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VIII.
Die Bianci in Italien, Frankreich u. s. w. zu Ende des 14ten Jahrhunderts.

Fast den nämlichen Umständen wie die ersten Geisselfahrten im 13ten, und im dritten Decenium des 14ten Jahrhunderts, verdankten die Sekten und Züge der sogenannten weißen Büßenden, zu Ende des letztern, in Italien ihr Entstehen. Die politische Lage der Halbinsel, das Sittenverderbniß des römischen Hofes und der christlichen Klerisei, die Gräuel der unaufhörlichen Kriege der Fremden und der Italiener unter sich hatten eine Stimmung der Verzweiflung und Trostlosigkeit herbeigeführt, welche zuletzt nur in dem Gedanken an Sühnung des göttlichen Zornes durch exemplarische Buße sich mildern konnte. Es bildeten sich demnach, man weiß nicht auf welche Weise, und es spucken darüber die wunderlichsten Traditionen und Fabeln, eine Anzahl Prozessionen von Männern und Weibern, die, in Leinewand gekleidet, im Piemontesischen, am Küstengebiete von Genua und in der Provence herumzogen; doch scheinen andere Spuren auf englisch-schottisch-französischen Ursprung hinzudeuten. Kurz es standen neue Schwärme von Asceten auf einmal in Ober-Italien und frischten die Erinnerung an ihre Vorgänger durch Geisselfahrten ähnlicher Art wieder an, ohne daß der Papst Benedikt VIII. oder sein Gegner, Bonifacius X. etwas dagegen vermochten. Christus selbst war in Gestalt eines schönen Jünglings einem frommen Landmann erschienen und hatte denselben zu Ueberbringung einer Botschaft an gleichgesinnte Seelen, zu Errichtung einer Geisselbußanstalt, vermocht. Ebenso war die heil. Jungfrau dabei thätig gewesen und hatte ihn vom Nachlassen des göttlichen Zornes auf solchen Fall hin überzeugt. Achtzehn Männer blos bildeten den ersten Haufen; doch brachten sie bald das ganze Land in Bewegung.

Das Verfahren der Bianchi oder weißen Büßenden, von der Farbe weißleinener Kittel also benannt, war folgendes: Zuerst beichteten Männer und Weiber, genossen das Abendmal, verziehen ihren Feinden, ließen sich gegenseitig verzeihen und erstatteten so viel möglich Unrechterworbenes. Darauf wurden die Bußgewänder angelegt; gewöhnlich nähte man dieselben auch aus Bettüchern zusammen und verhüllte sich mit den Kaputzen derselben oder auch mit andern Tüchern Kopf und Gesicht; nur für die Augen blieben Löcher übrig. Die Weiber unterschieden sich von den Männern durch ein Kreuz von rothem Tuch auf dem Kopfe. In gewissen Reihenfolgen, mit Kruzifix, Fahnen, geweihten Kerzen, Heiligenbildern, Reliquien u. d. gl. schritten die Büßenden, meist baarfuß einher und geisselten sich mit Strängen. Das Stabat mater dolorosa und verschiedene andere lateinische Kirchenlieder waren die am häufigsten abgesungenen Gesänge. Vor Kirchen und Kapellen angelangt schrieen die Bianchi mit lauter Stimme: »Barmherzigkeit! Friede!« darauf beteten sie die Vaterunser und andere Gebete; das Stabat mater zum zweitenmale angestimmt, schloß deren Reihe. Sie hörten auch die Messe und bei den Geheimnissen derselben schrieen sie ebenfalls dreimal »Barmherzigkeit! Friede!« Eine Menge Wunder gingen vor sich. Die Kranken wurden durch bloße Berührung mit Heiligenbildern und Kruzifix geheilt. Die Bianchi fasteten viel, wählten die schlechtesten Lager, besonders auf Kirchhöfen; sie durften die Bußkleider gar nicht ausziehen und in keinen Betten schlafen.

Ihre Bußregel ward so allgemein, daß man die Widerstreitenden als Ketzer betrachtete. Es galt gar kein Unterschied des Standes und Ranges, noch Geschlechtes. Die vornehmsten Damen hielten mit und nur die Nonnen von der strengsten Klausur waren ausgenommen; doch wollte man auch von solchen manche unter dem Zuge gesehen haben.

Von der Dauphine und Alessandria aus, wo die neue Bußfahrt sich zuerst gebildet, ging die Bewegung nach den andern Städten und besonders nach dem Küstengebiet. Ihre Ausbreitung war erstaunlich und noch erstaunlicher ihre Wirkung auf das öffentliche, wie auf das Privatleben. Alle Fragen der Politik verstummten oder wurden nach dem Willen, dem Wunsche und der Stimmung der Bianchi geschlichtet. Die wilde Parteiwuth unter Genuesern und Pisanern legte sich vor ihrem zauberischen Zuruf. Der Herzog Giovanni Galeazzo Visconti von Mailand allein blieb ungerührt und wehrte den Letztern, welche ihn damals als ihren Oberherrn erkannt, alles Ernstes die fromme Theilnahme an den Geisselzügen.

Nichts destoweniger, und trotz aller Gegenmaßregeln, konnte er dem Strom der öffentlichen Meinung in seinen eigenen Staaten nicht widerstehen. Zahlreich sah man dieselben Erscheinungen in den Städten des Herzogthums, Mailand selbst nicht ausgenommen, wie in Piemont und Genua. Ganz Oberitalien wimmelte von Geißlerschwärmen und allenthalben sah man ihre Bußverrichtungen mit mehr oder minder Geräusch vorgenommen. Bisweilen machten die Fürsten oder die Stadt-Behörden, um Meister der Bewegung zu bleiben und um die fanatische Menge nicht wider sich aufzureizen, die Andacht mit. Es war das Klügste was sie thun könnten, und überdies hatte die Sache das Gute an sich, daß die neuen Büßenden keine Unordnungen stifteten, sondern vielmehr die vorhandenen zu regeln und die Bürgerzwiste zu begütigen suchten.

So nur konnte man sich erklären, daß selbst die verständigsten Männer, die nicht leicht einer Phrenesie des Tages huldigten, sich anschlossen und daß der ungeheure Zug immer größeren Anhang gewann; denn auch fast das ganze Mittel- und Unteritalien, ja Rom selbst, die Romagna, die Mark, Neapel und Apulien, schritten zur Begeisterung. Die Römer zeigten sich andächtig wie nie und entwickelten eine Bußfertigkeit, die den Papst in Erstaunen setzte und die er sich bleibend, auch für andere Zeiten und Anlässe, herbeiwünschte.

Eine zahlreiche Reihe von Berichten stimmen im günstigen Urtheil über die Bianchi und deren Wirthschaft völlig überein; gleichwohl fehlt es auch nicht an solchen, welche durch Anführung greller Beispiele ihre Schattenseiten herausheben, und Ausschweifungen, Unordnungen und Betrügereien schildern, welche von ihnen verübt worden. Einer der Anführer, welcher nach Rom gekommen, soll sich für den heiligen Johannes den Täufer ausgegeben und getrachtet haben, den Papst Bonifacius zu Niederlegung seiner Würde zu vermögen. Als es aber herausgekommen, daß der religiöse Bote Christi ein Jude sei und nachher Teufelskünste getrieben habe, sei er auf des Papstes Befehl öffentlich verbrannt worden. Ein anderer Häuptling, welcher in der Lombardei operirte und es darauf anlegte, den Papst von da aus in Rom zu bekriegen und den heil. Stuhl selbst zu besteigen, kam ebenfalls auf den Scheiterhaufen. Ebenso meldet Platina von dem ähnlichen Schicksale eines Individuums, welches ein derartiges Unternehmen wider Rom an der Spitze eines Geißlerschwarmes ausgesonnen hatte. Bei diesem Schwarm, erzählte er weiter, seien viel schöne Reden von Frömmigkeit, Gottesfurcht, Keuschheit und Gerechtigkeit gehalten worden; alles habe jedoch ohne Unterschied des Geschlechts und Alters unter einander geschlafen, und zwar stets auf der Stelle, wo die Nacht sie überfallen, gleich dem Viehe. Der Anführer, von dem die Rede, genoß eines solchen Rufs, daß er selbst die Gelehrtesten, Angesehensten und Mächtigsten für sich gewann und der Erreichung seiner Absicht nahe stand, als, in Folge eines raschen Entschlusses, von Seiten des bedrohten Kirchenhauptes, zu Viterbo ihn das Schicksal ereilte. Er ward durch einen Haufen Soldaten, die man dahin abgesendet, in Mitte der Seinigen entführt und nach Rom geschleppt, wo man ihm alsbald den Prozeß ohne große Förmlichkeiten machte. Man ersieht hieraus, daß auch die Politik und die Abentheurerei sich dessen, was anfänglich Sache des Gemüths, des Glaubens und der Schwärmerei gewesen, listig zu bemächtigen und praktisch zu gebrauchen wußte.

Diese Ansicht wird auch von dem berühmten, gründlichen wahrheitliebenden Dietrich von Niem getheilt, und es erzählt derselbe allerlei seltsame Dinge vom Thun und Treiben der Weißen, von ihrer cynischen Lebensweise und ihrer anarchischen Richtung. Knaben und Mädchen, Jünglinge und Jungfrauen, Männer und Frauen schliefen alle auf einem Lager.


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