Egid Filek
Novellen um Grillparzer
Egid Filek

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Sehnsucht in die Ferne

I.

Eigentlich hatte der Frühling nicht die amtliche Erlaubnis, in die Wiener kaiserlich-königliche Finanzhofstelle zu kommen, wo der Beamte der Zollverwaltung, Franz Grillparzer über den langweiligsten Akten brütete, die jemals einem Dichter Leben und Schaffen verleidet haben.

Aber er kam dennoch, auch ohne Erlaubnis, der Frühling, und gleich einem großen, regierenden Herrn hatte er seine Ambassadeurs vorausgeschickt: den Sturm, um die kahlen Bäume am Glacis aus ihrem Winterschlaf zu rütteln, und die steigende Sonne, um aus dicken braunen Knospen Blätter und Blüten hervorzukitzeln.

Auch in den Amtsräumen merkte man seine Ankunft; die älteren Herren klagten über Gicht und Rheumatismus, mittlere Jahrgänge sprachen vom Frühjahrsavancement und die jungen von Ausflügen nach Sievering, Grinzing und Heiligenstadt, oder vielleicht gar nach Baden, im Zeiserlwagen oder Fiaker, mit lustiger Gesellschaft.

Nur der Zollverwaltungsbeamte Franz Grillparzer sprach nicht von dergleichen prosaischen Dingen.

In lässiger Haltung, den fein geschnittenen Kopf ein wenig zur Seite geneigt, saß er an seinem großen wurmstichigen Schreibtisch, auf dem sich aus einem Wust von beschriebenen Papierblättern ein schwarzes Kruzifix erhob. Das niedrige Gemach war von Moderduft erfüllt und bis hinauf zur geschwärzten Decke mit Büchern, Aktenbündeln und Papierstößen vollgestopft. Durch kleine staubblinde Fensterscheiben sickerte das letzte Licht des sterbenden Vorfrühlingstages in die bürokratische Trostlosigkeit dieses Amtsraumes herein. 6

Der Mann am Schreibtisch sah das alles nicht. Seine verschleierten hellblauen Augen blickten in eine Traumlandschaft. Heute hatte er wieder einmal seinen geliebten Calderon hergenommen und sich in die bunte, exotische Welt des spanischen Dichters versenkt, als der Diener Besuch anmeldete.

»Jetzt? Um sechse? Wo draußen schon die Laternanzünder herumrennen? Der alte grantige Hofrat siehts gar nöt gern, wenn man Privatbesuch im Amt . . .«

»Der alte grantige Hofrat ist längst heimgegangen«, sagte eine kräftige sonore Stimme. Ein Mann in mittleren Jahren, angetan mit einem eleganten Glockenrock, weiten Pantalons und Schnallenschuhen, in der Hand einen grauen Zylinderhut und einen Stock mit Goldknopf, trat mit energischem Schritt ins Zimmer.

Überrascht hob sich der junge Beamte von seinem Stuhl.

»Gott zum Gruß, Herr Direktor!«

»Danke ergebenst. Wenn der Berg nicht zum Mohammed kommt, muß der Mohammed zum Berg kommen. Was ist denn los mit Ihnen, Grillparzer? Ich glaube, Sie waren krank? Sechs Wochen lang haben Sie sich nicht in meiner Theaterkanzlei sehen lassen. Und es gibt viel zu besprechen, was unsere Zukunftspläne betrifft. Wie stehts mit Ihrem nächsten Stück? Wieder was Klassisches? Sie sprachen von einem antiken Stoff – Argonautensage – wie?«

»Ach – mir is nöt nach neuen Stücken zumut. Es geht und geht nöt.«

»Aha. Es geht wieder einmal nicht. Dasselbe hab ich zu Goethe gesagt, damals als ich in Weimar mit ihm zusammen war. Und wissen Sie, was er mir zur Antwort gab?«

»Nun?«

»Man muß nur in die Hand blasen, dann gehts schon!«

»Der Goethe hat leicht reden, in seinem Weimar, in der Gnadensonne vom Großherzog. Aber ich hier in Wien? Schaun Sie sich unser Theaterpublikum an. Sinds die Leut wert, daß man sich plagt für sie? Nix auf der Welt is so undankbar wie das Publikum. Da wollens im 7 Theater lauter Zauberpossen und Dummheiten sehen und a Hetz haben, damits recht lachen können!«

»Das dürfen Sie nicht sagen. Natürlich, das Publikum ist immer unberechenbar. Aber bei ihrer Sappho, da war keine Hetz und nichts zum Lachen, und doch hat das ganze Theater, wie der Vorhang gefallen ist, getrampelt und geschrieen ›Hoch Grillparzer‹. War Ihnen das noch nicht genug?«

»Mein Gott, ja –« klang die verdrießliche Antwort, »aber eigentlich haben die Leut nur die Schauspieler beklatscht. So sind die Wiener. Der Schauspieler is ihnen alles und die Schauspielerin schon gar, wenn sie schöne Toiletten hat und a resches Frauenzimmer is, mit recht viel Amouren. Aber der Dichter is nix, rein gar nix!«

»Sie sind heute wieder in Ihrer grauen Stimmung. Und ich wollte Ihnen eine gute Nachricht bringen – ich komme von Ihrem Vetter, Ferdinand Paumgarten, Sekretär der Kaiserin, der übrigens versprochen hat, heute auch hier zu erscheinen.«

Grillparzer hob den Kopf: »Mein Gott, er meint es gut mit mir, aber . . .«

»Kein Aber, Sie gehören zu den Leuten, die man zu ihrem Glück zwingen muß. Ich habe mit Paumgarten von Ihnen gesprochen und er hat mich nach allem ausgefragt, was die Ärzte über Ihren Gesundheitszustand gesagt haben. Und das ist der zweite Grund meines heutigen Besuches. Sie sehen wirklich recht angegriffen aus, lieber Freund, und sollten eine Zeitlang ausspannen.«

Es war ganz dunkel geworden in dem engen Raum. Draußen fegte der Wind durch den kleinen Garten, ein kahler Ast klopfte mit dumpfem Ton an das Fenster.

Schreyvogel vermied es, von dem schweren Unglück zu sprechen, das den Dichter bis ins Lebensmark getroffen hatte, von dem Selbstmord seiner Mutter; und Grillparzer war ihm für sein Schweigen dankbar.

»Sie könnten ein paar Wochen lang auf dem Schloß vom Baron Stillfried in der Wachau wohnen, das würde Paumgarten schon machen.«

»Jetzt im März in die Wachau? Unmöglich. Dabei ist die Frag, ob mir der Graf Stadion Urlaub gibt. Es ist jetzt im Amt viel zu tun, und ich muß dazu schauen, 8 daß ich im Dienst vorwärts komm, unser Österreich ist halt einmal ein Beamtenstaat und der Kaiser will selber nix sein als der erste Beamte.«

»Die Urlaubsbewilligung kann Ihnen der Paumgarten vermitteln, er hat gute Beziehungen zum Hof,« erwiderte Schreyvogel und nahm eine kleine Prise, »aber ich glaube, für Sie wäre es am besten, Sie täten reisen. Nach Spanien vielleicht, dort zieht es Sie immer hin, seit Sie den Calderon übersetzt haben, oder nach Italien. Wohin immer, nur recht weit fort von dem wurmstichigen Schreibtisch da.«

»Italien!« sagte Grillparzer verträumt und ließ das Wort klingen wie eine Glocke, »Ja, das wär mir wohl recht und noch lieber als Spanien. Ja, dort im Süden, unterm blauen Himmel, wo die Myrthe still und hoch der Lorbeer steht – da könnt ich vielleicht meine ewige Verdrießlichkeit loswerden und alles von vorn anfangen und besser machen, viel besser . . .«

Schreyogel ließ ihn reden. Er kannte die beiden Seiten seiner Natur. Diese aufschäumende Lebens- und Schaffenslust, mit der er damals in ein paar Wochen, mit fliegender Hast, die Ahnfrau hingeschleudert hatte – und seine trübe Resignation als Gegenwirkung.

Und nun war wieder einmal in dem stillen, arbeitsmüden Beamten der Dichter erwacht. Die blauen Augen leuchteten, als er, halb zu sich selbst redend, die Stimme senkte:

»Wie ich die Sappho geschrieben hab – da war ich im Geist dort unten im Süden. Herrgott, die Wirklichkeit kann gar nie so schön sein wie die Bilder, die ich gesehen hab. Schwarze Zypressen und Lorbeerbäum und stille Tempel mit weißen Götterbildern drin, die aus großen Augen hinausschauen in die Unendlichkeit. Und die Dichterin im weißen Kleid, mit der goldenen Leier, der Altar der Aphrodite, der Leukadische Felsen und tief unten das Meer, das blaue unendliche Meer, das hat geatmet wie eine Menschenbrust. So deutlich, wie zum Greifen, hab ich das alles vor mir gesehen – und in Wirklichkeit bin ich in dem elenden niedrigen Zimmer im Schottenhof gesessen und grad unter mir war der Backofen vom Bäckermeister Dworak. Eine Hitz, nöt 9 zum aushalten, und der Dunst vom Brotteig, und in der Nacht der Lärm, den die Gesellen bei der Arbeit gemacht haben – so habe ich meine Sappho geschrieben, jawohl.«

»Sie sollten doch nach Italien,« sagte Schreyvogel mit unerschütterlicher Ruhe.

Aber da schlug die Laune des nervösen Stimmungsmenschen schon wieder unvermittelt um.

»Wo soll ich denn das Geld hernehmen? Kann ich mir a Extrapost zahlen? Zweitausend Gulden Papiergeld im Jahre – da muß einer Gott danken, wenn er in Wien leben kann bei den sündteuren Zeiten. Da hat uns die hohe Regierung versprochen, nach dem Frieden wird alles besser, und jetzt sind schon vier Jahre vergangen seit dem Friedenskongreß und man merkt noch immer nix davon. Und dann lassens mich nöt fort. Wenn ein Staatsbeamter ins Ausland will, so muß erst Vortrag an den Kaiser erstattet werden, bevor man den Paß bekommt. Und dann ist erst noch die Frag, ob der Polizeihofrat die Sach nöt a Jahr lang verschleppt. Na, na, ich komm schon mein Lebtag nöt raus aus dem Joch.«

Da ging die Tür.

»Aber gar so sparen müßt die löbliche Finanzhofstelle nöt, daß sie ka Licht anzünden laßt, wenns draußen finster wird,« sagte eine kräftige Männerstimme.

Grillparzer fuhr auf: »Vetter Paumgarten?«

»Zu dienen, lieber Hofbeamter. Bleib sitzen, ich find schon zu dir. Hab gute Nachricht für dich. Aber du mußt dich heut noch entscheiden, darum bin ich gekommen.«

Er legte das glatt rasierte Gesicht zwischen den hohen Vatermördern in wichtige Falten und sah die beiden bedeutungsvoll an:

»Also: Du kannst nach Italien fahren, Franziskus, wenn du willst. Nämlich: ein Bekannter von mir, der Graf Deym, will mit eigenem Wagen und Extrapost nach Rom und Neapel und sucht einen Begleiter auf halbe Kosten. So billig wirst du nie nach Italien kommen.«

»Wer ist denn dieser Graf Deym?«

»Kämmerer seiner Majestät«, erwiderte Paumgarten und schnupfte aus goldner Dose, »und ein reicher 10 Großgrundbesitzer. Bissel wunderlich und schrullig, aber eine gute Haut. Ich hab ihn in einem geselligen Zirkel kennen gelernt und von dir gesprochen. Er möcht dich recht gern mitnehmen.«

»Was hat er denn in Rom zu tun?«

»Du weißt aus der Wiener Zeitung, daß der Kaiser und die Kaiserin schon in Rom angekommen sind. Und da will der Deym als Kämmerer seinem Herrn in der Fremde aufwarten und reist den Majestäten nach.«

»Ich weiß nöt, ob ich mitfahren soll«, erwiderte Grillparzer mißtrauisch.

Paumgarten zuckte die Achsel:

»Das mußt du mit dir selber ausmachen. Nur entscheide dich rasch – der Graf reist morgen abends.«

»Mein Gott, ihr laßts einem gar keine Zeit zur Überlegung – alles kommt so überhaps – ich tät mich riesig freuen, aber wer soll beim Kaiser meinen Urlaub erwirken? Er will von allem wissen und womöglich alle Akten selber erledigen.«

»Das wird der Sedlnitzky machen. Außerdem hat mir der Graf Stadion versprochen, daß er dir auf eigene Verantwortung die Reiseerlaubnis gibt. Den Paß bekommst du später nachgeschickt, das besorge ich selber. Und wenn du mir eine Freud machen willst, so kannst du mir aus Pompeji eine antike Lampe mitbringen. Du weißt, ich schwärm für solche Sachen.«

»Aber sag, Paumgarten, wie wirds mit der Kost sein? Wenn mein Magen das italienische Futter nöt vertragt, das viele Öl und die Fischspeisen – das Essen ist dort ganz anders als bei uns.«

»Natürlich, da redt halt wieder amal der echte Wiener, der von seinem Backhendl mit Salat nöt lassen kann. Übrigens hat der Doktor gesagt, für deine Natur gibts nix besseres als einen Aufenthalt im Süden.«

Grillparzer neigte den Kopf zur Seite und schwieg, während die beiden anderen schon leise Zeichen der Ungeduld von sich gaben.

»Und was ist denn dieser Graf Deym für ein Mensch? Kann man mit ihm was Gescheites reden oder geht er einem auch so auf die Nerven wie der alte Weigl, der nix auf der Welt versteht als seine Musik?« 11

»Lieber Freund, über die Schicksalsidee in deiner Ahnsfrau und über die deutsche Literatur wirst du mit dem Deym nix reden können. Der interessiert sich für Rindviehzucht, Stallfütterung, Milchwirtschaft und solche Sachen, von denen du wieder nix verstehst. Aber du willst nach Italien, gelt, und mußt mit der Reisebegleitung vorlieb nehmen, die eben da ist. Übrigens – es zwingt dich kein Mensch, mit dem Deym zu fahren. Bleibst halt daheim, in Wien ists auch schön. Geh ins Paradeisgartl, ins silberne Kaffeehaus oder in den Apollosaal . . .«

Grillparzer schwieg hartnäckig.

»Also mir kanns recht sein,« sagte Paumgarten und stand auf, »ich meld morgen früh dem Grafen, daß du nöt magst. Adieu!«

»Na, na, so wars doch nöt gemeint,« brach Grillparzer endlich los, »hab ich denn g'sagt, daß ich nöt will? Kein Wort davon hab ich g'sagt!«

Paumgarten lachte.

»So macht er's immer,« sagte er, zu Schreyvogel gewendet, »wann ma ihm a Freud machen will, fangt er zu klagen und zu raunzen an und am End weiß man nie, wie man mit ihm dran ist.«

Schreyvogel zitierte Tasso:

»Die Dichter sind ein reizbares Geschlecht.«

»Reizbar oder nicht,« erwiderte Paumgarten, »aber schau, Franz, du kannst doch nicht leben wie ein Einsiedlerkrebs! Bist noch jung, du mußt hinaus ins Leben, in die Welt, andere Leut sehen, andere Luft atmen, sonst gehst du uns zugrund an Seel und Leib. Sei froh, wenn du reisen kannst. Denk an die Saturnalien bei den alten Römern, von denen uns der Pater Koloman im Schottengymnasium erzählt hat. Da haben die Sklaven ein paar Tage lang die Herren spielen dürfen und sind vom Hausvater und seiner Familie bedient worden. Und Reisen, siehst du, das sind die wahren Saturnalien des losgelassenen Sklaven aller gesellschaftlichen und häuslichen Zustände, man ist ein freier Mann, man tut und läßt was einem gefällt und kann sagen, hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein . . .« 12

»Alsdann gut. Ich geh mit und werd gleich morgen früh dem Grafen meine Aufwartung machen. Nur eins bitt ich mir aus: daß er nöt am End glaubt, ich lauf ihm nach und küß ihm die Hand, weil er mich mitnimmt. Ich bin noch mein Lebtag niemandem nachglaufen.«

Das war der Augenblick, wo Herr Ferdinand Paumgarten, Sekretär und Hofmann vom Scheitel bis zur Sohle, der von Berufs wegen viel Geduld entwickeln und manche Launen ertragen mußte, endlich doch seine gelassene, würdevolle Ruhe verlor.

Er schüttelte heftig den Kopf, hob die Hände und Augenbrauen in die Höhe und sprach:

»Franziskus, wann wirst du endlich einmal ein bißl Lebensklugheit lernen! Begreifst du nicht, daß du immer nur deinem eigenen Glück im Weg stehst?«

»Für mich is halt das Glück was anderes als für die andern«, murmelte Grillparzer verbissen.

»Du wirst aber niemals glücklich sein, weil du nie wirst glücklich sein wollen!«

»Laßts mich bleiben, der ich bin. Ich stör euch ja auch nöt.«

»Du bist und bleibst der alte Dickschädel. Jetzt aber, daß wir von was anderem reden: wie wärs, wenn wir alle drei zur ›Goldenen Birn‹ auf ein gutes Nachtmahl gingen? Müssen doch anstoßen mit unserem Franziskus auf gute Reise und glückliche Heimkehr. Wißts Ihr, daß der Schubert heut bei der ›Goldenen Birn‹ spielt?«

»Wie? Was? Der Schubert? Ich glaub, der hat a Sängerfahrt nach Sankt Pölten g'macht mit dem Ludwig Halirsch und dem Johann Gabriel Seidl, der so gut Lauten spielen kann.«

»Ja, aber er is bald zurückgekommen, er hat sich mit dem Halirsch g'stritten und is den andern einfach davongelaufen und wieder nach Wien zurück – kennst ihn ja, den närrischen Kerl.«

»Wenn der Schubert spielt, dann müssen wir freilich mit zur ›Goldenen Birn‹. Alsdann vorwärts.«

Es ging durch schlecht beleuchtete Straßen und Gassen, an kleinen Nischen mit mattbrennenden bunten Glaslämpchen vorüber, die zitterndes Licht auf einen steinernen Heiligen oder eine holzgeschnitzte 13 Muttergottes warfen, über kleine Plätze, in deren Mitte ein Röhrenbrunnen sein Wasser in das steinerne Bassin sprudelte, während am Rande der leise bewegten, in zitternden Reflexen spielenden Wasserfläche ein paar Bäume ihre Äste zum dunklen Himmel emporstreckten und eine verspätete Magd mit flatternden Röcken ins Haustor huschte. Wie ein großes Dorf sah die Stadt aus; Abendglocken tönten von der Höhe der Türme, die Schornsteine der niedrigen Häuser rauchten und in den Gasthöfen setzten sich die Bürger zum Abendschoppen.

Der große Saal bei der »Goldenen Birn« war dicht gefüllt. Die Herren in bunten, spitzenbesetzten Westen und weiten Beinkleidern, unter deren Saum die Schnallenschuhe hervorguckten, saßen plaudernd beim Bier und bemühten sich, ihre Damen zu unterhalten, deren hellbunte, duftige Gewänder das Schwarz der Männerkleidung fröhlich unterbrachen; ihre zu langen Locken gedrehten Haare, Arme und Schultern waren mit grellfarbigen Bändern geschmückt.

Der heitere Lärm des Schmausens und Zechens durchbrauste den Saal, aber so eifrig auch alles den Speisen und Getränken zusprach, so flogen doch beständig erwartungsvolle Blicke nach dem Podium an der Schmalseite des Saales, wo ein kleines, viereckiges Klavier stand; und lautes Rufen und Händeklatschen ertönte, als nun endlich der allgemein beliebte junge Komponist mit ungeschickten, kurzen Schritten und linkischer Verbeugung seinen Platz einnahm – ein dickes, bewegliches Männchen mit wirrem Lockenhaar und großer Brille, dessen kleines Kinn zwischen den Kragenecken und der schwarzen Krawatte mit dem ungeheuren Knoten fast verschwand. Er zog ein rotkariertes Taschentuch hervor und putzte sich geräuschvoll die Nase. Der Sänger, den er mitgebracht, ein junger Mann mit glattgescheiteltem Haar, blickte von der Höhe des Podiums mit der kühlen Sicherheit des beifallgewohnten Künstlers ins Publikum; er wußte, wenn er was vom Schubert-Franzl sang, brauchte ihm um den Applaus nicht bange zu sein . . . Und nun eine steife Verbeugung, ein paar leise Akkorde, ein wirres Durcheinanderrufen: Ruhe, Ruhe . . . 14 und Totenstille breitete sich über den Saal, als die helle Tenorstimme einsetzte:

»Du holde Kunst, in wie viel grauen Stunden,
Da mich des Lebens wirrer Kreis umstrickt,
Hast du mein Herz zu warmer Lieb entzunden,
Hast mich in beßre Welt entrückt . . .«

Es war das wunderbare Lied »An die Musik«, erst gestern in flüchtiger Schrift auf das Notenpapier geworfen, heute früh mit dem Sänger einstudiert und nun dem Publikum dargeboten, das seinen großen Landsmann so oft bejubelt und gepriesen und doch immer wieder, wenn der Rausch der Begeisterung verflogen war, mit Undank gelohnt hatte.

Das Lied sang die Not und Entbehrung des armen Schulmeistersohnes, der sich tagsüber quälte in der elenden Fron des Brotberufs; es sang die Sehnsucht des leidenden Künstlers nach der Freiheit, den Glauben an ein ewiges Evangelium des Schönen und selig-süßen Trost für alle die Mühseligen und Beladenen des Alltagslebens.

Der brausende Beifall des leicht zu entflammenden Völkchens von Stutzern und Müßiggängern, das da schmausend, lachend und kokettierend beisammensaß und die Schöpfungen des großen Genius mit der gleichen Genußfreude zu sich nahm wie seine Backhendeln und seinen Champagner, ermutigte Sänger und Komponisten zu neuen Zugaben. Ein Lied folgte dem andern, bis endlich Schubert mit den Worten »Jetzt will ich aber mei Ruh haben!« das rote schwitzende Gesicht mit dem karierten Taschentuch trocknete und seinen Sitz am Klavier verließ, um ohne weitere Umstände in einer Gruppe von Bekannten Platz zu nehmen, die ihn jubelnd empfing. Dort trieb er die tollsten Dinge, blies auf einem Taschenkamm die Melodie seines »Erlkönig«, klopfte auf dem Rücken des Kellners den Takt der neuen Sonate, die er am Morgen zu komponieren begonnen hatte.

Grillparzer, der sehr still geworden war, musterte die ausgelassene Zecherrunde am Nebentisch mit einem Anflug von Neid. 15

»So a Musikus, der hats halt gut. Alle verstehn ihn und jedem bringt er was, aber wir armen Dichter schreiben schließlich nur für die paar gebildeten Leut, die es in der Wienerstadt gibt . . .«

»Fangt er schon wieder zu raunzen an?« erwiderte Paumgarten und füllte sein Glas. »Schweig jetzt und freu dich auf deine schöne Reise. Prost, sollst leben, Dichterfranzl!«


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