz er ist. Ich kann es nicht herausbringen, ob er je ein Schmuggler gewesen ist; aber nichts kann ihn dahin bringen, den Zollhausbeamten etwas zu geben: in Folge wovon mein Reisekoffer unnöthigerweise zwanzigmal geöffnet wird. Zwei solche Beamte kommen gewöhnlich bei dem Thore der Stadt an die Wagenthür: ›Sind verbotene Waaren in diesem Wagen, Signor?‹ – ›Nein, nein. Es sind keine da. Ich bin ein Engländer und dies ist mein Diener.‹ – Eine buona mano, Signor?‹ – ›Roche‹ (sage ich auf englisch), ›gib ihm etwas, damit wir ihn los werden.‹ – Er sitzt unbeweglich. ›Eine buona mano. Signor?‹ – ›Macht, daß ihr fortkommt!‹ sagt der wackere C. – ›Signor, ich bin Zollbeamter!‹ – ›Nun, dann solltet ihr euch um so mehr schämen!‹ antwortet er immer. Und dann wendet er sich zu mir und sagt auf englisch, während das Bild des Zollhausbeamten ein in das Wagenfenster eingerahmtes Bild der Angst ist, erfüllt von dem lebhaften Verlangen zu wissen, was zu seinem Nachtheil gesagt wird: ›Dieser Span,‹ ihm mit der Faust drohend, ›ist der größte Dieb – und Du weißt es, Du Schurke – wie mich nie einer so in Wuth gesetzt hat, daß ich mich kaum halten kann.‹ Mit Span meint er vermuthlich Kerl, allein er mag sich auch auf den Vater des Zollbeamten beziehen, und damit irgendwie auf den alten Block anspielen.« Die betreffenden Wörter des englischen Originals sind chip (Span) und chap (Kerl). Die Verwechselung derselben in der schlechten englischen Aussprache des Couriers, und das aus diese Verwechselung gegründete Wort- und Gedankenspiel, läßt sich in der Uebersetzung nur theilweise wiedergeben. ›Block‹ bezieht sich auf den sprüchwörtlich englischen Ausdruck: › He is a chip from the old block,‹ was ungefähr dem deutschen.: ›Der Apfel fällt nicht weit vom Stamme,‹ entspricht. – D. Uebers.

Er schloß seinen Brief aus Lodi Tags darauf in Mailand, wohin seine Frau und deren Schwester von Genua eine Fahrt von siebenzehn Meilen gemacht hatten, um ein paar Tage in Prospero's altem Herzogthum mit ihm zuzubringen, ehe er nach London abreiste. »Wir werden am Donnerstag Morgen unserer Wege gehen und ich beabsichtige noch, am Sonntag, den 1. Dezember, in dem Piazza-Hotel zu erscheinen, als käme ich geradeswegs von Devonshire-Terrace. Inzwischen werde ich Dir nicht wieder schreiben . . . um die Freude unseres Wiedersehens zu vermehren, wenn diese Freude durch irgend etwas vermehrt werden kann . . . Ich öffne meine Arme so weit!« Ich empfing nichtsdestoweniger noch einen Brief aus Straßburg, vom Montag Abend (25. November), um mich zu benachrichtigen, daß ich ihn einen Tag früher erwarten könne; so rasch war er weitergereist. Er war, seit er Mailand verlassen, nur einmal, in Freiburg, zwei oder drei Stunden im Bette gewesen, und war auf der Höhe des Simplons in gewaltiger Kälte mitten durch den Schnee gefahren. »Ich sitze hier in einem Holzfeuer und trinke brennendheißen Brandy mit Wasser, in der schwachen Hoffnung, später einmal dadurch warm zu werden. Das Gesicht klingt mir noch von Frost und Wind, so wie etwa die Cymbeln klingen mögen, wenn jener beturbante Türke, der dem Musikcorps der Leibgarde attachirt ist, sie eben im St. James-Park zusammengeschlagen hat. Ich hege die Hoffnung, daß dies das Leiden ist, welches der Wiederbelebung vorangeht.«

Jedenfalls fehlte es nicht an Lebendigkeit als wir uns wiedersahen. Ich brauche nur die Worte zu schreiben, um mich an die lebensvolle Erscheinung zu erinnern, wie sie an jenem winterlichen Sonnabend Abend so plötzlich vor mir auftauchte, daß ich den Druck seiner Hand fühlte fast ehe ich mir seiner Gegenwart bewußt war. Das ist beinahe Alles, dessen ich mich von dem kurzen freudigen Zusammensein erinnern kann. Kaum schien er gekommen zu sein, als er auch schon wieder fort war. Aber Alles was er mit seinem Besuche bezweckte, erreichte er. Er sah sein kleines Buch in dessen schließlicher Gestalt vor der Veröffentlichung und hatte Gelegenheit, es einigen Auserwählten, die sich am Montag, 2. Dezember, in meinem Hause zusammenfanden, vorzulesen. Eine ganz denkwürdige Begebenheit, in welcher der Keim jener Vorlesungen vor größeren Zuhörerschaften lag, wodurch die Welt ihn in seinem späteren Leben ebenso sehr kennen lernte als durch seine Bücher, übrigens aber eine Begebenheit, von der mir keine Details im Gedächtniß geblieben sind; und alle die dabei waren, sind jetzt todt, außer Carlyle und ich selbst. Unter Denen die so dahin gegangen sind, war jedoch Einer, unser vortrefflicher Maclise, der, den Rath Capitän Cuttle's anticipirend, sich »eine Aufzeichnung« in Bleistift davon gemacht hatte, die ich hier mittheilen kann. Sie wird dem Leser Alles sagen was er etwa wissen möchte. Er wird die Personen sehen aus denen die Gesellschaft bestand und darf versichert sein, daß (abgesehen von einem Zuge von Carrikatur, als deren Hauptopfer ich selbst mich betrachten darf) in der ernsten Aufmerksamkeit Carlyle's, in dem eifrigen Interesse Stanfield's und Maclise's, in dem scharfen Blick Laman Blanchard's, in Fox's begeisterter Feierlichkeit, in Jerrold's himmelwärts gerichtetem Auge und in den Thränen von Harneß und Dyce, die charakteristischen Züge der Scene hinreichend wiedergegeben sind. Carlyle ist der öfter in diesen Bänden erwähnte berühmte Verfasser der Geschichte Friedrichs des Großen; Laman Blanchard ein ausgezeichneter Journalist, der 1845 durch Selbstmord endete; Fox (William Johnson) einflußreicher Quäker und radikales Parlamentsmitglied; Douglas Jerrold der geistreiche Humorist und Dramatist; Harneß und Dyce literarische Geistliche, Letzterer besonders durch seine Shakespeare-Studien und Sammlungen bekannt. – D. Uebers. Jede andere Erinnerung daran ist dahin geschwunden; aber daß wenigstens die Hauptperson froh und dankbar darüber war, erhellt noch aus andern hinreichenden Zeugnissen. Der Bericht über das Vorgefallene war derart, daß gleich nachher, auf die dringende Bitte unseres Freundes Thomas Ingoldsby (Mr. Barham), eine zweite Vorlesung stattfand, welcher durch die Gegenwart und die Freude Fonblanque's Richard Harris Barham, als Autor bekannt unter dem Namen Thomas Ingoldsby und als Verfasser der Ingoldsby Legends; Albany Fonblanque hervorragender Journalist, zuletzt Herausgeber der Zeitschrift The Examiner. – D. Uebers. ein erhöhter Genuß verliehen wurde; und als ich Dickens, nachdem er uns verlassen, mein Bedauern ausdrückte, daß er um einer so kurzen Freude willen eine so stürmische Reise gehabt habe, erwiederte er, der Besuch sei ein Glück und ein Genuß für ihn gewesen. »Nicht ein Zoll des Weges zu oder von Dir würde mich gereuen, wäre er auch noch zwanzigmal so lang und zwanzigmal so winterlich gewesen. Es war jede Reise, jede Anstrengung werth. Mit dem Staub der Landstraße tief im Gesicht, schwöre ich, ich möchte jene Woche, jene erste Nacht unseres Wiedersehens, jenen einen Abend der Vorlesung in Deiner Wohnung, ja und die zweite Vorlesung auch, aus keinem leicht auseinandergesetzten oder begreiflichen Grunde entbehrt haben.«

In Nr. 58 Lincolns-Inn-Fields

In Nr. 58 Lincolns-Inn-Fields, Montag, 2. December 1842.

Nach einer Zeichnung von Daniel Maclise, gestochen von C. H. Jeens

Er schrieb aus Paris, wo er auf der Rückreise angehalten hatte, um Macready zu sehen, den eine Verpflichtung mit Mitchells englischer Truppe dort zu spielen, verhindert hatte, an unserer Zusammenkunft in Lincolns-Inn-Fields theilzunehmen. Seit 1829 hatte man keinen solchen Frost und Schnee gehabt, und er gab einen traurigen Bericht über die Stadt. Zwei Tage vorher war er mit Macready im Odeontheater gewesen, um Alexander Dumas' Christine von Madame St. George spielen zu sehen, »ehemals Maitresse Napoleons, jetzt von ungeheuerm Umfang, vermuthlich durch Wassersucht, und mit kleinen schwachen Beinen, auf denen sie nicht stehen kann. Dazu etwa 80 oder 90 Jahre alt. Nie in meinem Leben habe ich so etwas gesehen. Jede Bühnenmanier, die sie sich je zu eigen gemacht hat (und sie hat sie alle), hat auch die Wassersucht bekommen und ist häßlich geschwollen und aufgedunsen. Die andern Schauspieler sahen sich nie an, sondern richteten alle ihre Reden an das Parterre, und zwar auf eine so unerhört unnatürliche und alberne Weise, daß ich in Zweifel blieb, ob ich es für einen Spaß oder eine Beleidigung nehmen sollte.« Und dann folgte eine Anspielung auf einen Plan, den wir am Abend der Vorlesung gemacht hatten, daß wir nämlich nach seiner Rückkehr von Italien eine Amateurvorstellung veranstalten wollten. »Du und ich, Sir, werden alles dies reformiren.« Er brauchte indeß nur einen Tag zu warten, um Alles in der italienischen Oper reformirt zu sehen, wo Grisi in Il Pirato sang, und »die Leidenschaft einer Scene zwischen ihr und Mario und Fornassari so gut und groß war, als eine Opernscene überhaupt sein kann. Sie zogen ihre Schwerter gegen einander, die beiden Männer – nicht wie Bühnenspieler, sondern wie Macready selbst; und sie, zwischen sie stürzend, jetzt an diesem hängend, jetzt an jenem, jetzt ihre Arme zu einer Scheide für ihre nackten Schwerter machend, jetzt ihr Haar in Verzweiflung zerraufend, wenn sie sich von ihr losrissen und wieder aufeinander eindrangen, war wunderbar.« Dies war das Theater auf welchem Macready spielen sollte, und wo Dickens ihn am folgenden Tage in der Probe der Scene vor dem Dogen und dem Staatsrath in Othello sah, »nicht wie gewöhnlich mit dem Gesicht dem Schiff zugewandt, sondern an einer Seite arrangirt,« was ihm den Eindruck der Wirklichkeit der Scene zu erhöhen schien.

Er verließ Paris am Abend des 13. mit der Post, die Marseille erst fünfzehn Stunden nach der festgesetzten Zeit, nach einer Fahrt von drei Tagen und drei Nächten über entsetzliche Straßen, erreichte. Dann hielt er, in einer Verwirrung zwischen den zwei rivalen Packetbooten nach Genua, eins derselben gegen seinen Willen mehr als eine Stunde lang bei der Abfahrt auf, und erreichte dasselbe endlich nur noch als es den Hafen gerade verließ. Indem er an der Seite emporstieg, bemerkte er eine auffallende Bewegung unter den zornigen Reisenden, die er so lange aufgehalten hatte, hörte eine Stimme ausrufen: ›Der Henker hole mich, wenn das nicht Dickens ist!‹ und stand inmitten einer Gruppe von fünf Amerikanern! Aber das angenehmste bei der Sache war, daß alle ohne Ausnahme sich freuten, ihn zu sehen, daß ihr Hauptmann oder Führer, der ihn in Newyork getroffen, ihm sofort Alle mit der Bemerkung vorstellte: »Persönlich unsere Landsleute und Sie, Sir, werden es freundlich aufnehmen, hoffe ich,« und daß sie, während der stürmischen Reise nach Genua welche folgte, die besten Freunde waren. Allerdings mußte Dickens während des größeren Theiles der Zeit seine Koje hüten; aber es gelang ihm nichtsdestoweniger, sich an ihnen zu belustigen. Das Mitglied der Gesellschaft welches das Reisewörterbuch hatte, wollte es nicht herausgeben, obgleich er todtseekrank in der Koje neben derjenigen meines Freundes lag, und in kurzen Zwischenräumen war Dickens sich bewußt, daß seine Mitreisenden zu ihm herunterkamen und in den verschiedensten Tönen angstvoller Verlegenheit ausriefen: »Bitte, was ist das Französische für Kopfkissen?« »Gibt es ein italienisches Wort für ein Stück Zucker? Sehen Sie doch einmal nach.« »Was zum Henker bedeutet echo? Der ›Garsong‹ sagt zu Allem echo.« Sie waren auch äußerst begierig, die Einwohnerzahl, die ganze Statistik jeder kleinen Stadt an der Riviera zu erfahren, »wol die allerletzten Gegenstände innerhalb der Grenzen des menschlichen Verstandes,« bemerkt Dickens, »die sich dem Geiste eines italienischen Schiff-Proviantmeisters darbieten würden. Er war ein äußerst willfähriger Mensch, unser Proviantmeister; und da er eine unbestimmte Vorstellung hatte, daß eine große Zahl ihnen gefallen würde, sagte er auf Gerathewohl fünfzigtausend, neunzigtausend, vierhunderttausend, wenn sie ihn nach der Bevölkerung eines Ortes fragten, der nicht größer ist als Lincolns-Inn-Fields. Und wenn sie sagten Non possible! (was des Führers regelmäßige Antwort war), verdoppelte oder verdreifachte er die Summe, um ihren vermeintlichen Ansichten entgegenzukommen und sie ganz zufrieden zu stellen.«

 

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