Egid Filek
Novellen um Grillparzer
Egid Filek

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II.

Langsam und versonnen stieg er die Stufen der dunklen Treppe hinab, die aus der Wohnung im ersten Stockwerk auf die Straße hinausführte.

Es waren alte, schadhafte, ausgetretene Stufen, es war ein altes Patrizierhaus aus der Zeit der großen Kaiserin Maria Theresia.

Auf dem letzten Treppenabsatz hielt er inne. Dort stand ein überlebensgroßer gekreuzigter Heiland. Auf dem schmerzlich geneigten Haupt voll Blut und Wunden lag die Dornenkrone, zu seinen Füßen schimmerte ein rotes Lämpchen; die letzten Astern des Herbstes lagen dabei, von frommen Händen hingebreitet.

Ein ewiges Symbol von Leid und Schmerzen, doppelt erschütternd in dieser Stadt der Heiterkeit und Lebensfreude. Eine Mahnung an die Kreuzwegstationen des Lebens. Und am Sockel die Inschrift: 81

»Stehe still, o Wandersmann,
und sieh dir meine Wunden an.«

Da mußte man wohl stille stehen und über den eigenen Lebensweg nachdenken, mit all seinen kargen Freuden und seinem heimlichen Leid.

Von oben kam er, aus den warmen behaglichen Zimmern mit schönen Bildern und prächtigem Hausrat – von der Frau des Vetters und Freundes, deren Wesen ihn so mächtig angezogen und ihm ebensoviel an Unruhe und marternden Selbstvorwürfen gebracht hatte wie an selig berauschendem Glück.

Charlotte! Die Medea im goldenen Vließ!

Mit ihrer rückhaltslosen Bewunderung seiner Werke, mit dem Triumph über seine Erfolge hatte es angefangen. Denn er war eitel wie alles Künstlervolk, und am Feuer der Schönheit entzündete sich sein Herz; ihm war nicht gegeben, ein genügsam friedliches Alltagsleben zu spinnen, er huldigte der Schönheit wie einem gegenwärtigen Gott. Aber es war Gefahr darin, schwere Gefahr für das Gleichmaß der Lebenspflichten, die der Künstler ebenso erfüllen muß wie der Mensch des Alltags.

Er dachte an die Verse im Tasso:

»Es liegt um uns herum
so mancher Abgrund, den das Schicksal grub,
allein in unserm Herzen ist der tiefste
und reizend ists, sich da hinab zu stürzen.«

War es seine Schuld, daß die Gefühle so nahe bei einander wohnten – daß aus dem warmen Erdreich der Bewunderung und Seelenfreundschaft eine tiefere, menschliche, allzu menschliche Empfindung empor sproß?

War es ihre Schuld? Wo lag die Grenze zwischen Schuld und Unschuld? Nie hatte er sich einem weiblichen Wesen genähert, das nicht selbst seine Bekanntschaft gesucht hatte.

Fragen, bange Fragen. Und keine Antwort, keine Lösung. Nur dumpfes, selbstquälerisches Grübeln.

Nein, die Reise in jenes Land voll Schönheit und Frieden hatte ihm keine Beruhigung gebracht. Tausend Meilen lagen zwischen ihm und ihr, und er wollte vergessen und verschmerzen, aber nun, da er wieder daheim war, 82 kam es wieder über ihn mit der Gewalt und Unrast der ersten Tage jener Leidenschaft.

Und er sehnte sich doch so sehr nach Sammlung. Klarheit und Ruhe, deren er bedurfte für sein Werk. Denn in ihm brannte eine ewige Angst, ob er Kraft genug haben würde, alles zu vollenden, was in ihm nach Gestaltung und Form drängte, was der Sinn und Zweck seines Daseins war.

Da fuhr er auf.

Er sollte doch heute abends zu Geymüllers!

Dort war immer große Gesellschaft. Frau Karoline Pichler, die liebenswürdige Kollegin, hatte ihn bei dem Schweizer Bankier eingeführt. Schubert würde spielen und Vogl, der gefeierte Sänger, neue Lieder zum Vortrag bringen.

In dem vornehmen Bürgerhaus in der Wallnerstraße mit seinen Kunstwerken, den wertvollen Gemälden, den goldverschnörkelten Spiegeln und hundert strahlenden Kerzen, bei dem gastfreien Ehepaar war immer alles versammelt, was Wien an Talenten und Persönlichkeiten von Rang und Namen besaß.

Da strahlten alle Sterne des Theaterhimmels in tieferem Glanz, aber auch aufstrebende und verheißungsvolle Jugend war dort gern gesehen und kam mit Ideen und Leistung vor ein empfängliches Publikum.

Und was edle Musik war, das wußte man im Hause des Freiherrn von Geymüller am besten. Hatte doch die Hausfrau selbst in jüngeren Jahren in Händels »Thimoteus« eine Solopartie gesungen, noch dazu in der kaiserlichen Winterreitschule, vor einem hohen Adel und höchst kunstverständigem Publikum!

Ja, er ging zu Geymüllers. Das brachte ihm andere Gedanken in den Kopf. Es taugte nichts, das ewige Grübeln. Das war ein Erbteil vom Vater; man mußte es überwinden, wollte man sich nicht verzehren in elender Selbstmißhandlung.

Und mit rascheren Schritten trat er hinaus auf die im Mondschein gebadete Gasse, noch immer verfolgt von dem Bild der jungen Frau mit den heißen Augen und dem heißen Herzen. 83

Aber das Bild verblaßte, als er sich droben in den lichterhellten Räumen wiederfand und die Bekannten – er hatte meist nur Bekannte und keinen richtigen Freund – ihn begrüßten und ausfragten über seine italienische Reise; mit herzlicher Teilnahme die einen, andere mit heimlichem Neid, aber alle voll Neugier. Denn schon schwirrten allerlei Gerüchte über seine Erlebnisse in der mit Sensationslust und Tratschgift erfüllten Luft der Residenzstadt herum.

Ein Hofbeamter, der ins Ausland reiste, sogar in aristokratischer Gesellschaft – der mußte hohe Protektion genießen, und man munkelte von geheimnisvollen Beziehungen zu den Hofkreisen und flüsterte sich zu, die Kaiserin selbst hätte Interesse für ihn gezeigt und ihn zu ihrem Sekretär ernannt, aber der Kaiser sei mit ihm höchst unzufrieden, weil er seinen Urlaub überschritten habe und viel zu spät im Amt erschienen sei.

Da stand Deinhardstein, sein Rivale als Theaterdichter, im Gespräch mit Nestroy, der im Kreis der Schubertfreunde im Quartett den zweiten Baß brummte und immer mit kleinen Bosheiten geladen war; sie schimpften beide aus Herzensgrund über die dumme und gehässige Zensur und den Grafen Sedlnitzky, den Jammerpudel des Fürsten Metternich, aber ihre Stimmen klangen sehr gedämpft, man konnte nicht wissen, ob sich nicht irgend ein Naderer und Denunziant in die Gesellschaft eingeschmuggelt hatte, und dann bekam man am nächsten Morgen höchst unwillkommenen Polizeibesuch.

Dort plauderte der junge Maler Moritz von Schwind mit der Frau des Hauses; eines seiner Bilder, kürzlich von Herrn Geymüller angekauft, hing im Salon. Er erzählte von fröhlichen Festen im Märchenreich Schwindien, dem alten Familienhaus der Schwinds bei der Karlskirche, von dem kleinen Garten mit der Mondscheinlaube, wo Flieder und Akazien dufteten, wo sich alle seine jungen Freunde und Freundinnen zusammenfanden, um in zwanglos froher Geselligkeit zu schwärmen, Gedichte vorzutragen, zu singen, zu musizieren und Bilder zu betrachten. Da phantasierte an stillen Sommerabenden der unermüdliche Schubert am Klavier, die herrliche Kuppel der Karlskirche stieg in 84 ruhiger Majestät in den blauen Nachthimmel, in der Ferne schwebte der Schattenriß des Belvedereschlosses. Und im Winter schmiß sich das übermütige Jungvolk in dem kleinen Gärtchen mit Schneeballen.

Von alledem erzählte der frohe Romantiker mit der Begeisterung der Jugend, und geduldig hörte Frau Geymüller zu, bis der Diener mit einer geflüsterten Meldung an sie herantrat, die sie an ihre Hausfrauenpflichten erinnerte.

Als schweigsamer Beobachter lehnte der blasse Baron Niembsch von Strehlenau an einer Säule; einige seiner schwermütig düsteren Gedichte, unter dem Decknamen Nikolaus Lenau veröffentlicht, hatten ihm schon einen Namen in den Kreisen der Literaten gemacht; die Einsamkeit der heimatlichen Pußta war darin, wilde Zigeunermusik und die ewige Wanderlust einer Seele, die nirgends ihre Heimat finden kann.

Auch Feuchtersleben war gekommen, der verträumte Dichterphilosoph, und Mayrhofer, der beste Freund des Schubert Franzl, der Klosterflüchtling aus St. Florian, der den geistlichen Zwang nicht ertrug und zum Entsetzen seines Abtes plötzlich aus dem Stift verschwunden war. Einflußreiche Freunde hatten ihm einen kleinwinzigen Posten bei der Buchzensur verschafft, der den allzu Bescheidenen über der Grenze des Verhungerns hielt. Da stand er nun, ein wenig verlegen, im Treiben der unbeschwerten Weltkinder, und die Hände hielt er nach mönchischer Weise noch immer in den Ärmellöchern seines Rockes verborgen.

Bei dem rötlichen Marmorkamin, in dem ein lustiges Holzfeuer brannte, saß, behaglich lächelnd, in einem mächtigen Großvaterstuhl Herr Franz von Schober, jeder Zoll ein Biedermeieraristokrat, gastfrei wie ein arabischer Scheik, Förderer aller schönen Künste, eleganter Weltmann und schwärmender Dichter, Schauspieler und Jurist in einer Person, ein »göttlicher Kerl«, wie ihn Schubert nannte. Eigentlich war er es, dem man den heutigen Abend verdankte, denn er hatte die Bekanntschaft zwischen Vogl, dem gefeierten Sänger, und Schubert vermittelt, und das Dioskurenpaar wollte heute einem erlesenen Kreis von Kennern und Liebhabern 85 zeigen, was es konnte im Gottesdienst der heiligen Frau Musika.

Unter dem strahlenden Kronleuchter schlang sich ein kleiner Künstlerkreis um den Herrn Burgtheaterdirektor Schreyvogel: Anschütz und Löwe, Madame Korn und Sophie Schröder; sie kamen von der Bühne, brachten Theaterluft mit und ein wenig Schauspielerklatsch, und Schreyvogel hörte ihnen lächelnd zu.

Über dem ganzen Bild lag die durchgeistigte Atmosphäre selbstbewußten Bürgertums, das in aller Stille die Kulturerbschaft der Adelswelt antrat, in der noch die Gönner und Förderer Beethovens lebten. Ein edler Dilettantismus war hier am Werk, getragen von stillen kleinen Existenzen voll übertriebener Bescheidenheit, die nichts aus sich zu machen wußten und doch auf manchem Kunstgebiet mehr leisteten als Berufskünstler. Ein Dilettantismus, voll froher und dankbarer Empfänglichkeit für alles Neue und Schöne, wertvoller als das laute Geräusch der großen Welt.

»Ah, da kommt ja unser neuer Burgtheaterdichter,« rief Schreyvogel dem späten Ankömmling entgegen und löste sich von der Gruppe seiner Schauspieler, »sind Sie auch, wie unser Goethe, in Italien zum Klassiker geworden?«

»Spotten Sie nicht eines armen Hofbeamten, Herr Direktor,« bemerkte der andere; es sollte scherzhaft klingen, aber Schreyvogel hörte einen Ton von Verbitterung heraus. »Sagen Sie mir lieber, wer die Frauen dort sind, die unser Gastgeber so freundlich begrüßt.«

»Kennen Sie nicht dieses liebenswürdige Schwestenquartett? Es sind die Damen Fröhlich, ohne ihre Teilnahme ist ein Gesellschaftsabend im Hause Geymüller unmöglich. Sie haben die Sappho gesehen und sind schwer begeistert,« erwiderte Schreyvogel. »Übrigens hübsche Frauenzimmer, besonders die Katty, der unser guter Castelli ebenso feurig als vergeblich die Cour schneidet. Soll ich Sie vorstellen?«

»Danke, nein. Sie wissen, ich bin etwas weltscheu und spiele hier lieber den Beobachter.«

»Wie es sich für einen Dichter schickt. Aber trotzdem wünsche ich Ihnen heute eine gute Unterhaltung.« 86

Damit empfahl sich der Herr Direktor und schlängelte sich durch die Reihen der Gäste zum Büffet; denn dort stand, im Gespräch mit Halirsch und dem frivolen Schürzenjäger Castelli, der Kritiker der Theaterzeitung, vor dessen spitziger Rezensentenfeder alles Theater- und Dichtervolk Respekt hatte; mit diesen Leuten mußte man gut Freund sein, wenn man nicht in der Zeitung bespöttelt werden wollte, und Schreyvogel wußte genau, daß die Lächerlichkeit tötet.

So war der Gast wieder allein mitten im Gewühl und vertiefte sich in die Betrachtung eines italienischen Landschaftsbildes. Die Marina von Capri. Dunkle Piniengruppen, weiße Felsenwände, glühend im Strahl der heißen Mittagssonne. An die blaue Grotte dachte er, an den geschwätzigen Schiffer Antonio, der ihn hineingerudert hatte in das leuchtende Wunder dieses Märchengewässers, wo der schaukelnde Kahn in flüssiger blauer Luft zu schweben schien und der kleine nackte Fischerbub, tauchend nach einer ins Wasser geworfenen Münze, einer lebenden Statue aus glänzendem Silber glich.

Es schien ihm, als stünde jemand hinter ihm, das Gemälde betrachtend, aber er wendete sich nicht um und empfand die fremde Gegenwart als unwillkommene Störung.

Da flüsterte eine leise Stimme:

»Wie schön!«

Eine von den Damen, die der Gastherr begrüßt hatte. Ringellocken, süßes Gesicht, tiefe leuchtende Augen.

Und fast wider Willen fragte er:

»Waren Sie schon einmal dort unten?«

»Nein. Und Sie?«

»Ich komme von dort. Das Bild ist sehr gut.«

»Ich bin noch nie aus der Wienerstadt herausgekommen. Wissen Sie, ich bin ja Wienerkind mit Leib und Seel, aber manchmal kommts mir hier vor wie in einem herrlichen Saal mit Musik und Lichtern und Bildern und eleganten Menschen . . .«

»Und schönen Frauen.«

»Ja, aber alle Türen sind versperrt und man kann nicht heraus.« 87

»Man kann schon heraus, liebe Mademoiselle. Ins Land der Kunst und der Schönheit kann jeder reisen, der den guten Willen hat.«

»Na ja, ich verstehe Sie schon. Sie meinen das Theater. Oh, ich bin so was wie a Theatergredl, hab ganze Rollen studiert und wollt sogar zur Bühne . . .«

Kleines Bürgergänschen, dachte er.

»Aber damit hats noch Zeit bei mir. Einstweilen schau ich mir lieber die Bühne von unten an.«

»Nun, wir haben jetzt gute Volksstücke. Der Bäuerle mit seinen Staberlkomödien, die Zauberpossen im Leopoldstädter Theater . . .«

»Solche Sachen mag ich nöt. Ich geh lieber ins Burgtheater. Da war ich neulich in Sappho. Ein wunderbares Stück, da kann man was denken und träumen! Die Schröder in weißer Seiden, mit der goldenen Leier – der Daffinger, der auch bei uns im Haus verkehrt, hat das Kleid entworfen. Und die schönen Dekorationen, das Meer so tief blau, die dunklen Zypressen, grad wie da auf dem Bild.«

»So, also die Sappho hat Ihnen gefallen?«

»Das glaub ich. Dieser Grillparzer muß ein wirklicher Dichter sein. Sagen Sie, kennen Sie ihn vielleicht?«

»So oberflächlich.«

»Wirklich? Wie schaut er denn aus?«

»Wie halt ein Dichter ausschaut. Ein Salonmensch ist er nicht. Blaue Augen hat er und dunkelblonde Haar.«

»So wie Sie?«

»So ähnlich. Aber sonst ist nix Bemerkenswertes an ihm.«

»Ich möcht ihn wohl kennen lernen. Ein Dichter – das ist kein gewöhnlicher Mensch. Wie is er denn im Verkehr?«

»Einsilbig und oft verdrießlich.«

»Sind Sie das am Ende auch?«

»Manchmal schon, wenn mich die lieben Nebenmenschen ärgern.«

Sie blickte ihm voll ins Gesicht:

»Ich glaub, Sie wollen mich zum Narren halten, Herr . . .« 88

Und nun hielt er sich nicht länger und brach in ein gemütliches Lachen aus:

»Jetzt ists genug – daß Sie es nur wissen, Mademoiselle, er steht bei Ihnen, der Grillparzer.«

Da überflammte eine tiefe Röte das liebliche Gesicht. Unwillkürlich streckte sie ihm die Hand hin:

»Hab mirs doch gleich gedacht! Wie ich mich freue!«

»Still!«

Gemurmel lief durch den Saal: »Sie kommen!«

Und sie kamen, der Tondichter und sein Sänger, Hand in Hand wie Vater und Kind. Johann Michael Vogl, dreißig Jahre älter als Schubert, hohe Bühnengestalt, König alles dessen was er erblickte, jeder Zoll verwöhnter Liebling des Publikums; und an seiner Seite, mit verlegenen Trippelschritten, der kleine dicke Mann mit dem roten bebrillten Schulmeistergesicht; seine kurzen Finger, die so viel Wohllaut aus den schwarz-weißen Tasten zaubern konnten, lagen heiß und zuckend in der mächtigen Tatze des Sängers.

Im Saal wurde es still, Schubert nahm Platz an dem geliebten Instrument, noch zwei Worte der Verständigung mit dem Sänger, dann sanken seine Hände auf die Tasten hinab.

Und nun waren sie in ihrem Reich, das nicht von dieser Welt war. Die atemlos Lauschenden vernahmen eine Musik, kühn und unerhört neu für jene zahme Zeit, und doch so vertraut und herzensnah wie Vogelsang und Rauschen des geliebten Buchenwaldes rings um das sonnenselige Wien.

Das Klavier gab unendlich mehr als die bloße Begleitung der Lieder. Seine Töne sangen die unbändige Wanderlust stürmischer Jugend, den angstvollen Galopp des Pferdes durch Erlkönigs Geisterreich, den zitternden Herzschlag eines todgeweihten Mädchens. Sie neigten sich in unsagbar feierlichen Akkorden vor des Todes erhabener Majestät. Sie klagten mit dem Einsamen vor dem Haus der Geliebten unendliches Leid durch stille Gassen, sie stiegen als Lerchenjubel in den Morgenhimmel empor, die holde Schläferin zu wecken, sie geleiteten den ernsten Wanderer in das Traumland unerfüllter Sehnsucht. 89

Auf einem kleinen Sofa, gerade groß genug für zwei, hatten sie Platz genommen. Das Mädchen hielt den Lockenkopf gesenkt und trank die Töne in sich wie der Durstige einen köstlichen Wein.

Und wenn ihm, der mehr auf die süße Melodik Mozarts geeicht und erzogen war, manches zu wild und stürmisch erschien, so konnte er doch den Blick nicht von seiner Nachbarin abwenden, die weltentrückt neben ihm saß.

Ein Mensch, der die Kunst zu hören versteht, dachte er. Wie wenige können das. Ob sie wohl imstande wäre, auch eine Dichtung so tief zu erleben?

Dann kam die Pause mit endlosem Händeschütteln und Glückwünschen für die ermüdeten Künstler, mit klugen und albernen Urteilen, mit angeregter und erregter Konversation und Sturm auf das Büffet, das mit erlesenen Leckerbissen bestellt war. Und Katty führte ihre neue Bekanntschaft im Triumph den Schwestern entgegen.

»Alsdann, Sie sind der berühmte Herr Grillparzer?« platzte die burschikose Betty los, »wissens, Ihre Sappho hat uns allen recht gut g'fallen, aber die Ahnfrau, die ist uns zu gruslig, wie ich sie g'sehn hab, hab ich die ganze Nacht von G'spenstern träumen müssen.«

»An neuen Operntext sollen Sie schreiben, Herr Grillparzer, mit einer schönen Rollen für mich,« meinte Josefine, »und der Schubert solls komponieren, der sucht schon so lang a gutes Libretto . . .«

Aber Katty schüttelte energisch den Kopf:

»Nein, nein, lieber wieder so was wie die Sappho!«

Da mischte sich Anna ins Gespräch:

»Ich glaub, Sie sind a bissel verwirrt von so viel gut gemeintem Rat, aber jetzt komm auch ich mit einem Vorschlag: möchten Sie uns nicht nächsten Sonntag das Vergnügen Ihres Besuches machen?«

Er verneigte sich dankend.

»Schön. Und jetzt setzen wir uns zusammen, gelt?«

Er folgte der Einladung, gab sich der stillen Behaglichkeit hin, die von diesen Frauen ausströmte; die kleine bewegliche Anna erinnerte ihn ein wenig an die Mutter. 90

Stühle wurden gerückt, Pulte aufgestellt, Notenblätter verteilt, Instrumente gestimmt, denn jetzt kam der Höhepunkt, das Kleinod des denkwürdigen Abends: Das Forellenquintett!

Eines der wenigen Werke des Meisters, das die dunklen Schwingen der Melancholie nicht streiften, voll Wiesenduft und Sonnenglanz auf den hüpfenden Wellen eines Bächleins.

Und wieder saßen sie nebeneinander; wieder dieses stille Zuhören, diese restlose Hingabe an eine Welt jenseits von Mann und Weib; immer mehr begann ihn dieses Wesen zu interessieren, ihn, der wie einst der alte Diogenes, immer auf der Jagd nach Menschen war.

Sie hatten alle, mehr oder minder verhüllt, den Mann in ihm gesucht, alle die vielen Frauen, die er auf seinem Siegeszug durch die Wiener Gesellschaft kennen lernte. Aber diese war anders. In den schönen, klaren Augen war keine Spur weiblicher Koketterie. Seit das Spiel begann, hatte sie ihm noch keinen Blick geschenkt.

Der letzte Ton verklang; wieder tobte ein Sturm von Begeisterung durch den Saal, und im fröhlichen Lärm des allgemeinen Aufbruchs schwor man sich zu, alle Hebel in Bewegung zu setzen, daß der arme geschäftsuntüchtige Musikus endlich einen tatkräftigen Verleger bekam, der seine Werke aus den Wiener Salons hinaus in die weite Welt des europäischen Kulturpublikums und zu größeren Erfolgen führen konnte.

Und dann gings die teppichbelegte Treppe hinab, ernst und gravitätisch die Herren, die Damen in ihren hellbunten Kleidern plaudernd und lachend, ein wandelndes Blumenbeet.

Anna, Betty und Josefine schritten voran, Grillparzer folgte mit Katty. Sie nahm vertraulich seinen Arm:

»Sie müssen mit mir gehen. Ich glaub, der eitle Kerl, der Castelli, will mir nachsteigen. Er hat ein Gedicht auf mich gemacht und meint, ich muß deshalb in ihn verliebt sein.«

Es ging durch enge, krumme, schlecht gepflasterte Gassen der inneren Stadt, an verschlafenen Polizeimännern vorüber in die Spiegelgasse. 91

»Mir scheint, er geht hinter uns. Ich mag mich nicht umdrehen – schauen Sie doch, ob er es ist.«

Als er flüchtig den Kopf wendete, war es ihm, als sehe er einen Augenblick lang ein blasses Gesicht und zwei große traurige Mädchenaugen – aber im Nu verschlang die Dunkelheit der Nacht die flüchtige Vision.

»Er ist nicht da,« sagte er.

Allgemeines Abschiednehmen vor der Haustür.

»Und nächsten Sonntag sind Sie bei uns zur Jause und erzählen uns von Italien und von der blauen Grotte.«

»Ach ja – von der blauen Grotte,« lächelte Katty.


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