Egid Filek
Novellen um Grillparzer
Egid Filek

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II.

An dem kleinen Fenster mit den roten Vorhängen, das von der Küche ins Gastzimmer ging, hockte der Elefantenwirt.

Es war ein gut getarnter Beobachtungsposten. Man überblickte, ohne selbst gesehen zu werden, den ganzen Raum und mit Hilfe eines geschickt angebrachten Spiegels auch den Erker.

Denn es war Pflicht und Stolz und Liebhaberei eines klugen und tüchtigen Gastwirts, stets zu wissen, was für Leute in seinem Haus einkehrten, damit man jeden nach seiner Art behandeln konnte.

So hatte es schon der Vater des Elefantenwirts gehalten, der noch ein simpler Bauernwirt gewesen war.

Der zog seinen Gewinn aus den Erzählungen der vielen wandernden Handwerksburschen, die im »Elefanten« einkehrten und gegen gern gespendetes Freibier den Spießern des kleinen Städtchens das Blaue vom Himmel herunter logen. Ach, man ließ sich ja so gern ein wenig anlügen – was wäre das Alltagsleben ohne Illusionen!

Es war schier unglaublich, was so ein Fahrender alles erleben konnte! Abend für Abend war das große Gastzimmer voll gaffender Neugier und in der Schank konnte man den Wirt schmunzelnd ein Fäßchen nach dem andern anschlagen sehen.

Und als die verwegene Handwerksburschenpoesie verklungen war und die Sterne der klassischen Dichtung am Himmel von Weimar aufstiegen, leuchtete ihr Glanz erst recht in die Gaststube des Elefantenwirts herein. Denn nun kamen aus allen Ländern Europas die Fremden, den berühmten Herrn Geheimrat zu sehen und womöglich zu besuchen; sogar von Amerika kamen sie herüber, 135 zumeist aber kamen Engländer, schweigsam und zugeknöpft, die ewige Shagpfeife zwischen den Zähnen. Tag für Tag hockten sie in der Wirtsstube, mit wahrhaft englischer Geduld, aber dem Herrn Geheimrat war jeder Neugierbesuch zuwider, und so konnten sie des gefeierten Dichters Exzellenz nur sehen, wenn er im langen Rock oder im grauen Mantel zur Spazierfahrt aus der Haustüre in den Fensterwagen stieg. Aber sie ließen Geld, viel Geld im »Elefanten«, und der Wirt zog seinen guten Nutzen aus der deutschen Literatur, obwohl er kein einziges von den berühmten Werken des Herrn Geheimrats gelesen hatte; seinem Bildungshunger genügte das Weimarer Wochenblatt.

Und nun war sogar ein Besuch aus Wien gekommen. Der Elefantenwirt wußte von Wien nur, daß es an der schönen blauen Donau liege, und daß dort die Männer sehr eßlustig und die Frauen sehr liebenswürdig waren und gut Walzer tanzen konnten.

Der dort saß, sah allerdings nicht wie ein Fresser, Walzertänzer und Kurschneider aus, und der Wirt, sonst ein guter Menschenkenner, wurde nicht klug aus ihm.

Ein merkwürdiger Patron. Verdrießlich, den Kopf seitwärts geneigt, ein kleines Goldknöpfchen im linken Ohr, saß er da und setzte allen Anbiederungsversuchen des Hausvaters ein verbissenes Schweigen entgegen.

Vom Postillon wußte der Wirt, daß der Fremde Hausdichter am Wiener Burgtheater war. Also jedenfalls ein großes Tier und mit Auszeichnung zu behandeln.

Aber als er jetzt katzbuckelnd und händereibend zu ihm trat und nach seinen Mittagswünschen fragte, wurde er angeknurrt:

»Was die andern Gäst essen, das eß ich auch. Und für morgen früh einen Wagen. Ich will nach Jena.«

Der Elefantenwirt machte tellergroße Augen:

»Exzellenz wollen Weimar schon verlassen?«

Das Knurren wurde bedrohlich:

»Erstens bin ich ka Exzellenz und werd auch nie eine werden. Und zweitens will ich morgen die Pferde. Punktum.«

Das war deutlich gesprochen, und der Elefantenwirt zog sich kopfschüttelnd zurück. Sein Erstaunen wuchs 136 noch, als er zwei wohlbekannte Herren eintreten sah, die den steinernen Gast lebhaft begrüßten.

»Hier bringe ich Ihnen die gestern versprochene Überraschung, Herr Grillparzer,« sagte der Kanzler Müller und deutete auf seinen Begleiter, »es ist unser Hofkapellmeister Hummel, der letzte Schüler des göttlichen Mozart – und ein Wiener, also Ihr Landsmann. Was sagen Sie nun?«

Grillparzer blickte in ein lachendes, dickes Musikergesicht, sah eine flotte Halsbinde von leichtsinniger Buntheit und einen schwarzen Wuschelkopf, der ihn an Freund Schubert erinnerte.

»Stimmt nöt ganz,« erwiderte der andere, »ich bin nur a Preßburger Kindl. Aber mein halbes Leben lang war ich in Wien. War meine schönste Zeit. Was gibts denn dort Neues, Herr Grillparzer?«

Der Gast, angeheimelt durch den vertrauten Klang des heimatlichen Dialektes, erzählte vom »silbernen Kaffeehaus«, vom Konservatorium, von Bauernfeld und Schober, von Lenau und den Schubertiaden, und Hummel hörte begeistert zu und versank in selige Erinnerungen.

»Aber jetzt sagen Sie doch endlich,« drängte Müller, »wie haben Sie gestern unsere Exzellenz gefunden?«

Grillparzer schwieg.

»Aha. Ich merke, Sie sind enttäuscht. Es geht vielen so, die ihn zum erstenmal sehen und sprechen. Aber er hat sich doch mit Ihnen viel mehr als mit allen anderen Abendgästen beschäftigt?«

Grillparzer antwortete nur mit einer müden Handbewegung.

»Ich kann Ihnen sogar noch mehr verraten. Er hat irgend etwas mit Ihnen vor. Was es ist, weiß ich nicht. Aber er hat mir gestern ein paar geheimnisvolle Andeutungen gemacht . . .«

»Sie fragen mich, Herr Kanzler, wie ich Goethe gefunden habe. Einen Herrn Geheimrat habe ich gefunden, mit goldenem Ordensstern und höfischem Gebaren, der seinen Gästen den Abendtee gesegnet. Aber der, den ich suchte, das ist der Dichter des Tasso und der Iphigenie, des Faust und Egmont, das wunderbare Licht, das meine 137 trübe und einsame Jugend durchleuchtet hat, der Gott, zu dem ich gebetet habe in den Zeiten meiner geistigen Not . . . und den habe ich nicht gefunden.«

Er stützte den Kopf in die Hand und war dem Weinen nahe.

Der gute Müller, diesem unerwarteten Ausbruch eines leidenschaftlichen Temperaments fassungslos gegenüberstehend, erwiderte nach einer langen Pause:

»Sie tun ihm unrecht, lieber Grillparzer. Sehen Sie, ich bin ja fast täglich mit ihm und kenne ihn ganz genau, und ich kann Sie versichern, seine Steifheit und Zurückhaltung ist nichts als eine gewisse Verlegenheit. Da drängen sich mitunter Leute an ihn, die er nicht anders los werden kann als durch die Distanz, die er zwischen sich und sie legt. Und wie vorsichtig muß er in allen seinen Reden sein, und wie oft hat man seine Aussprüche mißdeutet.«

»Mag sein,« erwiderte Grillparzer eigensinnig, »jedenfalls habe ich ihn nun gesehen und gesprochen, und morgen früh fahre ich weiter. Die Pferde sind schon bestellt.«

»Das gibts nöt,« mengte sich Hummel in die Unterhaltung, »jetzt abfahren, wo ich mich so gfreut hab, daß endlich a Landsmann . . .«

Der Elefantenwirt war eingetreten und dienerte sich an den Tisch. Respektvoll zog er sein goldgesticktes Samtkäppchen:

»Ein Billet vom Herrn Geheimrat an Seine Exzellenz den Herrn Grillparzer . . .«

»Jetzt hörns aber endlich auf mit Ihrer dalketen Exzellenz!« rief Grillparzer ärgerlich, der im Zustand der Erregung immer in seinen Wiener Dialekt zurückfiel.

Das Billet wurde geöffnet. Es enthielt die Einladung Goethes zum Mittagessen für den nächsten Tag.

»Na also,« triumphierte der Kanzler, »nun werden Sie morgen doch nicht wegfahren, nein?«

Hummel sprang auf: »Die Pferde werden sofort abbestellt, natürlich!«

Er rannte hinaus. Und als er mit rotem Kopf und glänzenden Augen wiederkam, rief er: 138

»So, und jetzt zeigen wir Ihnen unser Weimar. Zuerst gehts zum Schillerhaus. Und mittags sind Sie mein Gast. Keine Widerrede. Wie sich meine Frau freuen wird! Und soviel ich weiß, gibts heute Wiener Schnitzel!«

Sie brachen auf, Müller mit heimlicher Verschwörermiene, Grillparzer in einem wunderlichen Konflikt von Mißtrauen und Neugier, der Musikus voll kindlicher Fröhlichkeit.

Das kleine saubere Städtchen leuchtete im hellen Sonnenglanz.

Wie anders sah es jetzt aus als gestern zur Abendzeit, als das weiche Licht des späten Nachmittags, der Goldglanz des Mondes etwas von der Lebensfreudigkeit südlicher Landschaft über seine stillen Gassen und Hausgiebel gegossen hatte.

Heute lag klare Sonne über dem Ganzen, enthüllte jede Heimlichkeit, duldete keine Schleier, keine Träume. Da standen die Häuschen alle in gemessener Reihe, wie eine Kompagnie Soldaten, überall war Ordnung, Sauberkeit, Sachlichkeit.

Die Luft war gleichsam verdünnt und streng, Leichtsinn gedieh hier nicht.

Vielleicht konnte man hier leben und arbeiten. Und dennoch schien ihm etwas zu fehlen, das für sein Schaffen notwendig war.

Er fühlte das, mit den unendlich feinen Sinnen des Künstlers.

Der Kanzler führte ihn durch den schönen Park. Karl August und Goethe hatten ihn angelegt, unter Mithilfe des Herzogs von Dessau. Da stand die Steinbank, wo Schiller zu ruhen pflegte, dort das Borkenhäuschen, von Goethe in drei Tagen erbaut als galante Aufmerksamkeit zum Namenstag der Herzogin Luise.

Eine hohe, weithin leuchtende Intelligenz war hier am Werk gewesen, hatte den Dingen des Alltags ihr Siegel aufgedrückt, die schönen Bäume gepflanzt, ein heiteres Bauwerk geschaffen im harmonischen Einklang von Natur und Kultur.

Und dann gings eine Holztreppe hinab, über die Naturbrücke, durch ein kleines, sehr romantisches Felsentor nach der Stadt zurück. 139

Grillparzer erkundigte sich nach der Einwohnerzahl.

»Wir haben da in Weimar zehntausend Dichter und einige Einwohner«, erwiderte Müller, und um seinen feinen Diplomatenmund spielten wieder die Schlänglein der Ironie.

Man stand vor dem Schillerhaus.

Wie einfach, fast ärmlich hier alles war. Im Hausflur roch es nach Armeleuteküche, und die Treppe war schadhaft und ungepflegt.

Als sie vor der schlichten Wohnungstür standen, hörten sie eine helle Knabenstimme:

»Wohlauf Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd,
ins Feld, in die Freiheit gezogen . . .«

»Der kleine Bub des Hauswarts,« bemerkte der Kanzler. »Der Alte war einst Souffleur in unserem Hoftheater und der Großherzog hat ihm eine Pension ausgesetzt. Dafür pflegt er das Haus und die Zimmer, so gut er kann, und macht den Fremdenführer. Der Bub ist sein Enkelkind und er will einen Schauspieler aus ihm machen. Hören Sie, wie hübsch er deklamiert.«

Die Tür ging auf. Der Alte stand auf der Schwelle, weißhaarig, mit roten Wangen, und begrüßte die Gäste:

Der schmale weißgetünchte Vorraum war voll Sonne. Auf einem Schemel stand der kleine braungelockte Deklamator und knixte schüchtern.

Der Alte öffnete eine Seitentür:

»Das Arbeitszimmer.«

Ja, hier konnte man das stolze Wort begreifen »es ist der Geist, der sich den Körper baut«.

Ein sechseckiger Raum, nüchtern und kahl, schmale rote Vorhänge, die einen fernen Schein von Behagen und Üppigkeit in diese dürftige Umwelt zauberten, billige Tapeten und dünnbeinige Möbel. Fromme Hände hatten dafür gesorgt, daß alles so geblieben war wie in der Todesstunde des Dichters – auf dem Tischchen neben dem Bett stand die Schale, aus der er zuletzt getrunken, die Arzneiflasche, der Leuchter mit der halbverbrannten Kerze.

»Hier ist der Tell entstanden,« sagte der Kanzler leise.

Ergriffen blickte Grillparzer um sich. Wie schwer mochte dieser Feuergeist gerungen haben, seine ureigene 140 persönliche Art gegen jenen Andern zu behaupten, der immer nur ganz leise zu schütteln brauchte am Baum des Lebens und der Kunst, um sich die schönsten Früchte reif und schwer in den Schoß fallen zu lassen.

Wie hatte er, der arme Teufel, die guten Dinge dieser Welt geliebt und doch an ihnen vorübergehen müssen, nie das Glück genießen dürfen in vollen Zügen, wie die vielen Alltagsmenschen ringsum – und alles um seiner Sendung willen, nach dem grausamen Gesetz der Kunst.

Und er selbst? Mußte er nicht die gleichen Opfer bringen auf dem Altar der Göttin? Und wohin ging sein Weg? In das lichte Reich des Klassischen, in die große Ruhe, wohin seine Sappho wies und das goldene Vließ – oder ins Dunkel, zu den Urquellen aller Künste, zu Traum und Volkslied, Sage und Märchen? In das Wunderreich der Nacht und Romantik?

Die Stimme des alten Souffleurs weckte ihn aus seinem Brüten.

»Ach Gott ja,« plauderte er in seinem liebenswürdigen Thüringer Dialekt, »leicht hat ers auch nicht gehabt, unser guter Herr Professor – geärbet die ganze Nacht und geraucht und geschnupft und immer geschrieben und soviel schwarzen Kaffee getrunke, drei, vier Schäle jede Nacht. Und immer ganz blaß gewest, wenn er ins Theater kommen ist mit roten Flecken auf den Wangen. Und unser Herr Geheimrat, der hat ihm immer gesagt, er soll nicht soviel starken Kaffee trinken und soviel rauchen und ein bißle besser auf seine Gesundheit achtgebe – aber er hat geseufzt und gesagt, er weiß, daß er nicht lang zu leben hat . . .«

Und mit der Redseligkeit des Greisenalters erzählte er weiter, wie der große Dichter, zum Entsetzen Goethes, an faulen Äpfeln zu riechen pflegte, um sich in die richtige Arbeitsstimmung zu setzen – aber der Kanzler, der die faule Apfelgeschichte schon hundertmal gehört hatte, unterdrückte ein Gähnen, und der Musikus mahnte zum Aufbruch:

»Kommens schon, Grillparzer – die Schnitzeln – die Schnitzeln!«

»Ach Gott – die Schnitzeln . . .« murmelte Grillparzer zerstreut. 141

In tiefem Schweigen gingen sie durch den Vorsaal.

Der kleine Bub hatte wieder seinen Posten auf dem Schemel bezogen und studierte weiter in seinem Gedichtbuch. Bis auf die Straße hinaus klang die helle scharfe Knabenstimme:

»Und setzet ihr nicht das Leben ein,
nie wird euch das Leben gewonnen sein!«

Dann nahm der Kanzler freundlichen Abschied und Hummel zog mit dem schweigsamen Grillparzer durch sonnige Gassen zu seinem Wohnhaus, in großer Sorge wegen der Schnitzel.

Es wurde eine recht gemütliche Mittagstafel.

Frau Hummel, ein nettes rundliches Weibchen mit Wuschelkopf und Zaushärchen an den Schläfen, genoß die Hausfrauenfreude, einen Gast zu bewirten. Einst war sie eine gefeierte Sängerin gewesen und hatte, dem Gatten zuliebe und müde der Intrigen neidischer Kolleginnen, den unruhigen Beruf aufgegeben.

Aber eine tüchtige Frau stellt ihren Mann in jedem Beruf. Blitzblankes Kupfergeschirr und schneeweißes damastenes Tischtuch deuteten auf gute Küchentradition, und die Schnitzel waren keineswegs verbraten.

Und als der Hausvater mit großer Feierlichkeit, dem seltenen Besuch aus der Heimat zu Ehren, eine Flasche Rüdesheimer anstach, war die Stimmung auf dem Höhepunkt.

Dann war der Kapellmeister aufgesprungen und hatte die Geige vom Nagel genommen. Beim Spinett hing zwischen zwei welken Lorbeerkränzen – Zeugen eines Triumphes der Hausfrau als Sängerin – eine Silhouette Mozarts, dessen Schüler Hummel durch zwei lange und glückliche Jahre seines Musikerlebens gewesen war.

Und bald erfüllte eines der reizendsten Menuette des göttlichen Wolfgang Amadeus den Raum mit seinen lieblichen Klängen.

Dann spielte Hummel seine neue Phantasie über die Hochzeit des Figaro, und Frau Hummel sang mit schönem Vortrag die Arie der Gräfin »Nur zu flüchtig bist du mir entschwunden«, von Grillparzer verständnisvoll begleitet. 142

»Schön ists zusammen gangen – wunderschön,« freute sich der Musikus, »wissens, Grillparzer, Sie sollten dableiben, bei uns in Weimar. Damit wir den Leuteln zeigen, was Wiener Musik ist. Hängens doch den Beamten auf den Nagel und kommens an unser Theater – dichten könnens da auch.«

Aber Grillparzer schüttelte den Kopf:

»Zu spät, lieber Hummel, zu spät. Ich paß nöt da herein. Spielen wir lieber noch a Sonate.«

Und wieder erklang die Weise Mozarts – aber Grillparzer spielte zerstreut.

Was Hummel ausgesprochen hatte, ging ihm im Kopf herum. Hier zu leben – zu arbeiten – in der Nähe des Großen, den er so tief verehrte – vielleicht war es seine Sendung, einen Hauch der heiteren Kunstfreude des Südens in das kühlere norddeutsche Städtchen zu tragen?

Er fuhr sich über die Stirn.

Freilich – es war schwer, sehr schwer für ihn, den Bodenständigen, der mit tausend Ketten an der Heimat hing. Keine Kleinigkeit, die Brücken abzubrechen, alles hinter sich zu werfen. Wie bedeutsam klangen ihm noch immer die Dichterworte aus dem kleinen Knabenmund nach:

»Und setzet ihr nicht das Leben ein,
nie wird euch das Leben gewonnen sein.«

»Was habens denn, Grillparzer? Sie san ja auf einmal ganz tramhappert worden!«

Und wie sie alle beide in ihn drangen, da erzählte er den beiden Menschen, zu denen er in der kurzen Zeit der Bekanntschaft ein seltsames Vertrauen gefaßt hatte, wie er schon einmal im Leben einen Strich durch sein Dasein gemacht – damals, vor Jahren, nach dem Tode seiner unglücklichen Mutter, als er nach Italien floh, in das Sehnsuchtsland Dürers und Goethes und so vieler anderer Großer, denen die Heimat zu eng geworden war.

Und dennoch war er wieder zurückgekehrt an seinen Schreibtisch, zu den Freunden, zur ewig gescholtenen und ewig geliebten Vaterstadt.

Dann begann der Kapellmeister zu erzählen. Als neunjähriges Wunderkind war er von einer Stadt zur andern gezogen, hatte unzählige Konzerte gegeben, verhätschelt 143 und gefeiert; immer das Podium voller Lorbeerkränze, Beifallstürme und Geld, viel Geld – es war die Zeit der Wunderkinder, Mozart hatte damit den Anfang gemacht mit seinem Spiel in Schönbrunn vor der großen Kaiserin.

Aber später kam die Erkenntnis, daß all das nichts bedeutete, weder Lorbeerkränze noch Geld und Beifall, und daß das Wunderkind nur ein Anlaß für die aufregungslüsterne Menschheit war, um sich auszutoben. Und dann ade Podium und Beifall und Geld – zu Vater Haydn nach Eisenstadt und zu Eszterhazy, dem fürstlichen Mäzen. Dort hatte ihn Haydn in seine strenge Schule genommen und aus dem Wunderkind einen ernsten Musiker gemacht–der gute Vater Haydn, mit dem fröhlichen frommen Kinderherzen, der nie vom lieben Gott sprechen konnte, ohne das Samtkäppchen abzunehmen.

»Was ich Ihnen sag, Grillparzer – bleibens bei uns. Machens mir a Libretto für a neue Oper – unsere alte Exzellenz laßt das Ding auf unserer Bühne aufführen. Was sagens dazu?«

Grillparzer sagte gar nichts. Ja, die alte Exzellenz! Ein heimliches Glücksgefühl durchfloß ihn. Morgen, ja morgen würde er nach dem Mittagsmahl wohl allein sein mit ihm, und vielleicht würde es die Schicksalsstunde seines Lebens werden . . .

Am Abend jenes denkwürdigen Tages aber hockte der Elefantenwirt auf seinem Beobachtungsposten hinter dem roten Vorhängel und guckte in das Gastzimmer. Und was er da sah, erregte wiederum seine größte Verwunderung.

Der Gast aus Wien, der seine höfliche Titulatur als Exzellenz immer so schnöde zurückgewiesen hatte, saß da mit erhobenem Kopf und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte einen flotten Marsch. Sein Gesicht trug den Ausdruck höchster Zufriedenheit und sogar das goldene Knöpfchen im linken Ohr schien stärker zu glänzen.

Und da ein erhöhter Weingenuß als Ursache dieses veränderten Benehmens aus verschiedenen Gründen nicht in Betracht kam, blieb dem Elefantenwirt nichts 144 übrig, als bei dem Fremden trotz seiner Dichterwürde und der auszeichnenden Behandlung durch den Kanzler Müller eine gewisse geistige Minderwertigkeit festzustellen – womit sein Urteil abgeschlossen war.


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